Alumina
Alumina ist kein Konstitutionsmittel, dem man häufig begegnet. Es gehört zu jener Gruppe von Mitteln, an die der Homöopath denkt, wenn er einen Patienten hat, dessen Stimmungen stark wechseln und der zur Hysterie neigt. In der Lebensgeschichte solcher Patienten findet man oft instabile Bedingungen während der Kindheit einschließlich einer Familiengeschichte von Geisteskrankheiten und Alkoholismus, die das syphilitische Miasma in der Familie widerspiegelt. Die wenigen Alumina-Patienten, die ich gesehen habe, waren alle Frauen.
Verwirrtheit
Der erste Eindruck, den eine Alumina-Patientin oft vermittelt, ist gewöhnlich der von Verwirrung. Sie klagt darüber, daß sie nicht folgerichtig denken kann, und sie bestätigt dies, indem sie beim Sprechen zögert und darum kämpft, die richtigen Worte zu finden (Kent: »Unfähigkeit, dem Fluß der Gedanken zu folgen«, »macht Fehler beim Schreiben und Sprechen«). Eine Alumina-Patientin sagte mir, ihr Gehirn würde ständig alles »zerhacken«, und deshalb sei es unmöglich für sie, klar zu denken. Sie mußte sich dauernd Listen machen, um sich daran zu erinnern, was sie als nächstes zu tun hatte, weil sie manchmal »geistesabwesend« war, so daß sie völlig die Orientierung verloren hatte, wenn sie wieder »da« war. (Es mag hilfreich sein, sich das Alumina-Gehirn als einen kaputten Computer vorzustellen, der oft kurzfristig abstürzt. Wenn er dann wieder gestartet wird, ist das Programm verlorengegangen, und man muß danach suchen. Dieser Computer neigt auch zum »Zerhacken«, wobei er die Informationen durcheinanderwirbelt und als völligen Unsinn auf dem Bildschirm auftauchen läßt.)
In vielen Fällen besteht die geistige Verwirrung von Alumina seit der Kindheit. Das Alumina-Kind hat Schwierigkeiten beim Lernen, besonders wenn es um Sprechen und Schreiben geht, und Alumina-Patientinnen berichten oft, andere hätten sie als sehr unklar und verträumt wirkendes Kind geschildert. Diese scheinbare Verträumtheit ist in Wirklichkeit jedoch Verwirrung. Das wird offensichlicher, wenn Alumina als junges Mädchen ihr Elternhaus verläßt und versucht, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden. Dann beginnt sie, sich überfordert zu fühlen, kann keine Entscheidungen treffen und nicht für sich selbst sorgen. Daraus entstehen Ängste, die ihr Selbstvertrauen schwächen und dazu führen, daß sie noch weniger in der Lage ist, klar zu denken.
Ein charakteristisches Ergebnis der Verwirrung von Alumina ist ihre Unentschlossenheit. Die meisten Alumina-Patientinnen klagen darüber, und für viele ist es ein größeres Problem. Eine Patientin, eine junge Frau in den Zwanzigern, die mich wegen ihrer Ängstlichkeit und Verwirrung aufsuchte, sagte, sie liege nachts stundenlang wach, um zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden, und sie habe dabei entsetzliche Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Dabei waren die Entscheidungen nicht unbedingt von großer Tragweite. Oft ging es um Kleinigkeiten, bei denen jede der anstehenden Alternativen in Ordnung gewesen wäre, beispielsweise bei der Frage, was sie am nächsten Tag zum Abendessen kochen sollte. Nach einer Dosis Alumina 10M war sie sichtbar besser »beisammen«, und sie lächelte dankbar, als sie berichtete, daß sie nachts nicht mehr wach lag, um sich den Kopf über belanglose Entscheidungen zu zerbrechen.
Die Furcht, eine falsche Entscheidung zu treffen, ist die natürliche Konsequenz der Verwirrung, die Alumina empfindet. Sie hat wirklich Angst, daß ihr Leben im Chaos versinkt, wenn sie nicht klar denken kann, eine Sorge, die keineswegs unbegründet ist. Sehr oft wird sich Alumina stark auf einen Elternteil oder einen Partner verlassen, der für sie die Entscheidungen trifft. Dabei wird ihr bewußt sein, daß dies ein ungesunder Zustand ist, aber sie wird aus eigener Kraft nichts daran ändern können.
Verlust des Selbst
Ein anderer sehr charakteristischer Zug der geistigen Labilität von Alumina ist ein Gefühl von Unwirklichkeit. Das kann auf unterschiedliche Weise beschrieben werden. Einige Patientinnen sagen: »Es ist so, als ob ich nicht hier wäre.« Damit meinen sie nicht, daß sie ihren Verstand verloren hätten, sondern eher, daß sie sich selbst nicht mehr spüren. Es ist ein schwer vorstellbarer Zustand, in dem man zwar die äußere Welt weiter wahrnimmt, aber kein Gefühl mehr für die eigene Person hat. Andere sagen: »Es ist so, als ob nicht ich, sondern jemand anders diese Dinge beobachten würde.« Hahnemann verwendet in seinen Chronischen Krankheiten dieselbe Beschreibung: »Wenn der Patient etwas sagt, ist es ihm, als ob ein anderer dies gesagt hätte.« In diesem Zustand ist der Verstand entrückt und wird aus der Ferne Zeuge von Ereignissen (einschließlich der eigenen Gedanken und Handlungen des Subjekts). Eine meiner Patientinnen, die anschließend gut auf das Mittel reagiert hat, sagte: »Es ist so, als ob ich die Welt aus einem Glashaus betrachten würde.« (Nachdem sie das Mittel genommen hatte, verschwand diese Empfindung allmählich.) Natürlich kann das Gefühl der Entrücktheit die Alumina-Patientin stark verstören, denn es bestätigt ihr, daß irgend etwas mit ihrem Verstand nicht in Ordnung ist.
Alumina kann manchmal so verwirrt sein wie Medorrhinum oder sogar Cannabis indica, die beide ein Gefühl von Unwirklichkeit oder Gespaltensein erleben. Medorrhinum berichtet oft über Phasen, in denen er das Gefühl hat, »abgelöst« oder weit außerhalb dieser Welt zu sein, aber hier handelt es sich um vorübergehende Episoden, während der Egoverlust bei Alumina dauerhaft ist. Ich habe nie gehört, daß Medorrhinum-Patienten sagen, sie hätten das Gefühl, nicht zu existieren oder daß jemand anders zu sprechen scheint, wenn sie sprechen. Alumina- und Medorrhinum-Zustände gleichen sich zwar oberflächlich, sind in Wirklichkeit aber sehr verschieden. Das Gefühl der Entrücktheit bei Medorrhinum gleicht dem Gefühl, das jeder haben kann, der viel meditiert. Das Selbst wird dann als still und ausgedehnt empfunden, getrennt vom denkenden Verstand. Im Gegensatz dazu erlebt Alumina einen vollständigen Verlust des Selbst, der eindeutig pathologisch ist. (Weitere Unterschiede in den Geistessymptomen sind in der Regel deutlich genug, um dem verantwortungsvollen Homöopathen die Entscheidung zwischen Alumina, Medorrhinum und Cannabis indica zu ermöglichen.)
Einige Alumina-Patientinnen beschreiben eine leichtere Form der Verwirrung über die eigene Identität. Wenn man sie bei der Fallaufnahme nach ihrer Persönlichkeit fragt, sagen sie: »Ich habe keine«, und das soll kein Scherz sein. Wenn man sie fragt, was sie damit meinen, sagen sie, daß sie sich nicht als Persönlichkeit empfinden, weil sie vollauf damit beschäftigt sind, sich in ihrer Verwirrung zurechtzufinden und mit ihren Ängsten fertig zu werden.
Eine Alumina-Patientin, eine extrem dünne, nervöse Frau, hatte Partnerschaftsprobleme, die sie auch recht gut analysieren konnte. Sie sagte, sie habe keine Persönlichkeit, weil ihr als Kind die Rollenvorbilder gefehlt hätten, da ihr Vater selten zu Hause und die Mutter sehr reserviert war. Solche Bedingungen fördern zwar bei Kindern nicht gerade das Identitätsgefühl, aber sie bringen bei anderen Konstitutionstypen auch nicht solch einen tiefen Mangel an Selbstgefühl hervor, wie man ihn bei Alumina beobachten kann.
Depression und selbstzerstörerische Impulse
Die Verwirrung und der Mangel an Identitätsgefühl erinnern auch an ein anderes Mittel – Acidum phosphoricum. Im Gegensatz dazu ist Alumina jedoch anfällig für heftige Emotionen, insbesondere Verzweiflung, Ärger und Furcht. Die Stimmung schwankt oft mehrmals am Tag zwischen Verzweiflung und einem Zustand relativer Zufriedenheit (Kent: »wechselnde Stimmung«). Während der depressiven Phasen wird sich Alumina hoffnungslos fühlen und oft über Selbstmord nachdenken. Manche Patientinnen weinen viel, andere gar nicht, sondern ziehen sich nur schweigend zurück wie Natrium und Aurum. Eine meiner Alumina-Patientinnen brach jedesmal in Tränen aus, kaum daß sie im Sprechzimmer saß (Kent: »weinen, unfreiwillig«), und weinte während der gesamten Konsultation, bis ich, nach einem nur wenig erfolgreichen Versuch mit Sepia, ihr Alumina 10M gab. Danach weinte sie überhaupt nicht mehr während der Konsultation und sagte, ihre Stimmungslage sei sehr viel stabiler geworden.
Alumina ist vorzugsweise ein Mittel für Frauen, besonders für solche, bei denen sich die Stimmungsschwankungen vor der Menstruation verstärken. Sowohl die Verzweiflung als auch die Aggression kann während dieser Zeit stärker werden, und damit geht die Furcht der Patientin einher, sich selbst zu verletzen. Alumina hat einen sehr charakteristischen Impuls, sich beim Anblick eines Messers oder eines anderen scharfen Gegenstandes selbst zu töten. Eine Patientin mußte ständig dem Impuls widerstehen, sich selbst mit einer Rasierklinge zu töten (Kent: »Wenn sie scharfe Instrumente oder Blut sieht, schaudert sie davor. Ein Werkzeug, das zum Morden oder Töten gebraucht werden könnte, weckt in ihr entsprechende Impulse; sie hat den Wunsch, sich das Leben zu nehmen«). Wie Kent feststellt, ist Alumina auch dann für solche Impulse anfällig, wenn sie keine Depressionen hat.
Dieselben Stimmungen, die vor der Menstruation von der Alumina-Patientin Besitz ergreifen, können in Form einer Wochenbettdepression nach der Geburt eines Kindes auch länger dauern. In dieser Phase kann der Impuls, das Kind zu töten, stärker sein als die Tendenz zum Selbstmord, und das wird bei der armen Alumina-Mutter sowohl Entsetzen als auch massive Schuldgefühle hervorrufen.
Alumina wird in Kents Repertorium weder unter der Rubrik »Bedürfnis nach Gesellschaft« noch unter der Rubrik »Abneigung gegen Gesellschaft« erwähnt, und ich habe bei meinen Patientinnen weder das eine noch das andere als beständiges Merkmal gefunden. Während der depressiven Phasen wünschen einige Patientinnen Gesellschaft, während andere sie meiden. Eine depressive Alumina-Frau berichtete über ein heftiges Gefühl von starkem Abscheu gegenüber sich selbst und ein Gefühl, daß sie niemanden sehen und mit niemandem sprechen wollte. Dieses Gefühl besserte sich nach der Mittelgabe.
Gewalt
An Alumina sollte der Homöopath immer denken, wenn er über einen Fall stolpert, in dem sich geistige Verwirrung mit gewalttätigen Gedanken und Impulsen paart. Alumina spürt manchmal das Bedürfnis, sich selbst Gewalt anzutun, manchmal anderen. Sie bekommt gelegentlich heftige Wutanfälle, obwohl sie meist ihre Wut nicht gegen andere Personen richtet, sondern eher die Türen zuschlägt, mit irgendwelchen Gegenständen um sich wirft oder laut flucht. Dabei ist Alumina gewöhnlich eine ruhige, freundliche Person, die ihre eigene gewalttätige Seite haßt (Kent: »stilles, ruhiges Wesen«). Häufig muß der Homöopath erst ihr Vertrauen gewinnen, ehe sie zugibt, daß sie solche gewalttätigen Impulse fühlt. Sie wird oft über Gefühle von Ärger und Wut klagen, aber nicht die mörderischen Impulse offenbaren, bevor man sie nicht ausdrücklich danach fragt. (Dasselbe gilt für die sexuellen und gewalttätigen Impulse von Hyoscyamus und Platina.) Wenn ihr klar wird, daß der Homöopath über solche Dinge nicht schockiert ist, wird sie gewöhnlich erleichtert sein, daß sie nun über ihre merkwürdigen Einfälle sprechen kann. Eine Alumina-Patientin sagte, wenn sie ärgerlich oder wütend sei, habe sie das Gefühl, es komme Gift aus ihr heraus. Eine andere spürte zeitweise, daß sie fähig war zu töten, und stellte sich vor, wie sie ihrem Kind oder ihrem Mann den Kopf abschlug. Diese gewalttätigen Gedanken von Alumina, seien sie nun gegen sie oder andere gerichtet, haben fast immer etwas mit Schneiden zu tun. Die Patientinnen sind in der Regel empfindsam und haben genügend Selbstkontrolle, um ihren Impulsen zu widerstehen. Gleichwohl verursachen diese plötzlichen Eingebungen erheblichen Streß, und es gibt wahrscheinlich ein Gewaltpotential, das auch aktiviert werden könnte.
Man kann Alumina leicht mit Sepia verwechseln, die auch anfällig ist für gewalttätige Gedanken gegenüber geliebten Angehörigen und das Gefühl haben kann, daß sie den Verstand verliert. Die geistige und emotionale Pathologie von Alumina ist jedoch ernster als bei Sepia. Sepia steht selten am Rande des Wahnsinns, ist nicht annähernd so selbstmordgefährdet und hat keine Zwangsvorstellungen über Schneiden und Stechen. Außerdem hat Sepia nicht das Gefühl der Unwirklichkeit wie Alumina, und die ausgeglichene Sepia-Persönlichkeit ist im allgemeinen weit besser integriert und gesünder als Alumina.
Ängstlichkeit
Bei der geistigen und emotionalen Labilität von Alumina ist es nicht überraschend, daß sie konstitutionell sehr leicht ängstlich reagiert. Alumina ist ein außergewöhnlich furchtsamer Typ und sehr anfällig für Panikattacken und Phobien. Gewöhnlich fürchtet sie, wahnsinnig zu werden, und im Zusammenhang damit hat sie Angst, ihren selbstmörderischen oder mörderischen Impulsen nachzugeben. Aber auch jede andere Art von Furcht kann auftreten. Dazu gehört im allgemeinen die Furcht vor Menschen, besonders vor Gruppen von Menschen, wie sie bei vielen Leuten auftritt, die sehr ängstlich sind. Bei Alumina führt die Furcht oft zu Schlaflosigkeit. Sie liegt nachts wach und macht sich zwanghaft Sorgen darüber, wie sie den nächsten Tag bewältigen soll, oder sie sorgt sich über irgendeine Qual, die sie in naher Zukunft erwartet. Bei den zerstreuten Gedankengängen von Alumina können selbst kleine Aufgaben wie das Schreiben eines Dankes Ängste auslösen, und jede Veränderung ihrer Umgebung oder ihrer alltäglichen Routine kann Alumina in Panik versetzen. So ist es beispielsweise unwahrscheinlich, daß sie sich auf das Abenteuer eines Urlaubs einläßt, sofern sie nicht einen starken und zuverlässigen Partner hat, und selbst dann sind Urlaubsreisen für sie wahrscheinlich kaum zu bewältigen, weil sie mit zuviel Streß verbunden sind.
Eine meiner Alumina-Patientinnen hatte eine ungeheure Furcht, Fehler zu machen, und wurde deshalb zur Perfektionistin. Nur selten versuchte sie, irgend etwas zu tun, das über ihre notwendigen täglichen Aufgaben hinausging.
Wie andere Typen, die für geistige Störungen anfällig sind (Argentum nitricum, Mercurius, Acidum phosphoricum), neigt Alumina dazu, eine große Eile zu entwickeln, wenn sie ängstlich ist (Kent: »auffallende Hast«). Gewöhnlich handelt es sich dabei um eine ziellose Hetze, in der man nur sehr wenig zustande bringt, weil der Geist so zerstreut ist. Je mehr Alumina in Eile ist, desto weniger kann sie bewältigen, und so beginnt ein Teufelskreis. Er kann darin gipfeln, daß die Patientin mit einem Nervenzusammenbruch in die Psychiatrie eingewiesen wird. Aluminas Eile wird oft begleitet von dem Gefühl, wegzuwollen, entkommen zu wollen, obwohl die Patientin nicht die geringste Idee hat, wo sie hinwill.
Körperliche Erscheinung
Ich habe nur wenige Alumina-Patientinnen gesehen, deshalb gebe ich die Beschreibung ihrer körperlichen Erscheinung nur unter Vorbehalt. Die meisten waren sehr dünn, mit knochigen Gesichtszügen und gerunzelten Augenbrauen. Ihr Haar war manchmal hell und manchmal dunkel, aber sie trugen es fast immer sehr lang. (Insofern erinnert das äußere Bild oft an Sepia, wodurch die Möglichkeit einer Verwechslung der beiden Typen noch größer wird. Anders als bei Sepia ist die Haut jedoch gewöhnlich blaß.)