Thuja
Dunkle Geheimnisse
Die Thuja-Persönlichkeit ist leicht zu verfehlen, zum Teil, weil sie so selten vorkommt, hauptsächlich aber, weil sie so verschlossen und geheimnisvoll ist. Viele Thuja-Patienten, besonders die Männer, geben während der Fallaufnahme so wenig von sich preis, daß einem nur der Eindruck eines mysteriösen Menschen bleibt. Thuja ist von Natur aus zurückhaltend, distanziert und selbstbezogen (Kent: »Abneigung gegen Gesellschaft«, »meidet Menschen«), und er gestattet es nur wenigen Leuten, wenn überhaupt jemandem, ihn näher kennenzulernen. Der hauptsächliche Grund für seine vorsichtige Haltung ist ein tiefes Schuldgefühl und eine Abneigung gegen sich selbst (Kent: »Angst mit Schuldgefühlen«, »lehnt sich selbst ab«), obwohl ihm selbst dies gewöhnlich nicht so klar ist. Die Schuldgefühle von Thuja haben im allgemeinen eine starke sexuelle Komponente, auch wenn es vielleicht nicht möglich ist, ihren Ursprung aus der Lebensgeschichte des Patienten zu analysieren. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, der Thuja-Persönlichkeit bleibt das Gefühl, als habe sie ein Verbrechen begangen und müsse nun fürchten, überführt zu werden.
Ich habe festgestellt, daß Thuja bei Männern und Frauen gleich häufig vorkommt, sich aber, abhängig vom Geschlecht, etwas unterschiedlich ausdrückt. Bei Frauen ist das Gefühl der sexuellen Schuld gewöhnlich stärker, und oft fühlen sie sich auch schmutzig. Eine Frau konsultierte mich wegen einer entzündlichen Erkrankung im Beckenraum und berichtete über die üblichen Symptome von chronischem Ausfluß und Schmerzen tief im Becken. Das hervorstechende Merkmal ihrer geistig-emotionalen Geschichte war ein Gefühl von Ekel und Abneigung gegen sich selbst, bis zu dem Punkt, daß sie sich ständig schmutzig fühlte und zu stinken glaubte, obwohl es gar nicht so war. Dieses Gefühl des Ekels war ähnlich, wie es bei Frauen kurze Zeit nach einer Vergewaltigung auftritt, aber diese Frau war nicht vergewaltigt worden, und ihre Selbstablehnung hielt schon mehrere Monate an. Sie war ein sehr klassischer Thuja-Fall, was zusätzlich durch verschiedene andere Eigenschaften bestätigt wurde, wie beispielsweise Warzen, die früher aufgetreten waren, Fälle von Gonorrhoe in der Familiengeschichte und Träume vom Fallen. Aber auch ohne diese Bestätigung hätte die Tatsache, daß ihre Krankheit sich im Becken konzentrierte, zusammen mit dem ausgeprägten Gefühl des Ekels vor sich selbst, genügt, um ihr guten Gewissens Thuja zu verordnen. Ich gab ihr drei Tage lang eine tägliche Dosis von Thuja C200, und ihre Beckenschmerzen und der Ausfluß verschlimmerten sich etwa drei Wochen lang, um dann aufzuhören. Später brauchte sie wegen eines leichten Rückfalls eine Dosis Thuja 1M. Ihre Schuldgefühle verschwanden allmählich zugleich mit den anderen Symptomen.
Eine andere junge Frau kam wegen einer Psychotherapie zu mir. Sie war sehr nervös und litt unter heftigen Schuldgefühlen, nachdem sie beruflich in eine Leitungsposition befördert worden war. Ihre Stellung verlangte, daß sie die Leistungen der ihr unterstellten Arbeiter beurteilte, wo nötig konstruktive Kritik äußerte, aber auch Strafen verhängte und Entlassungen aussprach. Wann immer sie jedoch versuchte, jemanden zu kritisieren, löste das bei ihr so viel Angst und Schuldgefühle aus, daß sie ständig voller Furcht und am Rande eines Tränenausbruchs war. Während der Psychotherapie stellte sich heraus, daß sie immer das Gefühl gehabt hatte, sie sei ein schlechter, selbstsüchtiger Mensch, und ihr starkes sexuelles Verlangen sei unanständig. Infolgedessen hatte sie immer versucht, es allen recht zu machen, damit niemand herausfand, daß sie die schreckliche Person war, für die sie sich hielt.
Kurz bevor sie die Therapie begann, war sie eine neue Beziehung mit einem Mann eingegangen, mit dem sie glücklich war, und sie ärgerte sich über die Schuldgefühle, die auftauchten, wenn sie mit ihm zusammen war. Sie hatte für diese Schuldgefühle keine Erklärung und konnte nur sagen, sie verdiene es vielleicht nicht, glücklich zu sein. Im Verlauf der Therapie stellte sich heraus, daß ihre Schuldgefühle sich im wesentlichen um Sex drehten, und schließlich begann sie sich an eine Episode von sexuellem Mißbrauch in der frühen Kindheit zu erinnern. Das blanke Entsetzen, das sie angesichts dieses Traumas empfand, war noch stärker als normalerweise in solchen Fällen, denn sie war konstitutionell nervöser als die meisten Frauen, die als Kinder mißbraucht worden sind (beispielsweise mißbrauchte Natrium-Frauen). Während der Therapie war mir klargeworden, daß sie konstitutionell wahrscheinlich Thuja war, und ich stellte fest, daß eine Dosis Thuja 10M sie ausgezeichnet stabilisierte und befähigte, sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen und damit umzugehen.
Ich hatte zwei Thuja-Patientinnen in der Psychotherapie, und beide sind als kleine Kinder sexuell mißbraucht worden, deshalb fällt es mir schwer, ein klares Bild von Thuja ohne die Auswirkungen dieses Mißbrauchs zu entwickeln. Beide Thuja-Patientinnen reagierten jedoch während der Psychotherapie ähnlich auf ihr Martyrium und unterschieden sich dadurch von den meisten anderen Frauen. Beide waren extrem verschlossen und mußten immer wieder gedrängt werden, zu sagen, woran sie sich erinnerten und was sie fühlten, weil sie sich so darüber schämten. Das Entsetzen, das sie beide angesichts des früheren Traumas ernpfanden, war wesentlich größer als bei den meisten anderen Frauen in der gleichen Situation, und es machte sich auch außerhalb der Therapiesitzungen stärker bemerkbar. Zudem waren beide Frauen offensichtlich medial veranlagt und neigten sowohl während der Therapiesitzungen als auch danach zu Visionen. Sie verstanden schließlich, daß diese im allgemeinen beängstigenden Visionen der Weg waren, auf dem ihr Bewußtsein versuchte, die Erinnerungen an den Mißbrauch in der Kindheit zu verdrängen. Besser ein angstvoller Alptraum als die Wirklichkeit. Ich stellte fest, daß beide über eine ungewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit und Einsicht in ihr eigenes Bewußtsein, aber auch in das Bewußtsein anderer verfügten. Dabei handelte es sich teilweise um eine intuitive oder mediale Fähigkeit, die Gefühle oder Gedanken eines anderen Menschen aufzunehmen, und teilweise war es der Ausdruck eines subtilen Intellekts, der hinter die äußeren Erscheinungen zu blicken vermochte.
Die Selbstablehnung, die während der Therapie zutage trat, war in einem Fall so groß, daß die Frau das Verlangen hatte, sich selbst zu verletzen, und häufig Visionen davon hatte, wie sie ihren Körper in Stücke schnitt oder sich selbst verbrannte. Einige Male schnitt sie sich mit einem Messer in die Handgelenke, aber nur oberflächlich. Sie sagte, sie wolle nicht sterben, sie habe nur das Bedürfnis, sich zu verletzen. Im Verlauf der Therapie erkannte sie, daß sie während ihres Lebens schon häufiger unbewußt versucht hatte, sich zu verletzen, indem sie beispielsweise an Beziehungen festhielt, in denen sie schlecht behandelt wurde, oder indem sie ihre eigenen Bedürfnisse verleugnete. Obwohl sie erkannte, daß ihre Probleme im Leben dadurch verursacht wurden, daß ihre Mutter sie vernachlässigt hatte und sie von einem Freund der Familie sexuell mißbraucht worden war, hatte sie noch lange Zeit das Gefühl, alles sei ihre Schuld, bis sie kurz vor Beendigung der Therapie sich selbst akzeptieren konnte und ihre Wut dahin richtete, wo sie hingehörte.
Die Selbstablehnung vieler Thuja-Frauen gleicht der vieler Natrium-Frauen, aber sie reicht tiefer. Thuja-Frauen haben ein wirklich alptraumhaftes, transpersonales Gefühl von Dunkelheit und Häßlichkeit, während es sich bei Natrium-Frauen oft um ein vages Gefühl der Wertlosigkeit oder Schlechtigkeit handelt. Das hat teilweise damit zu tun, daß Thuja, wie Medorrhinum, ein medial veranlagter Typ ist und deshalb einen direkteren Zugriff auf das eigene Unterbewußtsein hat. Natrium ist manchmal auch medial veranlagt, aber nicht so häufig wie Thuja-Frauen, die anscheinend alle medial sind. Außerdem besteht die Essenz der emotionalen Pathologie von Natrium in dem Gefühl, ungeliebt und verlassen zu sein, während es bei Thuja im wesentlichen um das Gefühl geht, schmutzig und elend zu sein.
Eine meiner Thuja-Patientinnen hatte nur geringfügige emotionale Störungen. Sie war intelligent, sensibel, liebevoll und spirituell orientiert. Ich hielt sie auf den ersten Blick konstitutionell für Thuja, weil sie den beiden emotional weniger gesunden Thuja-Patientinnen, die ich vorher behandelt hatte, so ähnlich sah. Sie hatte sogar dasselbe leichte Lispeln wie meine vorherige Thuja-Patientin. Abgesehen von ihrer äußeren Erscheinung war eine Pilzinfektion der Zehennägel der einzige Hinweis darauf, daß sie Thuja war. Thuja neigt zu solchen Pilzinfektionen, aber erst die Art, wie sie darauf reagierte, ließ mich sicher sein, daß sie Thuja war. Sie fand ihren Zehennagel so häßlich, daß sie ihn mir nicht zeigen wollte. (Das erinnerte mich an eine frühere Thuja-Patientin, die einen Knoten in der Brust hatte, aber nur zögernd bereit war, ihn von mir untersuchen zu lassen, weil sie sich als häßliche Mißgeburt fühlte. Der Grund dafür waren ihre ungewöhnlich langen Brustwarzen.) Sie hatte mich konsultiert, weil sie sich nach einer schwierigen Lebensphase allgemein »ausgelaugt« fühlte. Eine Dosis Thuja 1M ließ sie innerhalb einer Woche wieder ihr altes Selbst werden.
Diese relativ gesunde Thuja-Frau hätte man leicht mit einer Medorrhinum-Frau verwechseln können. Die äußere Erscheinung ist ähnlich, aber Medorrhinum hat nicht so eine gelbliche Haut und neigt auch nicht so stark zu Muttermalen und Sommersprossen im Gesicht und am Körper. Außerdem ist Medorrhinum selten so schlank wie die meisten Thuja-Frauen. Psychologisch gab es einen subtilen Unterschied zwischen dieser Frau und den meisten Medorrhinum-Frauen, die ich kennengelernt habe. Sie wirkte sensibler und zarter als Medorrhinum, die im allgemeinen emotional und körperlich robuster ist als Thuja.
Thuja-Männer sind wie Mauern aus Ziegelsteinen, wenn es darum geht, sich jemandem zu öffnen. Sie sind sogar noch verschlossener als Natrium- und Aurum-Männer, sagen im allgemeinen sehr wenig über das, was in ihnen vorgeht, und halten sich bei der Fallaufnahme fast ausschließlich an die körperlichen Symptome. Deshalb bekommt man sie schwer zu fassen, und ich kann nur vermuten, was hinter den hohen Verteidigungswällen vorgeht. Wenn der Homöopath sie nach ihrer Persönlichkeit fragt, sagen sie »normal« oder etwas in der Art, und auf spezifische Fragen antworten sie nur mit »Ja« oder »Nein« oder »Vielleicht« (Kent: »einsilbig«), Thuja-Männer sind sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, mit anderen Menschen zu sprechen, es sei denn, die Unterhaltung bewegt sich auf einer sicheren, unpersönlichen Ebene, und ich vermute, dahinter steckt die Furcht, andere könnten Verdacht schöpfen, daß sie »eine Leiche im Keller« haben.
Anscheinend reagieren Thuja-Männer ähnlich wie Natrium-Männer auf ihre inneren Ängste. Sie werden äußerlich hart, unnahbar und ausweichend. Auch in dieser Beziehung scheint Thuja wieder defensiver zu sein als Natrium, wahrscheinlich weil seine Schuldgefühle größer sind.
Thuja ist ein Mittel, das Geschlechtskrankheiten stärker als andere abdeckt. Mit diesen sexuell übertragbaren Krankheiten ist im allgemeinen sehr viel Scham und oft auch Täuschung verbunden, und ich glaube, daß sich diese beiden Eigenschaften in der Persönlichkeit von Thuja widerspiegeln. Ein Mann, der mich wegen einer chronischen Prostatitis aufsuchte, gab mir gegenüber zu, er habe nach der Infektion mit einer sexuell übertragenen Urethritis weiterhin Geschlechtsverkehr mit seiner Frau gehabt und ihr nichts gesagt, bis sie sich selbst infiziert hatte, weil er sich zu sehr schämte, ihr zu sagen, er habe mit einer anderen Frau geschlafen. Dieses Szenario dürfte kaum auf Thuja-Männer und ihre Partnerinnen beschränkt sein, aber es erscheint mir als eine natürliche Konsequenz der Geheimniskrämerei, die das Sexualleben von Thuja umgibt. Wo immer es Geheimnisse gibt, können wir damit rechnen, daß etwas »faul« ist, und bei Thuja sitzt die Fäulnis im allgemeinen so tief, daß er sie selbst nicht wahrnimmt und statt dessen nur ein generelles Gefühl der Selbstablehnung bei den Frauen auftritt, während die Männer sich ausweichend verhalten.
Einige Homöopathen haben über eine gewisse Härte bei Thuja-Menschen berichtet. In meiner begrenzten Erfahrung mit Thuja-Männern halte ich diese scheinbare Härte für eine Folge ihrer Verschlossenheit gegenüber anderen Menschen. Ich hatte einmal einen Nachbarn, der an Lungenkrebs litt und schwer krank war. Der Krebs war inoperabel, und auch die Chemotherapie hatte nicht verhindern können, daß er sich weiter ausbreitete. Ich kannte diesen Mann nicht gut, aber meine Frau kannte seine Frau, und nachdem ich von seinem Zustand gehört hatte, besuchte ich ihn und bot an, ihn homöopathisch und mit einer Ernährungsumstellung zu behandeln. Ich sagte ihm, daß solche Maßnahmen manchmal in Fällen helfen, wo die orthodoxe Medizin versagt hat. Er meinte jedoch, er wolle lieber der Chemotherapie eine zweite Chance geben, und seine Frau erzählte mir später, er sei sehr reserviert, wenn es um irgend etwas Unorthodoxes gehe. Sein Verhalten ließ mich an Thuja denken, denn er war ebenso ernst wie zurückhaltend, und seine dunklen Augen zeigten anläßlich meines Besuches weder Interesse noch Dankbarkeit. Ich hatte den Eindruck, mit einem Mann zu sprechen, der gar nicht anwesend war, sondern sich irgendwo versteckte und vom Leben nichts mehr erwartete (Kent: »lehnt das Leben ab«), Äußerlich erinnerte er auch an Thuja, denn sein Teint war sehr dunkel, und er hatte zwei große Muttermale im Gesicht. Außerdem erzählte mir seine Frau, er habe immer unter Asthma gelitten, was für viele Thuja-Menschen zutrifft.
Angst und Paranoia
Mehrere meiner Thuja-Patienten zeigten Anzeichen von leichter Paranoia, was nicht überrascht, wenn man daran denkt, daß Thuja sich oft so fühlt, als habe er ein Verbrechen begangen. Ein Thuja-Patient fühlte sich von der Polizei verfolgt und geriet jedesmal in Panik, wenn er ein Polizeiauto sah, obwohl er nichts verbrochen hatte. Gewöhnlich hatte er irgendeine geringfügige Ordnungswidrigkeit zu verbergen, beispielsweise ein nicht funktionierendes Rücklicht, aber er reagierte so, als werde er wegen Mordes gesucht, hatte Schweißausbrüche und tat alles, damit die Polizei nicht auf ihn aufmerksam wurde (Kent: »Wahnideen – daß er ein Krimineller ist«). Wenn er bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung erwischt wurde, hatte er die Vision, er müsse ins Gefängnis, auch wenn er nur den üblichen Strafzettel bekam. Thuja linderte sein Asthma und schien ihn auch etwas weniger paranoid zu machen, aber sogar unter homöopathischer Behandlung dauert es lange, bis solche tiefverwurzelten und chronischen Reaktionen verschwinden, denn dazu muß erst das unbewußte psychologische Trauma aufgelöst werden.
Eine meiner Thuja-Patientinnen hatte eine andere Art von Paranoia. Sie war sehr medial veranlagt und hatte das Gefühl, in ihrem Haus spuke es. Während der Psychotherapie sah sie oft Gesichter im Raum, die böse aussahen und sie in Angst und Schrecken versetzten (Kent: »Wahnideen – Gesichter, Phantombilder«), und sie erzählte mir, das sei ihr auch schon früher passiert, wenn sie unter großem Streß stand. Sie glaubte, diese Geister seien real, und hatte verschiedene mentale Techniken, um sich vor ihnen zu schützen, aber gleichzeitig verstand sie, daß die Geister sie in Ruhe lassen würden, wenn sie erst einmal ihren persönlichen »Hausputz« abgeschlossen und die Traumata der Vergangenheit vertrieben hätte. Manchmal waren sie und auch die andere Thuja-Patientin in der Psychotherapie in einem Zustand totaler Panik, einer Art von Panik, die charakteristisch für Menschen ist, die am Rande des Wahnsinns stehen. Sie hatten beide Angst vor Menschen, was angesichts ihrer Mißbrauchserfahrungen in der Kindheit nicht überraschend ist, aber diese Angst war größer, als sie normalerweise in solchen Fällen ist.
Eine der Frauen konnte nicht alleine einkaufen gehen, weil sie sich so verwundbar fühlte (Kent: »Furcht vor Fremden«), aber sie konnte entspannt mit Menschen umgehen, die sie kannte. Gleichzeitig hatte sie manchmal während der Therapie das Gefühl, daß keiner ihrer Freunde sie verstand, daß sie niemandem vertrauen konnte und daß einige ihrer »Freunde« aus verschiedenen Gründen etwas gegen sie hatten. In solchen Phasen traute sie nicht einmal mir genug, um mit mir über ihre Gefühle zu sprechen. Durch diese Furcht geriet sie in eine starke Isolation, und das verstärkte die Furcht nur noch mehr. Manchmal zog sie sich ganz in sich selbst zurück, empfand keine Zuneigung für ihren Sohn und ihre Tochter und wollte nichts mit ihnen zu tun haben (Kent: »Abneigung gegen Berührungen«). Dann wieder fühlte sie sich voller Liebe und Frieden und war so »high«, daß sie alles wunderschön fand. Thuja teilt den Hang zur Ekstase mit anderen hellsichtigen Typen wie Medorrhinum und Lachesis, aber für Thuja-Männer habe ich diese Eigenschaft noch nirgendwo beschrieben gefunden.
An der Grenze zum Wahnsinn
Ich habe noch keinen Thuja-Fall erlebt, bei dem eine echte Geisteskrankheit vorgelegen hätte, aber das Potential dafür scheint vorhanden zu sein. Die Arzneimittellehren sind voll von Hinweisen auf die merkwürdigen Wahrnehmungen, für die Thuja anfällig ist, besonders die Wahnidee, ihre Beine seien aus Glas, oder in ihrem Bauch sei ein Fötus. Jahrelang habe ich diese Hinweise nicht besonders ernst genommen, weil ich sie bei meinen Thuja-Patienten nie bestätigt gefunden hatte, aber als ich Thuja-Patienten in der Psychotherapie hatte, begegneten mir diese seltsamen Wahrnehmungen. Besonders als eine Patientin begann, Zugang zu den belastenden Gefühlen zu finden, die sie unterdrückt hatte, spürte sie als erstes merkwürdige körperliche Empfindungen. Sie waren sehr vielfältig, aber am häufigsten spürte sie Bewegungen in ihrem Bauch, manchmal so, als sei ein Whirlpool darin, und manchmal kam es ihr vor wie ein Klumpen, der sich bewegte. Dann wieder hatte sie eine Vision, daß ihr Becken mit Blut gefüllt sei oder daß irgend etwas in ihr verfaule. Solche Erfahrungen wären für viele Thuja-Menschen sicher alarmierend, aber im Rahmen der Psychotherapie konnten wir ihre Symbolik deuten, und dadurch waren sie weit weniger bedrohlich.
Meine Thuja-Patienten waren psychisch mit Sicherheit wesentlich labiler als meine anderen Psychotherapiepatienten. Manchmal »flippten sie aus« und gerieten in einen verträumten, fast komatösen Zustand, wenn sie nicht in der Lage waren, den aufsteigenden Emotionen ins Gesicht zu sehen (Kent: »Benornmenheit«). Dann wieder gerieten sie in Wut, und ihr Zorn war drarnatischer, als ich es bei Natrium-Patienten erlebt habe. Wie Lachesis kann man sich auch Thuja ungefähr wie eine gespannte Saite oder wie einen Vulkan kurz vor dem Ausbruch vorstellen, aber während Lachesis infolge der unterdrückten Spannung entweder nervös wird oder einen Wutanfall bekommt, neigt Thuja mehr zu selbstzerstörerischem Verhalten.
Ich habe einmal eine Videodokumentation über einen Thuja-Patienten gesehen, der unter Aids litt. Im ersten Teil berichtete er, er habe manchmal in einer Nacht mit bis zu 20 Männern Sex gehabt. Er sagte das seltsam emotionslos, als sei ein solches Verhalten absolut üblich, und wahrscheinlich war es das in seinen Kreisen auch. Der zweite Teil, der, einige Monate nachdem er Thuja 10M eingenommen hatte, aufgezeichnet worden war, zeigte einen völlig anderen Menschen. Er hatte nicht mehr den harten, teilnahmslosen Ausdruck und sprach mehr aus dem Herzen über seine Trauer, seine Reue und die Schuldgefühle, die er in bezug auf seine früheren sexuellen Aktivitäten empfand. Seine Aidssymptome hatten sich in der Zwischenzeit offenbar deutlich gebessert. Das Mittel hatte anscheinend nicht nur seine körperliche Gesundheit stabilisiert, sondern ihn auch offener gemacht und ihm einen besseren Zugang zu seinen Gefühlen vermittelt. Nur indem er sich selbst ins Gesicht sieht, kann Thuja lernen, sich zu akzeptieren und dadurch sein selbstzerstörerisches Verhalten aufzugeben.
Ärger und Sexualität
Thuja ist im allgemeinen ein sehr sexbezogener Mensch. Das kann man bei einem Mittel erwarten, das zu den wichtigsten homöopathischen Arzneien für eine Vielzahl von Geschlechtskrankheiten gehört. Medorrhinum ist ein nahe verwandtes Mittel, das viele Ähnlichkeiten sowohl bei den körperlichen Symptomen als auch hinsichtlich der Persönlichkeit aufweist. Beide haben einen starken Sexualtrieb, aber es kommt mir so vor, als könne Medorrhinum seine Libido im allgemeinen besser in eine normale und befriedigende Beziehung integrieren, weil seine Persönlichkeit insgesamt meist besser integriert ist. Im Gegensatz dazu ist Thuja oft so sehr damit beschäftigt, seine Schuldgefühle zu unterdrücken (besonders seine sexuellen Schuldgefühle), daß es ihm schwerfällt, mit irgend jemandem einen intimen Kontakt aufzubauen, so daß er Sexualität stärker von emotionaler Intimität trennt. Bei Thuja-Frauen sind die sexuellen Schuldgefühle oft so stark, daß sie Sexualität kaum genießen können, obwohl sie ein starkes sexuelles Verlangen haben, was sie oft zur Masturbation veranlaßt, wodurch ihre Schuldgefühle dann noch weiter verschlimmert werden.
Ich habe vorher schon einmal darauf hingewiesen, daß eine starke Libido meist Hand in Hand mit einem höheren Wutpotential geht, und ich glaube, Thuja bildet dabei keine Ausnahme. Thuja-Frauen sind oft zu furchtsam, um ihre Wut in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber sie geben häufig an, daß sie zu Hause immer wieder die Beherrschung verlieren, vor allem im Umgang mit den Kindern. Wie bei Sepia- und Medorrhinum-Frauen kann ihre emotionale Labilität zu explosionsartigen Ausbrüchen führen, besonders prämenstruell, wenn die Spannung so stark werden kann, daß die Frau am liebsten schreien würde. Obwohl Thuja in der Öffentlichkeit sehr verschlossen sein kann, ist sie besser als die meisten Natrium-Frauen in der Lage, ihre Emotionen zu Hause auszudrücken. Das schafft zwar manchmal eine instabile häusliche Atmosphäre, aber es hilft zumindest den Thuja-Frauen, ihre geistige Gesundheit zu bewahren. (Kent: »Diese Reizbarkeit äußert sich vor allem gegenüber den Hausgenossen … In Gegenwart Fremder beherrscht sich die Frau noch.«)
Thuja-Männer sind verschlossener als die Frauen, und Reizbarkeit ist oft die hauptsächliche Emotion, die sie zeigen. Es ist sehr anstrengend, sich dauernd vor der Welt und vor seinen eigenen Schuldgefühlen zu verbergen, und durch diese Anstrengung wird der Thuja-Mann reizbar (Kent: »reizbar« in Fettdruck, »Eifersucht, Bösartigkeit, streitsüchtig«, »Ärger durch Widerspruch«).
Zusammenfassung
Die Thuja-Persönlichkeit ist nicht leicht zu identifizieren. Oft weisen die körperlichen und Allgemeinsymptome auf das Mittel hin, das dann bei Thuja-Männern durch ihre extreme Verschlossenheit, Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit bestätigt werden kann, ebenso wie durch ihren starken Sexualtrieb und ein gewisses Maß an Paranoia oder ein manipulatives Verhalten. Die Thuja-Frau ist offener, aber meist immer noch sehr zurückhaltend, und sie neigt stark zu Scharngefühlen, besonders im Hinblick auf die Sexualität. Meist gerät sie leicht in Panik, vor allem wenn sie das Gefühl hat, sie hätte jemanden verärgert, und sie wirkt häufig introvertiert und zurückgezogen. Die Thuja-Frau hat eine gewisse mediale Begabung, neigt zu starken intuitiven Gefühlen und auch zu Visionen. Sie ist oft sehr selbstkritisch und gewissenhaft, um die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe zu vermeiden, für die sie so anfällig ist.
Thuja-Frauen haben meist eine sensible Wahrnehmung und sind fürsorgliche und mitfühlende Menschen, wozu auch gehört, daß sie die Gefühle anderer übernehmen, ähnlich wie Phosphor das tut. Einige sind emotional gesund, abgesehen von vereinzelten Eigenschaften wie Scham über bestimmte körperliche Merkmale. (Ein gewisses Maß an Mißbildung oder ungewöhnlichen Hauterscheinungen ist bei Thuja üblich. Dabei kann es sich um große Muttermale und Warzen handeln, Fehlbildungen der Nägel oder verlängerte Brustwarzen und eine große Knollennase, wie sie eine meiner Patientinnen hatte.) Die gesunde Thuja-Frau ist sensibel, introspektiv und fürsorglich.
Ein relativ zuverlässiges Thuja-Charakteristikum sind wiederholte Träume vom Fallen. Darin spiegelt sich wahrscheinlich symbolisch Thujas Angst, aus dem Stand der Gnade »herauszufallen«, überführt und für ihre Verbrechen bestraft zu werden.
Körperliche Erscheinung
Thuja hat im allgemeinen einen dunklen Teint und eine gelbliche Hautfarbe. Auf der Haut zeigen sich oft Sommersprossen und Muttermale, und Warzen kommen ebenfalls häufig vor. Thuja-Frauen sind sensibler als die Männer, was sich in ihren Gesichtern spiegelt, deren Züge kultivierter und zarter sind. Das Gesicht ist eher eckig als rund, und aus irgendeinem Grund hatten die Thuja-Frauen, die ich behandelt habe, helle Sommersprossen im Gesicht, die bei den Männern fehlten. Die Männer haben einen durchschnittlichen Körperbau, während die Frauen als Ausdruck ihres raschen, lebhaften Verstandes alle sehr zierlich waren.