Phosphorsäure (Acidum phosphoricum)
Phosphorsäure oder Acidum phosphoricum gilt im allgemeinen als ein akutes oder subakutes Mittel zur Behandlung von Kummer und Erschöpfung. Mir sind aber mehrere Patienten begegnet, die offensichtlich während des größten Teils ihres Lebens zu diesem Mittel in Resonanz standen, und da sie sowohl geistig als auch körperlich eine Reihe gemeinsamer Züge aufwiesen, betrachte ich Phosphorsäure nicht nur als Arznei für akute Beschwerden, sondern auch als seltenen, aber klar umrissenen Konstitutionstyp.
Der charakteristischste Zug der Geistessymptome von Acidum phosphoricum ist eine merkwürdige emotionale Neutralität. Das ist ein grundlegenderes und anormaleres Stadium der emotionalen Starre als die Apathie von Sepia, die vorübergehende Erschöpfung von Phosphor und die emotionslose Rationalität von Kalium. Die Empfindung von Neutralität ist so vollständig und so durchgehend, daß der Patient sagt: »Es ist so, als würde ich gar nicht leben.« Er erlebt überhaupt keine Emotionen (außer gelegentlicher Furcht) und fühlt sich wie ein Geist, der durch ein unwirkliches Leben treibt, dessen Anforderungen er fast wie ein Automat erfüllt (Kent: »wie im Traum«), ohne jede Motivation und ohne jede Befriedigung. Obwohl der Intellekt manchmal mitbetroffen sein kann, liegt die Pathologie von Acidum phosphoricum ursprünglich auf der emotionalen Ebene. Er kann lange Zeit sein Leben äußerlich gut bewältigen und doch innerlich nichts fühlen: kein Glück, keine Liebe, keine Trauer – nur eine Leere, wo die Gefühle sein sollten, und er weiß, daß diese Leere ungesund und anormal ist.
Kummer und enttäuschte Liebe
Bei jedem Fall von Acidum phosphoricum oder Phosphorsäure, den ich erlebt habe, ging dem pathologischen Stadium irgendein schwerwiegender Kummer voraus (Kent: »Beschwerden durch Kummer«), Einige Patienten hatten sich bis zur Trennung von ihrem jeweiligen Partner bzw. ihrer Partnerin ganz normal gefühlt, aber von diesem Moment an wurden ihre Emotionen allmählich »stillgelegt«. (Dasselbe kann Natrium muriaticum passieren, aber nicht in diesem extremen Ausmaß.) Die Patienten konnten sich also an Zeiten erinnern, in denen sie Trauer und Freude empfunden hatten, und folglich waren sie sich der Tatsache bewußt, daß etwas mit ihnen nicht stimmte. Daraus entwickelte sich eine Art von Unbehagen, eine gewisse Angst, deren sie sich während der meisten Zeit vage bewußt waren und die ihrem Zustand der »Apathie« ein unheimliches Gefühl hinzufügte.
Kummer kann viele Formen annehmen. Acidum phosphoricum wird in Kents Repertorium unter der Rubrik »Heimweh« aufgeführt. Ein junger Mensch, der konstitutionell Acidum phosphoricum ist, aber noch nie ein ernsthaftes emotionales Trauma erlitten hat, hat vielleicht keine intensiven Gefühle, ist aber emotional ansprechbar. Wenn die junge Frau ihr Elternhaus verläßt, vor allem wenn sie weiter wegzieht, sehnt sie sich zunächst nach ihren Angehörigen und gerät dann allmählich in den Zustand der emotionalen Starre, der für die Pathologie von Acidum phosphoricum so charakteristisch ist. Das ist im Grunde derselbe Prozeß, der sich auch nach der Trennung von einem Partner, nach dem Tod eines geliebten Angehörigen oder jeder Art von Liebesverlust abspielt.
Ich vermute, daß aus dem Kummer nur dann dieser dauerhafte Zustand von emotionaler Starre entsteht, wenn der betroffene Mensch konstitutionell Acidum phosphoricum oder vielleicht Phosphor ist. (Die weitaus meisten langfristigen Kummerreaktionen brauchen Natrium muriaticum.) So entsteht der Eindruck, daß es ein »vortraumatisches« Stadium von Acidum phosphoricum gibt, das nach meiner Erfahrung mit diesen Patienten sehr stark an Phosphor erinnert, aber gedämpfter und sanfter ist. Nach der Behandlung mit der Arznei änderten meine Acidum-phosphoricum-Patienten nicht ihren Konstitutionstyp, aber ihre Emotionen kamen allmählich zurück. Dann wirkten sie wie Phosphor – sensibel, freundlich, beeindruckbar, aber im allgemeinen stiller und mehr introvertiert. (Ich gab diesen Patienten kein Phosphor, weil keine eindeutig pathologischen Symptome mehr zu behandeln waren, und deshalb kann es sein, daß einige doch konstitutionell zu Phosphor wechselten.)
Eine Patientin, eine junge Frau von ungefähr 25 Jahren, klagte über Apathie, emotionale Starre und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie berichtete, sie habe scheinbar »überhaupt keine Persönlichkeit«, Als ich sie fragte, wie lange sie das schon so empfinde, antwortete sie: »Mein ganzes Leben lang.« Sie berichtete mir dann, ihre Mutter sei gestorben, als sie drei Monate alt war, und man habe ihr erzählt, sie sei danach sehr passiv geworden, während sie vorher ein normales, aktives Baby gewesen sei. Es sieht also so aus, als könne der pathologische Zustand von Acidum phosphoricum schon kurz nach der Geburt auftreten und ohne Behandlung unbegrenzt andauern. Wie meine anderen Acidum-phosphoricum-Patienten wurde auch diese Frau allmählich emotional wieder lebendiger, nachdem sie die Arznei in einer 10M-Potenz eingenommen hatte, und ihre geistige Verwirrung verschwand.
Geistige Verwirrung
Kent bemerkt in seiner Arzneimittellehre, die geistige Pathologie von Phosphorsäure oder Acidum phosphoricum gehe der körperlichen gewöhnlich voraus (“In jedem Falle finden wir, daß die geistigen Symptome sich zuerst entwickeln«). Dabei unterscheidet er jedoch nicht zwischen emotionalen und intellektuellen Beeinträchtigungen. Nach meiner Erfahrung tritt die emotionale Pathologie von Acidum phosphoricum zuerst auf, gefolgt von der intellektuellen und schließlich von körperlichen Problemen (keiner meiner Acidum-phosphoricum-Patienten hatte nennenswerte körperliche Probleme). Nach einer Phase der emotionalen Starre beginnt der Patient vielleicht, Dinge zu vergessen (Kent: »Vergeßlichkeit«). Allmählich verschlechtert sich das Gedächtnis, und die Denkvorgänge beginnen einzufrieren, so wie vorher schon die Emotionen. Der Patient wird das so beschreiben, daß sein Verstand mitten in einem Gedankengang leer wird. Bei der Konsultation hört er vielleicht aus demselben Grund mitten in einem Satz auf zu sprechen. Die Gedanken sind einfach weg. In dem Maße wie sich immer mehr leere Stellen im Gehirn ausbreiten, fällt es dem Patienten immer schwerer, folgerichtig zu denken. Wenn er etwas gefragt wird, braucht er lange Zeit um zu antworten (Kent: »antwortet langsam«, »Antworten – denkt lange nach«). Das liegt daran, daß er lange braucht, um die Frage zu verstehen und sie dann zu beantworten. Es handelt sich dabei nicht um einen Intelligenzmangel als solchen, sondern eher um ein zufälliges »Einfrieren« von Denkvorgängen. Am Ende wird das Denken für den Patienten so anstrengend, daß er auf die meisten Fragen nur noch mit »ich weiß nicht« antwortet.
Natürlich hat diese Art von geistiger Pathologie für den Betroffenen erhebliche Konsequenzen. Seine äußere Handlungsfähigkeit wird immer geringer. Zunächst wird er sich gesellschaftlich zurückziehen (was er bis zu einem gewissen Grad infolge seiner emotionalen Starre auch schon vorher getan hat), er wird Einladungen ablehnen und in Gesellschaft nur passiv herumsitzen (Kent: »Hang zum Sitzen«), Gleichzeitig verschlechtern sich die praktischen Leistungen, weil die geistige Verwirrung immer stärker wird. Lesen wird unmöglich (Kent: »Konzentration schwierig«, »unfähig, lange zu denken«), und bald ist der Patient nicht mehr arbeitsfähig. Schließlich wird er wie ein Behinderter entweder von Verwandten oder Freunden unterstützt oder endet in einem Heim, höchstwahrscheinlich mit der Diagnose »präsenile Demenz« oder »passive Schizophrenie«. (Keiner der Patienten, die ich behandelt habe, hatte dieses Stadium erreicht, und einige hatten jahrzehntelang ohne Emotionen, aber mit passablen geistigen Fähigkeiten existiert.)
Der intellektuelle Verfall, den man bei manchen Acidum-phosphoricum-Patienten findet, erinnert an Alumina und Argentum. Bei Argentum ist die intellektuelle Pathologie jedoch stärker ausgeprägt als die emotionale, während für Acidum phosphoricum das Gegenteil gilt. Wie Alumina und Argentum können Acidum-phosphoricum-Patienten jedoch zunehmend ängstlich werden, wenn ihr Denken stärker gestört ist, und diese Ängstlichkeit scheint das einzige Gefühl zu sein, das sie empfinden. Es handelt sich gewöhnlich um realistische Ängste, mit einer Situation nicht fertig zu werden, und Sorgen darüber, wie weit der geistige Abbau noch fortschreiten wird (Kent: »Angst vor der Zukunft«).
Obwohl die meisten Acidum-phosphoricum-Patienten, bei denen eine geistige Pathologie auftritt, darüber klagen, daß sich ihre Denkprozesse verlangsamen oder die Gedanken einfach verschwinden, geraten einige auch in Eile, zumindest zeitweise. Das scheint eine universelle Reaktion auf das Nachlassen der Geisteskräfte zu sein, weil dasselbe Phänomen auch bei den geistigen Zusammenbrüchen von Alumina, Argentum und Medorrhinum autritt. Wenn die Patienten nicht mehr zusammenhängend denken können, geraten sie in Panik, und diese Panik treibt die Leute zur Eile, weil sie versuchen zu kompensieren. Doch die Hast macht alles nur noch schlimmer, ähnlich wie bei Nux, Natrium und Lachesis, wo sie auch oft auftritt und meist dazu führt, daß die Leistungen noch schlechter werden.
Weitere typische Verhaltensweisen
Ein Ergebnis der emotionalen Verarmung von Acidum-phosphoricum-Menschen besteht darin, daß sie sich vielleicht auf andere verlassen, die stellvertretend »für sie fühlen«. Ich habe einmal einen jungen Mann wegen Apathie, Entschlußlosigkeit und Psoriasis behandelt. Seine geistigen und emotionalen Probleme hatten sich nach der Trennung von seiner Freundin entwickelt, obwohl es seine Entscheidung gewesen war, die Beziehung zu beenden. Er war ein sehr offener, leicht zu beeindruckender Jugendlicher, der äußerlich wie Phosphor wirkte, aber er klagte über emotionale Verwirrung in dem Sinne, daß seine Emotionen so unbestimmt waren, daß er nicht wußte, was er fühlte. Er hatte auch einige charakteristische körperliche Symptome, die auf Phosphorsäure hinwiesen, einschließlich einer chronischen, starken, schmerzlosen Diarrhoe, die mit seiner Ängstlichkeit zusammenhing. Er sagte mir, seine Emotionen seien auch schon vor der Trennung von seiner Freundin immer sehr vage und schwer zu bestimmen gewesen, und er habe dazu geneigt, ähnlich zu empfinden wie seine Freundin, aber weniger intensiv (Phosphor würde genauso intensiv empfinden). Er selbst interpretierte das so, daß er die Gefühle seiner Freundin benutzte, um überhaupt irgend etwas zu empfinden. Sein Bericht erinnerte mich an die Geschichten über Geister, die keinen Körper haben, so daß sie nichts fühlen können, und sich deshalb von den Emotionen lebendiger Menschen nähren. Er wirkte in mancher Hinsicht wie Phosphor, einschließlich der Tatsache, daß er ein begabter Künstler war und sehr phantasievolle, visionäre Bilder malte. Gleichwohl reagierten seine Psoriasis wie auch seine geistige Verwirrung auf Acidum phosphoricum, und ich habe nie herausgefunden, ob er in der Schicht darunter Phosphor war.
Kent nennt Acidum phosphoricum in seinem Repertorium unter der Rubrik »Gesten – greift nach etwas«. Ich habe etwas Ähnliches in der Geschichte eines meiner Acidum-phosphoricum-Patienten – des oben erwähntenjungen Künstlers – gefunden. Er erzählte mir, wenn er als Kind die Treppe heruntergegangen sei, habe er immer an einem ganz bestimmten Punkt das Treppengeländer angefaßt. Als er älter wurde, versuchte er, damit aufzuhören, aber er konnte diesem Zwang kaum widerstehen. Acidum phosphoricum ist eine syphilitische Arznei mit einer relativ schwerwiegenden geistigen Pathologie. Genau wie bei anderen Arzneien dieses Typs (Argentum, Alumina, Veratrum, Stramonium) gehören zu den Geistessymptomen auch Zwangshandlungen, zu denen der betreffende Mensch automatisch Zuflucht nimmt, um seine geistige Stabilität zu bewahren. Ein anderes Beispiel von Zwangsverhalten, das ich bei einem Acidum-phosphoricum-Patienten erlebt habe, ist Bulimie oder zwanghafte Eß-Brech-Sucht. Man kann sich leicht vorstellen, daß ein Patient mit einer derartigen emotionalen Leere versucht, den inneren Hohlraum mit Essen zu füllen.
Körperliche Erscheinung
Viele der Acidum-phosphoricum-Patienten, die ich erlebt habe, hatten eine »phosphorische« Erscheinung; sie waren dünn und hatten knochige, offene Gesichtszüge. Es gab jedoch einige Unterschiede, die mir bestätigen, daß es sich um einen anderen Typ als Phosphorus handelt. Erstens hatten viele von ihnen einen dunklen Teint, während Phosphor meist eine helle Haut hat. Zweitens sahen die Augen oft sehr charakteristisch und ungewöhnlich aus. Während Phosphor große, attraktive, gesund wirkende Augen hat, haben Acidum-phosphoricum-Patienten meist vorstehende Augen wie Goldfische. Das ist charakteristisch für eine Überaktivität der Schilddrüse, aber bei diesen Patienten trat es auch unabhängig davon auf.
Es gibt viele körperliche Symptome, die helfen können, Acidum phosphoricum oder Phosphorsäure zu bestätigen. Zwei der häufigsten sind eine starke, schmerzlose Diarrhoe (meist in Verbindung mit Ängsten) und die Taubheit der Extremitäten.