Aurum metallicum

Grundzug: Abscheu vor dem Leben

Es macht keinen besonderen Spaß, ein Aurum-Mensch zu sein. Zu den schönsten Erfahrungen bei der Behandlung von Aurum-Fällen gehört es, wenn man sieht, daß etwas Leichtigkeit in ihr Leben kommt, nachdem sie das Mittel genommen haben. Wie das Gold, aus dem die Arznei hergestellt wird, ist auch Aurum von einer großen Schwere umgeben, einer Schwere, die in den meisten Fällen seit der frühen Kindheit besteht. Wenn der Patient berichtet, daß er sein Leben lang deprimiert war, denken Sie an Aurum. Für einen Aurum-Menschen gehört ein gewisses Maß an Depression zum Alltag. Hin und wieder verfällt er in tiefe, scheinbar hoffnungslose Depressionen, aber auch zwischen diesen Episoden hat er das Gefühl, als hänge ständig eine dunkle Wolke über ihm.

Das empfindsame Herz

Das Aurum-Kind wächst mit dem Gefühl auf, daß es von seinen Eltern nur geliebt wird, wenn es alles daransetzt, ihnen zu gefallen. Oft waren die Eltern sehr streng, erwarteten von ihrem Kind herausragende Leistungen in der Schule oder in anderen Bereichen, in denen es gut war oder gerne gut gewesen wäre. Solche Eltern belohnen ihre Kinder, wenn sie erfolgreich sind, und strafen sie jedesmal, wenn sie den Erwartungen nicht entsprechen. Das Aurum-Kind reagiert extrem empfindlich auf Kritik (Kent: »überem pfindlich«, »Beschwerden durch Verachtung«), denn Kritik von seiten der Eltern bedeutet, daß es seinen Eltern nicht gefallen hat und daß sie es deshalb nicht lieben. Um dem Schmerz der Zurückweisung zu entgehen, lernt das Kind, stets sein Bestes zu geben. Das führt zu übergroßer Ernsthaftigkeit und Mangel an Spontaneität beim Aurum-Kind, woraus sich häufig Gefühle von Depression und Verzweiflung entwickeln, bevor das Kind überhaupt erwachsen ist. (Genau dieselbe Konstellation findet man in der Kindheit vieler Natrium-muriaticum-Menschen, und die Ergebnisse sind ähnlich, aber weniger schwerwiegend.)

Isolation und Beziehungen

Der emotionale Schmerz, den das Aurum-Kind empfindet, ist das Ergebnis einer stark an Bedingungen geknüpften Elternliebe (manchmal auch gar keiner Liebe). Dieser schwere Schmerz führt dazu, daß das Kind einen Schutzwall um sein Herz errichtet. Nur indem er seine Emotionen verschließt, kann Aurum dem ständigen Schmerz in seinem Inneren entgehen. Früh lernt er, unabhängig zu sein, sich nur auf sich selbst zu verlassen und keine Anzeichen von Schwäche zu zeigen. In Beziehungen ist er unzugänglich und gibt sich selbst niemals ganz, denn das würde die alten, nie verheilten Wunden wieder aufbrechen lassen. Aurum ist einer der einsamsten Konstitutionstypen, bei dem sich große Empfindsamkeit mit Angst vor Zurückweisung verbindet. In Kents Repertorium steht Aurum fettgedruckt unter der Rubrik »Gefühl von Verlassenheit«. Alle Aurum-Kinder wurden von ihren Eltern mehr oder weniger im Stich gelassen, und das Gefühl, völlig allein in der Welt zu sein, können sie während ihres ganzen Lebens nicht wirklich überwinden.

Wenn Aurum eine romantische Beziehung eingeht, wird er das Gefühl haben, daß es vielleicht doch eine Chance für ihn gibt, geliebt zu werden und dadurch seine inneren Wunden zu heilen. Das wird einen inneren Kampf auslösen zwischen dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen, und dem Verlangen nach Liebe. Vielleicht öffnet er sich allmählich seiner Partnerin gegenüber (Aurum-Typen sind in der überwiegenden Mehrheit Männer), und wenn die Beziehung weiterhin gut verläuft, können die alten Mauern der freiwilligen Isolation allmählich zusammenbrechen, und es kann zu einer Art Heilung kommen. In solchen Fällen wird Aurum ein hingebungsvoller Partner, und die Beziehung wird das Wichtigste in seinem Leben sein. Er ist häufig auch ein engagierter Vater und wird sich bemühen, die Fehler zu vermeiden, die seine Eltern gemacht haben. Aber nicht alle Aurum-Beziehungen laufen so gut. Manchmal findet Aurum zwar zu einer befriedigenden Partnerschaft, läßt aber seinen Ärger an den Kindern aus. Er trägt in seinem Inneren gewöhnlich eine Menge Ärger als Ergebnis der »Vernachlässigung«, die er als Kind erlebt hat. Dieser Ärger kann trotz einer liebevollen Beziehung bestehenbleiben und in gelegentlichen Wutanfällen explodieren. (In Kents Repertorium wird Aurum in Fett- oder Kursivdruck unter acht verschiedenen Ärgerrubriken aufgelistet.) Da er ein empfindsamer Mensch ist und sehr viel emotionalen Schmerz ertragen mußte, wird er sich nach solchen Ausbrüchen meist schuldig fühlen (Kent: »Reue«).

Eine andere Gefahr besteht für den verheirateten Aurum-Menschen darin, daß er sich genauso verhält, wie seine Eltern es getan haben. (Sein Vater mag sehr wohl ebenfalls Aurum gewesen sein.) Aurum wächst gewöhnlich mit einer Neigung zur Strebsamkeit und mit dem Bedürfnis auf, sich selbst zu beweisen, und vielleicht kann er es nicht lassen, seine Kinder auf die gleiche Weise anzutreiben, wie er sich selbst antreibt. Für alle Menschen gilt, daß die Sünden der Väter meist auf die Söhne zurückfallen.

Wie Ignatia und Natrium muriaticum steht auch Aurum in Kents Repertorium in Fettdruck unter den Rubriken »Trauer« und »Beschwerden durch Liebeskummer«. Der Grund ist leicht einzusehen. Wenn es Aurum schließlich gelingt, sein Herz zu öffnen und die so heiß ersehnte Liebe mit einem anderen Menschen zu teilen, macht er sich sehr verwundbar. Wenn er seine Partnerin dann verliert, entweder durch eine Scheidung oder durch den Tod, wird sein Schmerz unermeßlich sein. In solchen Zeiten besteht die Gefahr, daß Aurum in einer schweren Depression versinkt. (Das gilt für jeden Verlust eines geliebten Menschen, nicht nur der Partnerin.)

Der Getriebene

Wie schon gesagt, lernt das Aurum-Kind, sein Bestes zu geben, um die Eltern zufriedenzustellen. Daraus entwickelt sich oft ein lebenslanger Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Für viele Aurum-Typen ist berufliches und soziales Prestige sehr wichtig, und deshalb werden sie oft Workaholics. Der typische Aurum-Mann nimmt ein paar Urlaubstage und wird die Hälfte dieser Zeit wahrscheinlich arbeiten. Aurum steht vermutlich an zweiter Stelle unter den ehrgeizigen Konstitutionstypen. Nur Nux vomica hat einen noch universelleren Ehrgeiz, aber es gibt zwischen beiden Typen erhebliche Unterschiede. Anders als Aurum ist Nux im allgemeinen offen, gesellig und optimistisch: Man könnte sagen, daß Nux ein natürlicher Anführer ist, ein geborener Erfolgsmensch voller Selbstvertrauen und ohne jeden Selbstzweifel. Aurum dagegen wird ehrgeizig als Reaktion auf den Druck der Eltern und um den Mangel an Selbstwertgefühl zu kompensieren, den er tief in seinem Herzen spürt. (Natrium muriaticum kann aus denselben Gründen wie Aurum zum Workaholic und Perfektionisten werden, ist aber im allgemeinen nicht so ehrgeizig. Es gibt in der Tat so viele Ähnlichkeiten zwischen Natrium und Aurum, daß man sie gar nicht alle aufzählen kann. Grundsätzlich könnte man sagen, daß Aurum wie Natrium muriaticum ist, nur stärker. Die meisten der Natrium-Charakteristika findet man bei Aurum in einer extremeren Form. So ist beispielsweise der Mangel an Selbstwertgefühl größer, die Tendenz zur Isolation stärker und die Depression tiefer.)

Bei ihrem Kampf um Anerkennung lassen sich viele Aurum-Menschen vom materiellen Reichtum verführen und von dem Einfluß und Respekt, der damit zusammenhängt. Einigen von ihnen genügt es, bloß reich zu sein. Sie werden nicht zu Workaholics, weil ihr Reichtum ihnen das Gefühl von Selbstwert gibt, das sie brauchen. Wenn solch ein Mensch seinen Reichtum verliert, verliert er alle Selbstachtung, und das ist für Aurum ein weiterer wichtiger Auslöser einer Depression. Viele Börsenrnakler, die sich während des Wall-Street-Zusammenbruchs in den dreißiger Jahren aus dem Fenster ihrer Wolkenkratzer-Imperien stürzten, müssen Aurum gewesen sein. Es ist interessant, daß potenziertes Gold die Leiden derjenigen lindern kann, die ihre Zuflucht in großem Reichtum suchen. Manch ein vereinsamter Millionär täte gut daran, ein wenig von seinem harten Gold gegen das homöopathische Äquivalent einzutauschen.

Aurum-Menschen haben gewöhnlich einen stark analytischen Verstand und wirken kalt und distanziert, besonders bei der Arbeit. Sie neigen dazu, mit ihren Angestellten sehr streng zu sein; sie erwarten von ihnen die gleichen hohen Standards, die sie auch von sich selbst erwarten, und gönnen ihnen nur ein Minimum an Freizeit. Bei der Arbeit ist Aurum vollkommen konzentriert und Iäßt sich in keiner Weise von seinen Zielen ablenken. Infolgedessen erreicht er oft sehr schnell eine Führungsposition. Für Kalium carbonicum, Arsenicum und Nux steht die Arbeit ebenfalls sehr stark im Mittelpunkt, und oft sind sie auch streng mit ihren Angestellten, aber alle diese Typen sind bei der Arbeit entspannter und menschlicher als Aurum, der im Vergleich dazu an einen Roboter erinnert, und zwar nicht an den trockenen Automaten, dem Kalium manchmal gleicht, sondern an die unaufhaltsam laufende Maschine, die in Filmen wie Robocop gezeigt wird.

Wut

Aurum ist ein Mensch, der sich stark unter Kontrolle hat. Er gehört unter den Konstitutionstypen zu den am wenigsten spontanen. Das kann man schon an seinem Körper erkennen, der angespannt und hart wie Stahl wirkt, während seine Bewegungen präzise und abgehackt sind wie bei einem Roboter. Aurum sitzt meist stocksteif und aufrecht auf seinem Stuhl. Diese Starre hängt vor allem damit zusarnmen, daß er ein enormes Ausmaß an Ärger und Wut unter Kontrolle halten muß. Aurum verliert selten die Beherrschung, aber wenn das doch geschieht, ist der Ausbruch gewaltig (Kent: »gewalttätig – heftig«). Häufiger jedoch verschließt er den Ärger in seinem Inneren und erhöht damit die schon vorhandene Spannung. Wie Natrium muriaticum kann Aurum Haß und Wut gegenüber denen em pfinden, die ihn gekränkt haben. Auf Kritik reagiert er meist überempfindlich, weil sie ihn an die Demütigungen seiner Kindheit erinnert, als er von seinen Eltern zurückgewiesen wurde. Aus diesem Grund steht Aurum im Repertorium wahrscheinlich unter der Rubrik »duldet keinen Widerspruch«, denn das ist auch eine Form von Kritik oder Zurückweisung.

Einigen wenigen Aurum-Menschen gelingt es, durch Selbstbeobachtung die Familienkonstellation ihrer Kindheit zu erkennen, auf deren Grundlage sich ihr Mangel an Selbstwertgefühl entwickelt hat. In solchen Fällen gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder weisen sie das Wertsystem ihrer Eltern und oft auch das der etablierten Gesellschaft als Ganzes zurück. Dann bleibt gewöhnlich eine tiefe Bitterkeit übrig, und der betreffende Mensch kommt zu dem Schluß, daß die Welt ein Dschungel ist, der mit Gewalt erobert oder mit List und Tücke manipuliert werden muß. Ich erinnere mich an einen solchen Fall, einen jungen Mann, der durch einen Bankrott in eine tiefe Depression geraten war. Früher war er einmal Millionär gewesen. Zu seinem Reichtum war er durch Bankbetrug gekommen, und er erzählte mir, er habe damals keine Gewissensbisse gehabt, weil das System gänzlich korrupt sei und folglich nichts gegen seine kriminelle Ausbeutung spreche. Obwohl ihm klar war, daß dies eine ungesunde Art war, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, quälte ihn doch die Versuchung, zum Verbrechen zurückzukehren, weil er keinen anderen Weg kannte, auf dem er solche enormen Summen von Geld hätte verdienen können, wie er sie brauchte, um sich gut und wertvoll zu fühlen. Als er über die Macht und die Anerkennung sprach, die er als reicher Mann empfunden hatte, leuchteten seine Augen und wurden das einzige Mal während des Gesprächs lebendig. Den Rest der Zeit saß er starr und bewegungslos, das Gesicht wie eine Maske, mit Ausnahme jener kurzen Momente, in denen er zusammenbrach und weinte.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß Aurum eine grundlegende Heilung durch Psychotherapie sucht. Dabei sind Therapieformen, die es dem Klienten erlauben, seine tief unterdrückten Gefühle von Wut und Trauer, die aus der Kindheit stammen, zu spüren und auszudrücken, besonders hilfreich, denn sie ermöglichen ihm, aus seinem Gefängnis der Isolation und Freudlosigkeit auszubrechen und zu echter Selbstliebe zu finden. Ich hatte das Glück, die Therapie eines Aurum-Patienten miterleben zu dürfen. Der Mann war Mitte Dreißig und kämpfte darum, das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen wiederzuerlangen, das er hinter einer Maske von kühler Distanz verborgen hatte. Sein Vater war ein reicher Geschäftsmann, der daran verzweifelte, daß sein Sohn materiell nicht weiterkam. Während der Therapie spürte der Mann einen enormen Ärger auf seinen Vater, von dem er sich ohne Schaden in einer sicheren Umgebung befreien konnte. Danach stellte er fest, daß die Barriere, die er zwischen sich selbst und anderen errichtet hatte, durchlässiger geworden war und einen intimeren Kontakt zuließ. (Das bestätigt in einem gewissen Ausmaß die psychoanalytische Sicht, daß Depressionen eine Folge der Unterdrückung von Wut sind.) Aber auch ohne Psychotherapie kann eine Hochpotenz des Arzneimittels die Last von Aurum wesentlich erleichtern und die Häufigkeit und Stärke der depressiven Phasen erheblich verringern. Eine Kombination aus Homöopathie und tiefgehender Psychotherapie kann die Ursache des Leidens von Aurum beseitigen.

Die Schwärze

Die Depression von Aurum wird von Psychiatern gewöhnlich als »endogen« oder »organisch« diagnostiziert, was bedeutet, daß der Betreffende konstitutionell für schwere Depressionen anfällig ist. Wenn er depressiv ist, fällt Aurum in ein Loch aus Verzweiflung, Abscheu vor sich selbst (Kent: »Selbstvorwürfe«), Selbstanklagen, Isolation und wachsender geistiger Lähmung. Nichts ist schwärzer als die Verzweiflung von Aurum. Sie ist stumm, meist ohne Tränen, und der Patient wird bis zum letzten Moment in der Welt draußen effizient funktionieren, bis er schließlich in hysterische Weinkrämpfe ausbricht und unfähig ist, seine Gedanken zusammenzuhalten, oder Selbstmord begeht. Bei Aurum ist es viel wahrscheinlicher, daß er sich bei einem Selbstmordversuch tatsächlich umbringt, als bei anderen depressiven Typen wie Natrium muriaticum und Ignatia, bei denen es oft ein Hilferuf ist, wenn sie eine Überdosis Tabletten nehmen. Aurum tendiert mehr zu den gewaltsamen Methoden, indem er beispielsweise von einer Brücke springt oder mit dem Auto gegen eine Mauer fährt (Kent: »springt aus dem Fenster«), Es mag sein, daß diese mehr gewaltsamen Methoden etwas mit der Wut zu tun haben, die unter der Depression von Aurum verborgen liegt.

Aurum betrachtet Selbstmord oft als eine verlockende Möglichkeit. Wie der gequälten Hauptfigur in Hermann Hesses Steppenwolf mag Aurum der Tod als tröstlicher Gedanke erscheinen, ein Fluchtweg, den man einschlagen kann, wenn das Leben zu schmerzhaft wird. Selbst wenn keine schwerwiegende Depression vorliegt, kann es sein, daß Aurum gerne an den Tod denkt. Ein Aurum-Patient erzählte mir, daß die Schatten des Todes ihn sein Leben lang begleitet hätten, als eine Art vertrauter Freund, ein permanenter Hintergrund für alle seine Erfahrungen.

Einige Aurum-Menschen huldigen dem Tod, indem sie gefährliche Sportarten wie Bergsteigen oder Autorennen betreiben. Bei einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod fühlt sich Aurum oft besonders lebendig und sorgenfrei (genau wie der wilde Staphisagria-Typ). Wenn er in die Tiefen der Depression hinabsteigt, tauchen die Gedanken an Selbstmord auf. In diesen Zeiten kann es erleichternd wirken, mit seinem Leben zu spielen, und der depressive Aurum wird oft mit einer schnellen Autofahrt versuchen, vor sich selbst zu fliehen.

Während einer depressiven Krise kann es sein, daß Aurum sich zur Arbeit antreibt und sich auch körperlich fordert, um sich dadurch selbst zu stabilisieren. Einer meiner depressiven Aurum-Patienten pflegte morgens in eiskaltem Wasser zu schwimmen, als versuche er, sich durch einen Schock selbst aus der Depression zu befreien. Anschließend folgte ein aufreibendes Fitneßtraining, und da er nur sehr wenig Appetit hatte, wirkte er extrem ausgezehrt und grau. Glücklicherweise befreiten ihn einige Dosen Aurum 10M von seiner Depression, und er beendete seine Askese.

Obwohl Aurum ein Konstitutionsmittel ist, geraten auch andere depressive Patienten, die sonst nicht in Resonanz mit der Wellenlänge von Aurum stehen, in einen entsprechenden Zustand. Viele Patienten, die mit schweren Depressionen in psychiatrischen Anstalten leben, würden von diesem Mittel erheblich profitieren, auch die weiblichen. Im Arzneimittelbild findet man alle typischen Symptome einer endogenen Depression. Dazu gehören der flache emotionale Ausdruck, Zweifel an der Genesung, das Gefühl, ein elendes Geschöpf zu sein (und deshalb Strafe zu verdienen), und eine Verlangsamung des Denkens. Es ist schwierig, die Patienten in diesem Zustand überhaupt anzusprechen. Sie sind völlig in ihre quälenden Gedanken versunken. Wenn man sie etwas fragt, werden sie einige Momente ausdruckslos vor sich hinstarren, bevor sie antworten, und es kann sein, daß sie ihre Gedanken nicht genügend ordnen können, um ihre Gefühle zu beschreiben. Möglicherweise brechen sie auch zusammen und weinen unkontrolliert (Kent: »weinen, unfreiwillig«).

Die Depression von Aurum ist von großer Intensität (Kent: »Qual«), eine Tortur, die zu immer drängenderen Selbstmordgedanken führt. Ein älterer Mann, der viele Jahre depressiv gewesen war, saß in meinem Sprechzimmer und redete über nichts anderes als Selbstmord, machte sich Vorwürfe, weil die bisherigen Versuche nicht geglückt waren, und nannte sich einen Feigling. Seine innere Spannung war ungeheuer, und tatsächlich sagte er mir: »Ich bin nicht deprimiert, sondern es ist diese schreckliche innere Spannung, als ob mein Kopf explodieren würde. Ich denke, Selbstmord ist die einzige Möglichkeit.« Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief mit gequälter Stimme: »Verdammt, so kann es nicht weitergehen. Ich muß damit Schluß machen.« Ich habe nie eine Natrium-Depression von solcher Intensität gesehen. Nach einigen Dosen Aurum metallicum 10M war er ein anderer Mensch. Er fühlte sich zwar immer noch etwas deprimiert, aber er litt nicht mehr so intensiv und hatte auch keine Selbstmordgedanken mehr.

Die Nacht ist für Aurum die schlimmste Zeit. Bei Nacht und auch im Winter spiegelt sich die Dunkelheit, die über allem liegt, intensiv in der Psyche von Aurum. Die Arznei würde wahrscheinlich eine Wohltat für viele Menschen sein, die unter jahreszeitlich bedingten Depressionen leiden.

Da er ein ausgeprägt syphilitischer Typ ist, neigt Aurum stark zu geistiger Besessenheit. Vor allem denkt er immer wieder über frühere Verletzungen nach, besonders über solche, an denen er sich selbst irgendwie die Schuld zuschreibt. Aurum wird sich häufig selbst die Schuld geben, wenn irgend etwas schiefgeht, und deshalb quält er sich immer wieder mit Gedanken des Bedauerns und Gefühlen der Reue. Natrium muriaticum und Causticum tun das auch, aber nicht annähernd in demselben Maß wie Aurum. Niemand ist so besessen von der Vergangenheit wie Aurum.

Aurums Reue zeigt sich manchmal in Form von religiöser Verzweiflung. Manche Aurum-Typen nehmen schon in jungen Jahren Zuflucht zum Gebet, um ihrem eigenen geistigen Gefängnis zu entkommen, und sie können davon ziemlich besessen sein und jeden Tag stundenlang alleine in ihrem Zimmer beten. (Ein anderer Typ, der auch so reagiert, ist Veratrum.) Wenn diese religiösen Aurum-Menschen in eine tiefe Depression fallen, besteht das hauptsächliche Symptom in dem Gefühl, verdammt zu sein. (Kent: »Er glaubt, er tauge zu nichts, er sei ganz schlecht, habe den Tag der Gnade verscherzt und würde der ewigen Seligkeit nicht würdig befunden.«)

Ein anderer Aspekt bei der Aurum-Depression besteht darin, daß der Betroffene von Sorgen besessen ist. Vor allem in den Anfangsstadien der Depression übertreibt er in seiner Vorstellung alle Probleme, die er vielleicht haben mag, wobei ihm die Summe seiner relativ geringfügigen Schwierigkeiten wie ein unüberwindlicher Berg von unvermeidlichen Problemen vorkommt, und er muß sich ständig darüber Sorgen machen. Dies ist einfach eine Übertreibung des üblichen Aurum-Pessimismus, der nur sehr ungerne etwas Positives zur Kenntnis nimmt, wenn es nicht solide und verläßlich ist (wie Gold).

Aurum ist ein ungewöhnlicher Konstitutionstyp, und das Mittel sollte nicht routinemäßig bei schweren Depressionen gegeben werden, deren Behandlung weit häufiger Natrium muriaticum verlangt. In meiner Praxis habe ich auf jeden Aurum-Fall mindestens 200 Natrium-Fälle gesehen. Wenn der Patient vor der Erkrankung konstitutionell Natrium war, sollte dieses Mittel auch bei schweren Depressionen verordnet werden, es sei denn, spezifische Merkmale des Falls, einschließlich der allgemeinen und körperlichen Symptome, weisen auf Aurum hin.

Körperliche Erscheinung

Aurum-Menschen haben meist einen kompakten, muskulösen Körper. Sie wirken ziemlich steif und starr infolge der muskulären Anspannung, die das Ergebnis ihrer krampfhaften Unterdrückung der mächtigen unbewußten Emotionen ist. Ihre Gesichter sind gewöhnlich meist hager und knochig, und der Ausdruck ist im allgemeinen steif, wiederum als Folge der muskulären Anspannung. Die meisten Aurum-Typen, die ich gesehen habe, hatten sehr dunkles oder schwarzes Haar.