Anacardium

Grundzug: zwei Seelen in der Brust

Dies ist ein seltener Konstitutionstyp, und meine Beobachtungen müssen unter Vorbehalt betrachtet werden, weil sie sich nur auf wenige Patienten gründen. Die wesentlichen Charakterzüge der Anacardium-Persönlichkeit sind jedoch ziemlich dramatisch und schwer zu verfehlen, vorausgesetzt der Patient fühlt sich seinem Homöopathen gegenüber unbefangen genug, um offen darüber zu sprechen. Die alten Arzneimittellehren betonen die gespaltene Natur der Willenskraft von Anacardium (Kent: »steht in beständigem Widerspruch mit sich selbst«, »scheint zwischen einem guten und einem bösen Willen hin und her geworfen zu werden«). Nach meiner Erfahrung besteht diese Spaltung zwischen einer normalen, empfindsamen Persönlichkeit und einer in scharfem Gegensatz dazu stehenden perversen oder »dämonischen« Unterpersönlichkeit, die versucht, von dem betreffenden Individuum Besitz zu ergreifen und es zu obszönen Handlungen zu zwingen (Kent: »Sein böser Wille verleitet ihn zu Gewalttätigkeiten und Ungerechtigkeiten, aber sein guter Wille hält ihn zurück und hemmt ihn«). Das Repertorium führt viele Charakteristika der »bösen« Seite von Anacardium auf (Arglist, Paranoia, Grausamkeit, Neigung zum Fluchen, Gefühllosigkeit, Raserei). Die Anacardium-Patienten, die ich gesehen habe, hatten jedoch genügend Selbstkontrolle, den Versuchungen ihrer dämonischen Seite zu widerstehen, obwohl sie zeitweilig in heftige Kämpfe ihrer beiden Willenskräfte verstrickt waren (was auf verblüffende Weise an klassische Beschreibungen von Besessenheit erinnert).

Der beständigste Zwang, den ich bei Anacardium-Patienten erlebt habe, ist ein Impuls, über andere mit sexuellen Gewaltausdrücken zu fluchen. Einer dieser Patienten war ein hochgebildeter junger Mann, dessen hauptsächliche Interessen im Leben spiritueller Art waren. Er übte regelmäßig Meditation und verstand sehr viel von mystischer Philosophie. Seine spirituelle Seite stand in starkem Gegensatz zu der anderen Seite, die er von Geburt an hatte. Selbst als er noch ein kleines Kind war, wußte seine Familie genau, daß etwas mit ihm nicht stimmte, weil er bis zum Alter von zehn Jahren ein Töpfchen zum Wasserlassen benutzte und sich, als er älter wurde, immer noch zu diesem Zweck auf die Toilette setzte. Außerdem fand er es sexuell besonders erregend, Frauen beim Wasserlassen zu beobachten, und diesem Trieb hat er wahrscheinlich auch öfter nachgegeben. (Darüber wollte er aber nicht sprechen.) Seine Hauptbeschwerde bestand jedoch darin, daß er von dem ständigen Zwang gequält wurde, die Menschen in seiner Umgebung mit sexuell obszönen und gewalttätigen Bemerkungen zu schockieren. Seine Bemühungen, dieser dämonischen Seite zu widerstehen, zeigten sich in einer besonderen Steifheit beim Sprechen, wobei er die Lippen angespannt schürzte, während die Augenbrauen meist zusammengezogen waren.

Dieser Mann war intellektuell gebildet genug, um seine Symptome zu rationalisieren, und er drückte keine Schuldgefühle darüber aus. Ein anderer Anacardium-Patient empfand jedoch tiefe Scham über sein Alter ego. Er war weit weniger intellektuell als der erste und hatte es nicht geschafft, seine zwanghaften Gedanken und Impulse auf dieselbe klinische Weise zu rationalisieren. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er akut von seinen inneren Kämpfen gestreßt und fürchtete, wahnsinnig zu werden. Er berichtete ebenfalls, er habe diesen Zwang zum Obszönen, solange er sich erinnern könne; nach den Aufregungen der Scheidung von seiner Frau sei das Gefühl jedoch noch intensiver geworden. Im Laufe der Behandlung wurde seine perverse Unterpersönlichkeit allmählich schwächer und weniger hartnäckig, aber sie war nicht vollständig verschwunden, als er mich zum letzten Mal aufsuchte.

Göttliche Inspiration

Die geistige Spaltung bei Anacardium wird noch stärker, wenn der Gegensatz nicht nur zwischen einer dämonischen und einer normalen Seite besteht, sondern zwischen einer dämonischen und einer göttlichen Seite. Ein Patient, der erst kürzlich zu mir kam, war ein Beispiel für diese mehr klassische Spaltung zwischen Gut und Böse. Er war ein angenehmer, ziemlich nervöser junger Mann, der mir von einem Berater mit der Bemerkung »emotionale Probleme« überwiesen worden war. Zunächst erzählte er mir, er sei oft deprimiert und denke häufig an Selbstmord. Dann sagte er weiter, er habe Angst vor Frauen, weil sie immer versuchten, ihn zu manipulieren, und deshalb meide er sie. Er sagte, er habe Angst vor Sex, weil er denke, Sex sei etwas Unreines. In diesem Stadium hätte er ungefähr jeder Konstitutionstyp sein können, besonders wenn seine Symptome die Folge von sexuellem Mißbrauch in der Kindheit gewesen wären, der oft zu Depressionen mit Selbstmordneigung, Angst vor dem Geschlecht des Mißbrauchers und einer generellen Abneigung gegen Sex führt. Dann begann mein Patient jedoch, in mehr religiösen Begriffen zu sprechen. Er sagte, er fühle sich »von Gott berufen«, anderen das Licht zu bringen, und er fühle sich Gott sehr nahe. Dieser Widerspruch zwischen der suizidalen Depression und der göttlichen Inspiration ließ mich an einen Konstitutionstyp auf der Grenze zur Geisteskrankheit denken. Mein Patient sagte dann, vor ein paar Jahren habe er einen Nervenzusammenbruch gehabt, bei dem er sich von »Geistern umgeben« gefühlt habe (Kent: »Wahnideen – sieht tote Personen«, »Wahnideen – sieht Teufel«). Nach dieser Erfahrung hatte er das Gefühl, er sei halb göttlich und halb dämonisch (Kent: »Wahnideen, bei denen er sich als doppelt empfindet«). Er fühlte sich von einem der Geister geleitet und geschützt, während die anderen ihn drängten, obszöne Dinge zu tun. Ich überredete ihn behutsam, mehr zu erzählen, und machte ihm deutlich, daß ich verstand, was er sagte, und weder überrascht noch beunruhigt war. Er berichtete, wenn er die Straße entlanggehe, fühle er sich gedrängt, die Passanten wüst zu beschimpfen. Außerdem habe er Phantasien, in denen er auf einer belebten Straße alle Leute mit Benzin übergieße und dann anzünde. Der Gegensatz zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen war für ihn sehr belastend. Er fühlte sich dadurch von ewiger Verdammnis bedroht, und selbst die geringste moralische Entscheidung wurde zu einer Art Kampf auf Leben und Tod, bei dem es darurn ging, welche Seite seines Willens die Oberhand gewinnen würde. Er arbeitete beispielsweise als Taxifahrer, und wenn er einem Fahrgast begegnete, der auf ein anderes Taxi wartete, das sich verspätet hatte, dann zerbrach er sich verzweifelt den Kopf darüber, ob er seinem Kollegen den Fahrgast »stehlen« sollte oder nicht. Er hatte das Gefühl, daß jede seiner Handlungen bedeutsam war, daß er dadurch entweder zum Gerechten oder zum Verdammten wurde und daß alles, was in seinem Leben geschah, vom kleinsten bis zum größten Ereignis, entweder ein Geschenk des Himmels oder eine Strafe der Hölle war.

Ich gab diesem Mann Anacardium 10M, und ein paar Wochen später berichtete er, die obszönen Impulse seien zu flüchtigen Gedanken verblaßt, die er leicht aus seinem Bewußtsein vertreiben könne, und seine Depression habe sich gebessert. Er war immer noch ziemlich besessen von Gut und Böse, wirkte aber deutlich weniger belastet und stärker auf die Realität bezogen. Solche Fälle werden vielleicht niemals vollständig geheilt, aber mit Hilfe des Simillimum können sie in einem relativ gesunden Zustand bleiben und die Exzesse vermeiden, für die sie konstitutionell anfällig sind.

Gewalt

Mir ist noch kein Anacardium-Patient begegnet, der zugegeben hätte, daß er seine gewalttätigen Impulse auslebt, aber das Potential ist eindeutig vorhanden. Kent führt Anacardium in verschiedenen Gewaltrubriken auf, was darauf hinweist, daß der Anacardium-Patient nicht immer seinen gewalttätigen Impulsen widersteht. Mein ehemaliger Taxifahrer sagte, er habe das Bedürfnis, Frauen anzuschreien, und ergänzte, Frauen würden einen Mann respektieren, der sie anbrülle. Diese Feststellung läßt mich annehmen, daß solch ein Mann leicht zu großen Grausamkeiten fähig sein könnte, wenn sein Realitätsverlust nur ein bißchen weiter fortschreitet.

Paranoia

Kent führt Anacardium in verschiedenen paranoiden Rubriken auf einschließlich »Verfolgungswahn«. Der einzige klare Hinweis, den ich darauf gefunden habe, ist die Angst vor Frauen in dem oben erwähnten Fall. Die meisten Konstitutionstypen an der Grenze zur Geisteskrankheit sind anfällig für Paranoia, und Anacardium ist dabei anscheinend keine Ausnahme. Eine leichtere Form von Angst findet man bei Anacardium-Patienten oft in Gestalt von mangelndem Selbstvertrauen (Kent: »Mangel an Selbstvertrauen«), Ein Patient, der auf das Mittel ansprach, sagte anfangs, er sei gewöhnlich zu ängstlich, um in einer Gruppe zu reden, es sei denn, er fühle sich göttlich inspiriert und empfinde dadurch größtes Selbstvertrauen (Kent: »Manie«).

Geistige Verwirrung

Die meisten Anacardium-Patienten klagen über ein gewisses Maß an geistiger Verwirrung. Einige sagen, ihr Gedächtnis sei sehr schlecht (Kent: »Vergeßlichkeit«), während andere berichten, es falle ihnen schwer, sich auf Lesen oder sogar Fernsehen zu konzentrieren. Das ist kaum überraschend, wenn man an den Konflikt denkt, der sich in der Psyche von Anacardium abspielt. Es ist eher eine Art Kommunikationsfehler, der in einem Land unter Bürgerkriegsbedingungen vorkommen kann. Einige meiner Anacardium-Patienten waren geistig recht gesund und hatten keine psychotischen Züge. In diesen Fällen war das führende Geistessymptom ein innerer Kampf mit der eigenen Entscheidungsunfähigkeit oder mit schwierigen Entscheidungen im Leben.

Ein Mann suchte mich vor allem deshalb auf, weil er es so belastend fand, über eine bestimmte Richtungsänderung in seinem Leben entscheiden zu müssen. Er hatte zuvor als Handelsvertreter gearbeitet, war damit jedoch nicht zufrieden gewesen. Als es nun darum ging, über mögliche Alternativen nachzudenken, geriet er in eine merkwürdige, sehr intensive Agonie aus Ängsten und Entscheidungsunfähigkeit. Er bot das Bild eines äußerst belasteten Menschen und sprach über seine Entscheidungsschwierigkeiten, als ob er davon regelrecht gemartert würde. Dieses extreme Leid beim Sprechen über eigene Probleme findet man bei Aurum, aber Aurum hat nicht dasselbe Ausmaß an Entscheidungsunfähigkeit, und mein Patient war an sich nicht depressiv. Er sagte, es sei ihm immer schwergefallen, Entscheidungen zu treffen, und obwohl er verlobt war, quälte ihn der Gedanke, es könne »irgendeine andere dort draußen« geben, die seine wirkliche Seelengefährtin sei. Er war ein angestrengt wirkender Mann mit sehr ernsthaften Interessen, und ich gab ihm anfänglich Natrium muriaticum, was aber nicht wirkte. Dann erzählte er mir, er habe als Kind nachts wach gelegen und darum gebetet, Gott möge ihn vor Besessenheit bewahren. Dadurch wurde mir klar, daß et ein psychotisches Mittel brauchte, und im Hinblick auf seine Entscheidungsunfähigkeit gab ich ihm Anacardium 10M, was seine Sorgen erheblich verringerte und ihn befähigte, einige rationale Entscheidungen für seine Zukunft zu treffen.

Ich hatte noch einen anderen Fall, bei dem die einzige Indikation für Anacardium, außer einigen schwachen körperlichen Symptomen, in dieser extremen Entscheidungsunfähigkeit bestand. Es sieht so aus, als hätten auch die besser integrierten Anacardium-Typen immer noch zwei Seelen in der Brust, was in diesen Fällen jedoch in Gestalt einer schweren Entscheidungsunfähigkeit zutage tritt und weniger als Kampf zwischen Gut und Böse.

Körperliche Erscheinung

Ich habe zu wenige Anacardium-Patienten gesehen, um viel über ihr Aussehen sagen zu können, aber ein gemeinsamer Zug war ein ziemlich angespanntes Gesicht als Spiegel der intensiven Kämpfe, die die Essenz dieses Typs bilden. Die allgemeine Erscheinung drückt gewöhnlich Anstrengung aus, die sich besonders in den Augen zeigt.