Staphisagria
Staphisagria wird oft als Akutmittel eingesetzt, um die körperlichen Folgen von unterdrücktem Ärger zu behandeln. In diesen Fällen spürt der Patient seinen Ärger und seine Wut deutlich, drückt sie jedoch nicht aus. Seine Energie bleibt im Körper gebunden und verursacht entsprechende Symptome. Der Homöopath muß sich darüber klar sein, daß akute Staphisagria-Beschwerden bei jedem Konstitutionstyp auftreten können, daß aber die Wut bei einem Menschen, der konstitutionell Staphisagria ist, viel weniger offensichtlich in Erscheinung tritt als bei akuten Fällen. Staphisagria verdrängt seine Wut oft so gut, daß er nicht nur unfähig ist, sie auszudrücken, sondern sie nicht einmal empfindet. (Das ist ähnlich wie bei vielen Natriums, die ihre Trauer die meiste Zeit vollständig verdrängen.) Das gibt den meisten Staphisagrias eine gewisse Sanftheit oder Nettigkeit, die die Zeitbombe der Wut, die unter der Oberfläche des Bewußtseins tickt, Lügen straft.
Die Quelle von Staphisagrias unterdrückter Wut findet man gewöhnlich in seiner Kindheit. (Nach meiner Erfahrung gibt es drei- bis viermal mehr männliche als weibliche Staphisagrias). Die Eltern waren oft restriktiv und autoritär, und das Kind lernte, daß es sein Mißvergnügen nicht ausdrücken durfte, weil das nur zu noch härteren Strafen führte. Manchmal waren die Eltern zwar nicht besonders streng, aber sie werteten das Kind verbal ab und sagten ihm, es »tauge nichts«. Staphisagria kann auf diese Unterdrückung verschieden reagieren, wobei vier verschiedene Untertypen entstehen, die ich als den zarten, den wilden, den unterdrückten und den sanften Staphisagria bezeichne. Alle haben Probleme, ihre Wut oder ihren Ärger auszudrücken, und infolge ihres schwelenden Ärgers haben viele generelle Schwierigkeiten mit ihrem Selbstausdruck.
Manchmal war auch ein Elternteil des Kindes selbst Staphisagria, und das Kind hat von ihm ohne eine repressive Erziehung die Gewohnheit übernommen, seine Wut zu unterdrücken. Das Kind spürt unbewußt die Angst der Eltern vor Aggression, und diese Angst ist ansteckend.
Jeder der vier Untertypen kann den klassischen schwelenden Ärger von Staphisagria zeigen, aber der zarte Typ muß extrem provoziert werden, um seine unterdrückte Wut zu mobilisieren.
Wenn Staphisagria wütend wird, ist das Bild bei allen Untertypen ähnlich. Das Hauptproblem besteht darin, daß die Wut zwanghaft ist. Sie beherrscht die Persönlichkeit und schafft eine enorme Spannung in Körper und Geist, die sich anfühlen, als ob sie gleich explodieren würden. Die am weitesten verbreitete Ursache für diese Wut ist die Zurückweisung durch einen geliebten Menschen, gewöhnlich den Partner oder die Partnerin, vor allem wenn diese Zurückweisung aggressiv und schmerzhaft war.
Wenn die alte, unbewußte Wut von Staphisagria erst einmal an die Oberfläche gekommen ist, verbindet sie sich mit der aktuellen Situation, und dadurch entsteht ein scheinbar grenzenloser Zorn auf die Person, von der Staphisagria sich zurückgewiesen fühlt. Unabhängig von dem ursprünglichen Anlaß sind jetzt mehrere heftige Entladungen notwendig, um die Wut aufzulösen, die aus einem riesigen Reservoir der Vergangenheit immer wieder neue Nahrung bekommt.
Der gekränkte Staphisagria-Typ lebt, ißt und träumt von Verletzung und Rache. Der Homöopath, der im Sprechzimmer einem solchen Patienten gegenübersitzt, stellt fest, daß er von nichts anderem als seiner Wut spricht. Auf andere Themen kann er sich nicht lange konzentrieren. Vielleicht ist sein Magen vor lauter Anspannung völlig verkrampft, aber ihm ist es wichtiger, seine Wut auszudrücken, wobei er sich ständig wiederholt und völlig unkonstruktiv ist. Ich habe festgestellt, daß Psychotherapie bei solchen Patienten im allgemeinen wenig nützt. Selbst wenn man sie überreden kann, ihren aufgestauten Ärger abzulassen (was einem meist nicht gelingt), bringt das nur eine vorübergehende Erleichterung. Nur ganz selten ist Staphisagria bereit, Woche für Woche wiederzukommen und den eigentlichen Ursachen seines unterdrückten Ärgers so auf den Grund zu gehen, daß ein echter Fortschritt möglich wird. Wenn man nur den akuten Ärger behandelt, ist das so, als steche man in einem vollkommen septischen Körper nur eine einzige Eiterbeule auf. Kaum hat sich ein Wutausbruch entladen, kommt auch schon der nächste. Glücklicherweise gelingt es Staphisagria 10M in der Regel, die Spannung in den meisten Fällen erstaunlich schnell und wirksam aufzulösen. Nach der Einnahme des Mittels kommt es häufig zu einer kurzen Explosion, wenn der Ärger, der bisher unter Kontrolle war, herausbricht (es empfiehlt sich, den Patienten darauf vorzubereiten, damit er sich in einer Umgebung aufualten kann, in der eine solche Explosion ungefährlich ist), gefolgt von einer echten Ruhe, die unbegrenzt dauern kann. Ein großer Teil der unterdrückten Wut kann durch einige Dosen Staphisagria 10M neutralisiert werden, so daß der Patient seine negativen Gefühle loslassen und sein Leben unbehelligt weiterführen kann.
Die folgende Analyse der Staphisagria-Untertypen basiert ausschließlich auf meiner eigenen Erfahrung. Obwohl die meisten Staphisagria-Menschen im wesentlichen einem dieser Untertypen zugeordnet werden können, zeigen sich bei jedem auch Elemente der anderen Untertypen. So kann jemand eine Mischung aus dem zarten und dem wilden Typ sein oder aus dem unterdrückten und dem sanften Typ. Ziemlich oft findet man bei einer einzigen Person sogar alle vier Untertypen bis zu einem gewissen Grad vereinigt.
Der zarte Staphisagria
Diesen Typ findet man am häufigsten bei Frauen, aber er kommt auch ziemlich oft bei Männern vor. Die zarte Staphisagria ist das völlige Gegenteil des populären Staphisagria-Bildes aus den alten Arzneimittellehren, das von einem akuten, kochenden und schwelenden Ärger ausgeht. Die zarte Staphisagria ist der am stärksten unterdrückte Untertyp. Als Kind lernt sie, Schmerzen zu vermeiden, indem sie brav ist, so brav, daß sie alles mit sich machen läßt und unfähig ist, sich gegen irgend etwas zu wehren. Staphisagria ist ein sehr sensibler Typ. Vor allem reagiert sie empfindlich auf elterliche Aggression oder Mißbilligung (Kent: »übersensibel«, »Beschwerden durch Zurückweisung«). Wie Natrium und Aurum fühlt sie sich durch den Zorn und die Kritik der Eltern gedemütigt, aber ihre Reaktion unterscheidet sich etwas von den beiden anderen Typen. Natrium- und Aurum-Kinder ziehen sich in sich selbst zurück, verbergen ihre Gefühle vor den Eltern, aber empfinden innerlich meist noch ein erhebliches Maß an Ärger. Die zarte Staphisagria hat mehr Angst, und ihre Reaktion ist extremer. Sie unterdrückt ihren Ärger so vollständig, daß sie ihn nicht mehr fühlt und an seine Stelle die Furcht davor tritt, das Mißfallen der Eltern oder später irgendeines anderen Menschen zu erregen. Das macht sie mild und friedfertig. Sie ist die mildeste, freundlichste Seele, die man sich vorstellen kann, aber ihre Milde ist nicht gesund wie die von Silicea und Pulsatilla, die durchaus nein sagen können. Bei Staphisagria ist sie das direkte Ergebnis ihrer verzweifelten Versuche, Aggression zu vermeiden, und sie verhindert jeden echten Selbstausdruck.
Die zarte Staphisagria findet man häufig als hingebungsvolle Frau eines etwas dominanten Mannes (oder als hingebungsvollen Mann einer etwas dominanten Frau). Bei ihrem Versuch, Anerkennung zu gewinnen, wird sie oft von einem Partner dominiert, dem sie sich voller Hingabe widmet. Wie Natrium muriaticum wählt sie häufig einen Partner, der irgendeine Schwäche hat, beispielsweise körperlich behindert oder emotional labil ist, und indem sie voll auf seine Bedürfnisse eingeht, versucht sie sich unentbehrlich zu machen. In solchen Situationen läßt sie sich natürlich leicht mißbrauchen, und wenn der Partner ihre Hingabe für allzu selbstverständlich hält oder sie sogar schlecht behandelt, beklagt sie sich nicht, sondern sucht eher die Schuld bei sich. Als sie ihre eigenen Erwartungen aufgab, in der Hoffnung, damit Aggressionen zu vermeiden, verlor sie die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, und auch die Möglichkeit zu erkennen, wann sie mißbraucht wurde. Weil die zarte Staphisagria jede Konfrontation fürchtet, wird sie blind für das unangemessene Verhalten ihres Partners und gibt sich selbst die Schuld, um nicht Verantwortung zu übernehmen und die Situation ändern zu müssen, denn das würde sie in Angst versetzen. So steckt sie den Kopf in den Sand, um nicht sehen zu müssen, wie es wirklich um sie bestellt ist. Diese Weigerung, unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen, ist für alle Staphisagria-Typen charakteristisch und führt zu einem ausweichenden Verhalten, das bei einigen subtil und bei anderen ganz offensichtlich ist.
Prinzipiell versucht die zarte Staphisagria, unangenehme Wahrheiten dadurch zu ignorieren, daß sie sich zufriedengibt, zustimmt oder einfach den Mund hält und sich selbst die Schuld gibt, wenn etwas schiefläuft. Sie ist von ihren Kindheitserfahrungen so geprägt, daß sie unterwürfig ist bis zu dem Punkt, wo sie keine eigene Persönlichkeit mehr hat. Diese Unterwürfigkeit ist im allgemeinen so umfassend, daß sie sich auf jeden Aspekt des Lebens erstreckt. Wenn ein Fremder ihr in einer Warteschlange auf den Fuß tritt, wird sie sich entschuldigen. Wenn ein manipulativer Freund sie zum tausendsten Mal um einen Gefallen bittet, wird sie ja sagen, auch wenn es für sie mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Auf diese Weise ist die zarte Staphisagria eine echte Gefangene ihrer Furcht und verbringt ihr Leben als Sklavin der Bedürfnisse und Erwartungen anderer Menschen.
Wie viele Natrium- und Lycopodium-Typen ist die zarte Staphisagria in der Regel sehr höflich. Selbst wenn sie einen bestimmten Mann nicht leiden kann (weil sie Angst vor ihm hat), wird sie niemals unfreundlich zu ihm sein, sondern lächeln, wenn er einen Witz auf ihre Kosten macht. Sie wirkt ausgesprochen nett, weil sie freundlich und bescheiden ist, und nur wenige ihrer Freunde und Bekannten bemerken, in welchem Ausmaß sie ihre wirklichen Gefühle unterdrückt. Oft funktioniert sie auf der sozialen Ebene relativ gut, weil sie sich um Anpassung bemüht. In der Öffentlichkeit gibt sie sich gerne sanftmütig und weiß das rechte Wort zur rechten Zeit zu sagen. Außerdem ist sie emotional relativ stabil. Sie unterdrückt ihren Ärger so vollständig, daß er kaum je zum Vorschein kommt, und ihre Angst hält sie meist dadurch unter Kontrolle, daß sie in einer sicheren Beziehung bleibt. Im allgemeinen ist sie mild und fröhlich gestimmt, sofern sie sich nicht gerade mitten in einer bedrohlichen Auseinandersetzung mit jemandem befindet oder eine solche befürchtet. Alles in allem wirkt die zarte Staphisagria, die eine relativ stabile Ehe führt, durchaus zufrieden, und das kann sie auf der bewußten Ebene auch durchaus sein.
Wie andere Staphisagrias ist auch die zarte Staphisagria oft romantisch. Auf der Flucht vor ihrer Angst und ihrer Wut stellt sie sich den Mann ihrer Träume vor und bemüht sich, ihren gegenwärtigen Partner so zu verändern, daß er diesem Idealbild näherkommt. Um die Flamme ihrer romantischen Hoffnungen zu nähren, liest sie vielleicht gerne Herz-und-Schmerz-Romane oder die Liebesgeschichten in Frauenmagazinen. Wenn sie einen liebevollen und aufmerksamen Partner findet, wird sie dessen Liebe und Hingabe tausendfach erwidern und sich selbst für die glücklichste Frau der Welt halten. Nach wie vor ist sie unfähig, für sich selbst einzustehen, aber das hat sie ja auch nicht mehr nötig, denn sie bekommt, was sie will, und ihr Partner wird seinen Teil dazu beitragen, sie vor den Grausamkeiten des Lebens zu schützen. Diejenigen, deren Partnerschaft nicht ganz so glücklich ist, werden immer noch alles tun, um es ihrem Mann recht zu machen, aber über ihrem Seelenfrieden hängt eine dunkle Wolke, weil sie sich ständig vor Zurückweisung fürchten.
Da die zarte Staphisagria in vielen Fällen so abhängig von ihrem Partner ist, leidet sie beträchtlich unter einer Trennung von ihm. Ich kannte einmal einen jungen Arzt, der ein zarter Staphisagria-Typ war. Er lebte mit seiner sehr labilen Ignatia-Verlobten zusammen, die ebenfalls Ärztin war. Mein Staphisagria-Freund sprach so sanft, daß man ihn kaum hören konnte, wenn im Hintergrund der Lärm des Straßenverkehrs ertönte oder der Fernseher lief. Er bemühte sich voller Hingabe, jeder Laune seiner ziemlich aufgeregten Verlobten gerecht zu werden, und wenn sie in schlechter Stimmung war, bat er seine Freunde still und entschuldigend, das Haus zu verlassen. Eines Tages nahm ich seinen Fall auf, und er erzählte mir, er sei immer mürrisch und rastlos, wenn seine Verlobte ein paar Tage nicht da sei. Er vermisse sie dann furchtbar und wisse nicht, was er je ohne sie tun solle (Kent: »Beschwerden durch Liebeskummer«). Wie alle zarten Staphisagrias war er eine empfindsame Seele, und wie viele von ihnen hatte er bestimmte spirituelle Praktiken und Überzeugungen übernommen. Diese erlaubten ihm nicht nur, die spirituelle Seite der Existenz zu erkunden, sondern rechtfertigten auch seine bereitwillige, zarte Art. Viele zarte Staphisagrias fühlen sich von Religionen und Philosophien angezogen, die bedingungslose Liebe und Pazifismus predigen und dazu auffordern, die andere Wange hinzuhalten. Es fällt ihnen leicht, solche Ansichten zu vertreten, aber leider ist das meist eine Folge ihrer Angst vor Aggression und weniger ein Zeichen spiritueller Entwicklung. (Letztere hat nichts mit der Flucht vor Aggression zu tun und stärkt eher die Persönlichkeit, statt einfach beruhigend zu wirken.)
Mein Staphisagria-Arztfreund war sehr idealistisch. Er zuckte bei Geschichten über Grausamkeit zusammen und hatte beschlossen, als Missionsarzt in Afrika zu arbeiten. Während seines Medizinstudiums hatte er sich von den anderen Studenten ferngehalten, weil er für ihren vulgären Humor zu zartbesaitet war und sich nicht für ihre eher materialistischen und hedonistischen Unternehmungen interessierte. Seine hauptsächlichen Interessen waren spiritueller Art, und er verbrachte viel Zeit damit, komplizierte esoterische Bücher zu lesen und Violine zu spielen. Stets war er bereit, jemandem zu helfen, der in Not war, oder sich den Standpunkt eines anderen anzuhören, und die meisten Leute hätten ihn wohl für einen perfekten Christen gehalten. Das könnte stimmen, wenn man der Ansicht ist, daß Christi Kinder alle ebenso mild, gehorsam und gütig wie Christus selbst sein sollten, aber es heißt nicht, daß dieser Mann psychisch gesund war. Unter der Staphisagria-Zartheit liegt eine Schicht erheblicher Ängste, und darunter liegt eine Schicht Ärger und Wut. Dieser Ärger kann jedoch nur durch die tiefste Form der Psychotherapie erreicht werden. Der zarte Staphisagria-Typ bewundert vielleicht die Kraft der Entrüstung, mit der Jesus die Geldverleiher aus dem Tempel vertrieb, aber er findet kaum genügend Mut, um es ihm gleichzutun. Angesichts eines aggressiven Widerstands weicht er entweder zurück oder argumentiert freundlich, und wenn er damit nichts ausrichten kann, zittert er wahrscheinlich vor Angst und verspürt nach der Auseinandersetzung körperliche Übelkeit. Nur wenige von uns sind entspannt und voller Selbstvertrauen, wenn sie von einem Fremden bedroht werden, aber der zarte Staphisagria verliert bei einer direkten Aggression stärker als andere die Fassung und wird sich noch Stunden oder Tage danach nervös fühlen (Kent: »furchtsam«).
Ohne das Gefühl der eigenen Stärke empfindet man einen gewissen Mangel an geistiger Klarheit. Nichts beeinträchtigt das Denken stärker als Furcht, und die Angst davor, andere Menschen zu kränken, bringt den zarten Staphisagria oft in Entscheidungsnöte, besonders wenn er versucht, es mehreren Leuten gleichzeitig recht zu machen. Soll er nun auf seine Mutter oder auf seine Freundin hören, und wenn er auf seine Freundin hört, wird seine gekränkte Mutter ihm dann jemals vergeben? Solche ausweglosen Situationen kommen häufig vor, wenn man versucht, andere Menschen wichtiger zu nehmen als sich selbst, was beim zarten Staphisagria in der Regel der Fall ist.
Staphisagria hat oft einen scharfen Verstand, und das gilt auch für den zarten Typ. Vor allem viele Männer sind auf die eine oder andere Art sehr professionell und mit ihrer Arbeit genauso verheiratet wie mit ihren Frauen, aber während andere Workaholics durch Gier motiviert werden oder durch das Bedürfnis, ihren Wert zu beweisen, arbeitet der zarte Staphisagria-Workaholic aus Pflichtgefühl, um seinem Nächsten zu dienen. Ich habe einmal einen Kinderchirurgen wegen chronischer Verdauungsstörungen behandelt. Er war auf seinem Gebiet hervorragend, hatte viele Auszeichnungen gewonnen und war selbstsicher, wenn er über seine Arbeit sprach (ohne eine Spur von Stolz). Bei einem solchen Mann würde man vermuten, daß er Nux vomica oder Arsenicum ist, vielleicht auch ein perfektionistischer Natrium, aber mir wurde bald klar, daß er ein extrem zurückhaltender Mensch war (Kent: »schüchtern«), dem seine kleinen Patienten sehr viel bedeuteten und der es genoß, wie sie zu ihm als liebevoller Vaterfigur aufsahen.
Wie alle zarten Staphisagrias sprach er sehr leise und wirkte selbst dann noch bescheiden, wenn er seine größten beruflichen Leistungen beschrieb (wozu gehörte, daß er eine Abteilung für Kinderchirurgie in einer Stadt eingerichtet hatte, wo es etwas derartiges bisher noch nicht gab). Ich fragte ihn, was er jetzt nach der Pensionierung in seiner Freizeit am liebsten tue, und er sagte, er spiele gerne Kricket und sei in diesem Spiel eine Art Autorität. Leider habe er jedoch sehr wenig Zeit zu spielen, weil er ständig gebeten werde, bei Kricketturnieren im ganzen Land die Aufgabe des Schiedsrichters zu übernehmen. Als ich ihn fragte, warum er denn nicht sage, daß er lieber selbst Kricket spiele, statt Schiedsrichter zu sein, seufzte er und meinte: »Ich konnte nie nein sagen.« Genauso wie als Schiedsrichter bei Kricketspielen hatte er viel Zeit damit verbracht, für verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen und medizinische Komitees zu arbeiten, auch hier wieder, weil man ihm das Gefühl gab, er werde gebraucht, und weil er nicht nein sagen konnte. Natürlich wollte er sich unterbewußt gebraucht fühlen, genauso wie die zarte Staphisagria-Hausfrau für ihren Mann unentbehrlich sein möchte, aber er war auch frustriert, weil er sich nicht entspannen und in seiner Freizeit spielen konnte. Wie die meisten zarten Staphisagrias war er ein sanfter Mann, der selten starke Emotionen zeigte, der die Welt durch die Brille seines kultivierten Verstandes sah und der durchdrungen war von dem emotionalen Bedürfnis nach Harmonie und Anerkennung.
Der wilde Staphisagria
Dieser Typ kommt der traditionellen, wütenden Version von Staphisagria etwas näher, ist aber sogar noch komplexer als seine zarten Brüder und Schwestern. Die überwiegende Mehrheit der wilden Staphisagrias ist männlich (mir ist noch keine Frau dieses Typs begegnet). Anders als der zarte Staphisagria-Mann, der seine Wut vollständig unterdrückt (Kent: »unterdrückter Ärger«), erlebt der wilde Staphisagria die Kraft seiner Wut andeutungsweise durch den Nervenkitzel gefährlicher Abenteuer und wilder sexueller Exzesse. Er ist der rücksichtsloseste Konstitutionstyp, der nur so zum Spaß Risiken eingeht, die selbst den abenteuerlustigsten Nux oder Sulfur in Angst und Schrecken versetzen würden. Im Grunde ist er rücksichtslos, weil seine Vorliebe für wilde und gefährliche Abenteuer eigentlich eine Sucht ist. Wenn sein Leben beginnt, sich sicher und normal anzufühlen, wird er sehr erregt, weil die Spannung seines unterdrückten Ärgers an die Oberfläche kommt und nur durch ein neues wildes Abenteuer abgebaut werden kann. Tuberculinum wird ebenfalls rastlos, wenn er sich lange an einem Ort aufhält, aber er ist eher süchtig nach Abwechslung und Aufregung als nach Gefahr. Es ist Aurum, der eine ähnliche Lust auf lebensgefährliche Aktivitäten hat wie der wilde Staphisagria, aber aus einem etwas anderen Grund. Für Aurum ist es ein Trost, dem Tod nahe zu kommen, weil er sich dann von der Last des Lebens befreit fühlt. Der wilde Staphisagria ist nicht depressiv wie Aurum. Er braucht den Nervenkitzel rücksichtsloser und gefährlicher Unternehmungen, um seine Spannung abzubauen, die eine Folge des unterdrückten Ärgers ist, dessen Ursachen in seiner Kindheit liegen. Wenn er sich nicht auf diese Weise Erleichterung verschaffen kann, rastet er leicht aus, vor allem wenn er sich beleidigt fühlt.
Ich habe einmal in Kalifornien einen jungen Mann behandelt, dessen Leidenschaft das Bergsteigen war. Er klagte über ein ziemlich unspezifisches Unwohlsein im Magen nach dem Essen und über eine sehr wechselhafte Verdauung, und er bat auch um Hilfe bei der Drogenentwöhnung. Er wirkte sehr erregt und begeistert, wenn er über seine Bergtouren berichtete, und brüstete sich mit Situationen, in denen das Sicherheitsseil gerissen war, und mit dem Nervenkitzel, den er bei der Bewältigung tödlicher Felsüberhänge empfand. Als ich versuchte, mehr über seine Persönlichkeit herauszufinden, wurde er immer unbestimmter, sein Gesicht bekam einen verwirrten Ausdruck, und er begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Anscheinend wußte er nicht viel über seine inneren Gefühle, beschrieb sie als eine vage, verwirrende Mischung von Emotionen, abgesehen von den Momenten höchster Erregung, die er beim Bergsteigen, unter Drogen und beim Sex empfand. Sein ganzes Leben schien eine Flucht vor den verwirrenden Emotionen zu sein, die er immer empfand, wenn er nicht durch Erregung abgelenkt war.
Er hatte die verschiedensten Jobs überall im Land gehabt, aber abgesehen von seiner Tätigkeit als Bergführer hatte es ihm am besten gefallen, sich um ein paar Hektar Wildnis in den Bergen an der kalifornischen Küste zu kümmern. Er liebte die damit verbundene Freiheit und die Tatsache, daß er niemandem Rechenschaft schuldig war und nur dann mit Menschen zu tun hatte, wenn er selbst es wollte. Wie der unterdrückte Staphisagria muß auch der wilde Typ sich frei bewegen und reisen können, um den Einschränkungen des normalen Alltags zu entgehen. Er ist gewöhnlich ein Nomade, der nach Seelenfrieden sucht, aber ihn selten findet, weil er ihn in der äußeren Welt sucht, und wenn er in sich hineinblickt, dann findet er lediglich ein heftiges Chaos, das ihm angst macht. Nur indem er (im Rahmen einer tiefgehenden Psychotherapie) seine Kindheit noch einmal erlebt, die er ausgeblendet hat, und den unterdrückten Ärger auflöst, kann der wilde Staphisagria-Mann innerlich zur Ruhe kommen. Aber statt dessen geht er nach außen und verliert sich buchstäblich im Nervenkitzel gefährlicher Abenteuer.
Der wilde Staphisagria achtet wenig auf die Gefahren, die er bei seinen Unternehmungen eingeht. Der Bergsteiger verlor seine Freundin bei einer Expedition, als ihr Sicherheitsseil riß und sie in den Tod stürzte, aber auch das verringerte seine Risikobereitschaft nicht. Während er bei mir in Behandlung war, führte er eine Stegreifexpedition in die Berge an der Küste. Das Wetter war schlecht, die Sicht eingeschränkt, und man hatte ihn gewarnt, es sei besser, auf die Tour zu verzichten, aber er zuckte nur mit den Schultern und redete vier unerfahrenen Bergsteigern ein, alles sei in bester Ordnung. Es zeigte sich, daß die Gruppe von Anfang an Schwierigkeiten hatte, und ein Neuling wurde leicht verletzt. Glücklicherweise kam niemand ums Leben. Mein Patient sprach später über diese Ereignisse, als befinde er sich in einem Traum. Er versuchte, die mit der Tour verbundenen Gefahren und das Trauma, das seine Schutzbefohlenen erlebt hatten, zu beschönigen, und er schien wirklich nicht zu wissen, was falsch gelaufen war. Er wollte die Scharte unbedingt durch eine andere Expedition »unter sichereren Bedingungen« auswetzen. Der wilde Staphisagria gerät leicht in Verwirrung, wobei er verträumt und geistesabwesend wirkt (Kent: »Konzentrationsschwierigkeiten«, »Gefühl der Leere«). Seine Emotionen sind bedeutend aktiver als die des zarten Typs, und er kann sie nur teilweise unterdrücken. Das Ergebnis ist eine Art Pattsituation, in der sein Verstand aussetzt, um sich nicht mit der Verwirrung und der darunterliegenden Wut beschäftigen zu müssen. Nach einer Dosis Staphisagria 10M wurde der wilde Bergsteiger deutlich stabiler, weniger erregbar, und er entwickelte sogar das Bedürfnis, sich mit seiner neuen Freundin irgendwo niederzulassen.
Auf seiner Suche nach Ablenkung gerät der wilde Staphisagria oft an bewußtseinsverändernde Drogen. Die beiden Patienten, die ich am besten kannte, nahmen reichlich Drogen, und einer von ihnen nahm nicht nur selbst eine Mischung von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln, sondern verdiente auch mit ihrem Verkauf etwas Geld. Wie die meisten Staphisagrias war er eine empfindsame Seele, und er rechtfertigte seinen Drogenhandel, indem er die bewußtseinserweiternden (und deshalb befreienden) Effekte seiner Ware hervorhob. Der zynische, harte Drogendealer, der weiß, daß er seine Kunden mit dem Stoff umbringt, und sich nicht darum schert, ist wahrscheinlich kein wilder Staphisagria. Es ist der gewohnheitsmäßige Drogenbenutzer, der gelegentlich auch ein bißchen Hasch verkauft, der am wahrscheinlichsten Staphisagria ist.
Ich habe viele dieser Menschen behandelt, und alle wirkten irgendwie »verloren« und neigten dazu, einfache Lösungen für ihre Probleme zu suchen, beispielsweise einfach abzuhauen und irgendwo anders ein neues Abenteuer zu erleben, statt mit den Drogen aufzuhören, zur Einsicht zu kommen und eine regelmäßige Arbeit zu finden. (Ein hervorragendes Porträt des wilden Staphisagria findet man im Film Gefährliche Brandung in der Gestalt von Bodhi, gespielt von Patrick Swayze. Bodhi ist ein fanatischer Surfer, dem keine Welle hoch genug ist, der auf Partys Kokain schnupft, eine Frau nach der anderen verführt und dann wieder fallenläßt und die Philosophie der sechziger Jahre mit Bewußtseinserweiterung, Freiheit und Zen vertritt. Sein Charisma zieht eine Gruppe von Gefolgsleuten an, die bereit sind, sich auf Risiken einzulassen und seine absolute Verantwortungslosigkeit als persönliche Freiheit zu interpretieren. Bodhi vereint seinen Idealismus mit seiner Abenteuerlust, indem er eine Serie von Banküberfällen inszeniert. Dabei geht es ihm weniger um das Geld, als vielmehr darum, die Obrigkeit in Verlegenheit zu bringen, und vor allem um den Nervenkitzel, der damit verbunden ist. Wenn etwas schiefläuft, ist er entschlossen genug, über Leichen zu gehen, und verrückt genug, nur wenig Reue zu empfinden, aber er hat im allgemeinen ein weiches Herz und ist immer bereit, einem Freund zu helfen. Wie alle wilden Staphisagrias ist er voller Widersprüche, zu denen nicht zuletzt seine Sensibilität und seine Verantwortungslosigkeit gehören.)
Der wilde Staphisagria wird gelegentlich auf seinen Idealismus verweisen, um seine gefährlichen Aktivitäten zu rechtfertigen. Ich habe einmal einen Mann von Ende Dreißig wegen seiner Verdauungsstörungen behandelt. Er wirkte jungenhaft und hatte eine sanfte, freundliche Art. Er war sehr gesellig und sprach auf eine entspannte und humorvolle Art, die auf andere angenehm wirkte. Als ich ihn kennenlernte, hatte er gerade ein Pause zwischen zwei Aufträgen als Pressefotograf. Er hatte ein abwechslungsreiches, unruhiges Leben hinter sich und schien nicht besonders daran interessiert zu sein, sich irgendwo niederzulassen. Er erzählte mir, er fühle sich am lebendigsten, wenn er Fotos für Kriegsberichte mache und mittendrin sei, so daß ihm die Kugeln und Raketen um die Ohren flogen. Als ich ihn das nächste Mal sah, war er in Tränen aufgelöst. Es war wieder ein Konflikt irgendwo ausgebrochen, aber er hatte nicht das Geld, dorthin zu fliegen und seine Fotos zu machen. Ich fragte ihn, warum er sich darüber so aufrege, und er sagte, er wolle einfach da sein, wo etwas los sei. Außerdem wolle er den Bauern helfen, die mitten in diesem Konflikt lebten und am meisten zu leiden hätten. Er schien tatsächlich vor lauter Frust und Bedauern außer sich zu sein, aber ich hatte den Eindruck, daß es ihm in Wirklichkeit nicht so sehr darum ging, den Bedürftigen zu helfen, sondern mehr um das aufregende Gefühl, da zu sein, wo etwas passierte. Ich gab ihm Staphisagria 10M, und seine Verdauung besserte sich sehr schnell, aber ich habe ihn danach nicht mehr oft gesehen, so daß ich nicht weiß, ob er fähig oder bereit war, lange genug auf Kaffee und Drogen zu verzichten, damit die Arznei seine Persönlichkeit besser ins Gleichgewicht bringen konnte.
Staphisagria ist ein sehr sexueller Typ (Kent: »lasziv«, »Ausschweifung«, »Nymphomanie«), und das gilt besonders für den wilden Typen. Es gibt eine sehr enge Verbindung zwischen Lust und Aggression (das männliche Hormon Testosteron fördert nachweislich beides), und die schlecht unterdrückte Wut des wilden Staphisagria nährt oft seine Libido. Wenn man davon ausgeht, daß jemand Aufregungen mag und danach süchtig ist, ist es nicht schwer zu verstehen, warum der wilde Staphisagria eine Tendenz zur Promiskuität hat und sich impulsiv und leidenschaftlich in sexuelle Affären verstrickt. Als ich in Kalifornien war, hatte ich in zwei Gemeinschaften Gelegenheit, meine Patienten näher zu beobachten, als das gewöhnlich der Fall ist. Eines Abends legte sich beim Tanz ein Mann mit mir an, von dem ich wußte, daß er ein wilder Staphisagria war. Er war betrunken und hatte schon einigen Frauen eindeutige Angebote gemacht. Als sie ihn zurückwiesen, forderte er mich zum Ringkampf auf und begann, halb im Scherz und halb im Ernst mit mir zu ringen. Ich konnte fühlen, daß er enorme Kraft in seinen Armen hatte, und spürte auch eine gewisse sexuelle Erregung, die er durch den Kampf mit mir loswerden wollte. Wenn der wilde Staphisagria alkoholisiert ist, neigt er zu aggressivem Verhalten und sexuellen Handlungen. Dasselbe kann man von Natrium-Männern und einigen anderen Typen sagen, aber der wilde Staphisagria ist dann besonders sexbesessen, wogegen er in nüchternem Zustand vergleichsweise sanft und freundlich ist.
Staphisagria reagiert im allgemeinen sehr empfindlich darauf, wenn man ihn abweist, und der wilde Staphisagria ist besonders sensibel im Hinblick auf eine sexuelle Zurückweisung. Ich war einmal Zeuge, wie ein zurückgewiesener wilder Staphisagria in Zorn geriet. Ich kannte ihn als rücksichtslosen, aber milden und freundlichen Mann. Eines Tages sah ich, wie er auf eine junge Frau losging, die von seinen Annäherungsversuchen nichts wissen wollte, und sie in wilder Empörung so wüst beschimpfte, daß sie in Tränen ausbrach. Ich habe seitdem ähnliche Reaktionen bei anderen wilden Staphisagrias beobachtet und bin zu der Ansicht gelangt, daß sie für diesen Typ charakteristisch sind (Kent: »Eifersucht«, »Ärger mit Entrüstung«).
Wie andere Staphisagrias neigt auch der wilde Typ zu lebhaften und intensiven sexuellen Phantasien (Kent: »sexuelle Gedanken überfallen ihn«). Diese Phantasien treiben ihn häufig zur Masturbation (Kent: »Masturbation, Disposition zur«, fettgedruckt) oder zur Beteiligung an wilden Sexspielen, auch homosexueller Art. Andererseits ist der wilde Staphisagria auch romantisch. Gewöhnlich sehnt er sich nach der Intimität und Zärtlichkeit einer engen Beziehung, aber sein ausweichendes Verhalten und seine Wildheit stehen ihm dabei meist im Weg. Einer meiner Staphisagria-Patienten hatte Tränen in den Augen, als er mir von einer unglücklichen Liebesaffäre berichtete. Ein anderer machte Schluß mit den Drogen, nachdem er die Arznei genommen hatte, wollte geregelter leben und eine stabile Beziehung aufbauen. In fast jedem Fall wird der Homöopath feststellen, daß Staphisagria trotz seiner Wut und Verantwortungslosigkeit ein sensibler, romantischer Typ ist. Der wilde Staphisagria wirkt oft wie ein hilfloses Kind, verwirrt, aufgeregt, impulsiv und sehr traurig, wenn er innehält und seine Einsamkeit spürt. Sein Charme und sein Draufgängertum ziehen viele lebenslustige Frauen an und auch andere, die ihn bemuttern wollen, aber er ist gewöhnlich nicht in der Lage, eine Beziehung lange aufrechtzuerhalten, weil er den schmerzlichen Wahrheiten seiner Kindheit nicht ins Gesicht sehen kann. Deshalb vergißt er seine Probleme lieber, indem er »high« wird und sich davonmacht, wenn die Situation unangenehm wird.
Anders als der unterdrückte Staphisagria ist der wilde Typ emotional meist offen. In der Regel ist er bereit, frei über seine Gefühle zu sprechen, und tut das, besonders wenn er traurig ist, auf eine Weise, die Sympathie weckt, denn sie offenbart seine Verletzlichkeit. Wenn er gekränkt ist, weint er leicht, ohne sich deshalb zu schämen, und im allgemeinen zeigt er Menschen, die er liebt, seine Zuneigung. Sein ausweichendes Verhalten hat weniger damit zu tun, daß er nicht bereit wäre, über seine Gefühle zu sprechen, sondern eher damit, daß er diese Gefühle selbst nicht ertragen kann. Oft ist er über seine verschiedenen Emotionen sehr verwirrt und versucht, ihnen durch Abenteuer und Aufregungen zu entfliehen. Wenn er versucht, seine Gefühle zu beschreiben, hält er oft verlegen inne und sagt dann: »Es ist irgendwie schwer zu erklären.«
Wie der Pressefotograf, der sich mit den Bauern im Kriegsgebiet identifizierte, hat der wilde Staphisagria gewöhnlich eine Abneigung gegen die Obrigkeit. In den meisten Fällen sind strenge Eltern, die ihn als Kind bestraft haben, die hauptsächliche Ursache seiner Wut, deshalb ist es ganz natürlich, wenn er es gerne sieht, daß Autoritätsfiguren in Unannehmlichkeiten geraten, denn auf diese Weise rebelliert er indirekt gegen seine Eltern. Bodhi, der wilde Staphisagria-Typ in dem Film Gefährliche Brandung, überfiel vor allem deshalb Banken, weil er das »Establishment« damit in Verlegenheit bringen wollte, weniger des Geldes wegen. Seine Bande trng Masken, die an frühere Präsidenten der Vereinigten Staaten erinnerten, um damit klarzumachen, daß sie für den Staat nichts als Verachtung übrig hatten. Diese Verachtung ist ein Grund, warum der wilde Staphisagria ein Wanderleben führt. Er weiß, daß er, wenn er zu lange an einem Ort oder an einem Arbeitsplatz bleibt, mit der Obrigkeit in Konflikt geraten wird. Es ist für ihn leichter, woanders hinzugehen und damit Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten zu vermeiden. Am Ende können manche wilden Staphisagrias zu »ausgebrannten« und argwöhnischen Einzelgängern werden, die, ohne es selbst zu merken, jede Liebe und Stabilität, die ihnen angeboten wurde, abgelehnt haben. Dann gleichen sie schließlich dem unterdrückten Staphisagria.
Der unterdrückte Staphisagria
Während der zarte Staphisagria-Typ Iernt, Konflikte durch friedfertiges Verhalten zu vermeiden, erreicht der unterdrückte Typ dasselbe Ziel, indem er sozialen Kontakten aus dem Weg geht. Er ist sehr introvertiert und zurückgezogen und weicht Menschen aus, um Vergangenes nicht wiederholen zu müssen, eine Kindheit, in der er sich hilflos und wertlos fühlte, mit einem Ärger, den er nicht ausdrücken konnte, weil seine Angst vor Strafe zu groß war. Wenn man mit dem unterdrückten Staphisagria spricht, bekommt man das Gefühl, man spräche mit dem Schatten eines Mannes. Er drückt nur wenig Lebendigkeit aus und zeigt kaum Interesse oder Emotionen. Seine Stimme ist trocken und monoton, und er spricht so wenig wie möglich. Seine Augen sind verschlossen und argwöhnisch und lassen nur schwer einen Blickkontakt zu. Er wirkt im Gespräch angespannt und rastlos, und sein Gesicht ist nie entspannt. Man hat den Eindruck, ein Lächeln würde sein Gesicht in Stücke zerbrechen lassen, so sehr zwingt er seine Muskeln zu einem schützenden neutralen Ausdruck. Diese starre Neutralität oder Ausdruckslosigkeit erinnert an Kalium und Aurum, aber es gibt deutliche Unterschiede zwischen diesen dreien. Aurum neigt viel stärker zu Depressionen und Selbstmordgedanken als der unterdrückte Staphisagria und verhält sich in der Regel nach außen hin anmaßend. Kalium benimmt sich im Beruf auch oft anmaßend, aber er ist nichts weniger als ein Nomade und zeigt im allgemeinen ein weitaus aktiveres Sozialverhalten als der unterdrückte Staphisagria.
Der unterdrückte Staphisagria hat in seiner Kindheit gelernt, Strafen dadurch zu vermeiden, daß er sich duckte und unsichtbar machte. Dieses Verhalten setzt er als Erwachsener fort, und dadurch schränkt er seine emotionale Befriedigung stark ein. Als Kind hatte er wahrscheinlich nur wenige Freunde und war außergewöhnlich ernst, wenn er sich mit jemandem einließ. Er kann auf seinen Selbstschutz nicht verzichten, weil er Angst hat, wieder verletzt zu werden. Anders als Natrium, der gewöhnlich ein guter Schauspieler wird, entwickelt der unterdrückte Staphisagria nie ein selbstsicheres Sozialverhalten. Er sieht fast immer düster aus, und wenn er ein Lächeln versucht, wirkt es meist nervös und angespannt. Vermutlich ist der unterdrückte Staphisagria zu ängstlich und zu verbittert, um ein gefälliges Sozialverhalten wie Natrium zu entwickeln. Natrium geht es vor allem darum, emotionalen Schmerz zu vermeiden. Ich habe den Eindruck, daß es Staphisagria (besonders dem unterdrückten Staphisagria) wie Arsenicum mehr darum geht, zu überleben und körperliche Mißhandlungen zu vermeiden. Die meisten unterdrückten Staphisagrias, die ich behandelt habe, wurden als Kinder von ihren Vätern oft geschlagen. Infolgedessen fürchteten sie fast jeden menschlichen Kontakt und wurden bei dem Versuch, sich unsichtbar zu machen, gewöhnlich Nomaden.
Die beliebte Westerngestalt des ziellos herumziehenden Cowboys ist eine ausgezeichnete Karikatur des unterdrückten Staphisagria. Er wird meist als Einzelgänger dargestellt, der vor einem schrecklichen Geheimnis davonläuft, das oft damit zu tun hat, daß er gewaltsam und gezielt fast zu Tode gequält wurde. Er verbirgt seine Augen unter dem Schatten seiner Hutkrempe, spricht nur das Notwendigste, um Whisky zu bestellen oder ein Zimmer zu mieten, und zieht weiter, bevor sich irgend jemand für ihn interessiert. Im typischen Fall rächt sich unser Antiheld auf dem Höhepunkt des Films an seinen Unterdrückern und erlangt auf diese Weise wieder ein gewisses Maß an Seelenfrieden. Der unterdrückte Staphisagria muß seinen Ärger spüren und ausdrücken, aber nur wenn ihm die innere Konfrontation mit seinem ursprünglichen Unterdrücker (gewöhnlich ist das sein Vater) gelingt und er seine Wut auf den eigentlichen Verursacher richtet, kann er sich sowohl von der Wut als auch von der Furcht befreien, die ihn so verkrüppeln. Seine Wut auf andere zu projizieren mag ihm zwar mehr Selbstvertrauen geben, aber dadurch werden Wut und Angst nicht dauerhaft beseitigt.
Es überrascht nicht, daß der unterdrückte Staphisagria meist sehr mißtrauisch ist (Kent: »argwöhnisch«). Er zögert, dem Homöopathen allzuviel von sich selbst preiszugeben, und er neigt dazu, seine Furcht zu verschleiern, indem er sehr rational spricht. Staphisagria ist ein relativ mentaler oder intellektueller Typ, und viele unterdrückte Staphisagrias ziehen es vor, in ihrer Freizeit zu lesen oder zu lernen, als sich mit anderen Leuten zu treffen. Einige entwickeln auch besondere praktische Fertigkeiten, weil sie viel herumziehen und vor menschlichen Kontakten in die Wildnis flüchten, wo sie lernen, für sich selbst zu sorgen. Natrium muriaticum kann sich auf ähnliche Weise in die Isolation zurückziehen und argwöhnisch jeden menschlichen Kontakt meiden, so daß die Unterscheidung zwischen Natrium und einem unterdrückten Staphisagria manchmal sehr schwierig ist. Im allgemeinen kann Natrium sich besser ausdrücken, und seine Gefühle sind klarer, selbst wenn er selten darüber spricht. Alle Staphisagrias wirken meist verwirrt, wenn sie über ihre Gefühle sprechen, und sie leiden mehr unter intellektueller Beeinträchtigung als unter Depressionen. Innerlich führen sie ständig einen unterbewußten Kampf zwischen Furcht und Wut, und die geistige Anstrengung, die nötig ist, um sich dessen nicht bewußt zu werden, hinterläßt manchmal eine geistige Leere oder Verwirrung, besonders wenn die aktuellen Umstände alte Gefühle wieder aufleben lassen. Die Gesichtszüge können helfen, zwischen Natrium und dem unterdrückten Staphisagria zu unterscheiden. Bei den meisten Staphisagrias findet man feine Fältchen, die von den Augenwinkeln ausgehen, während das Gesicht ansonsten oft faltenfrei ist und dadurch jungenhaft wirkt, noch stärker als bei Lycopodium.
Wenn man einem unterdrückten Staphisagria eine Hochpotenz der Arznei gibt, kann die Wirkung enorm sein. Ich habe erlebt, wie solche Leute innerhalb etwa einer Woche immer weniger zurückgezogen und gehetzt wirken und statt dessen zunehmend offen und spontan werden. Man kann tatsächlich sehen, wie die Lebenskraft in diese grauen, müden Gesichter zurückkehrt, wie sie weicher werden und vielleicht zum ersten Mal nach Jahrzehnten natürlich lächeln. Im Verlauf dieses Prozesses können sie etwas von der unterdrückten Wut ihrer Kindheit erleben, was sich durch impulsive Wutanfälle oder in der sicheren Umgebung einer therapeutischen Sitzung äußert (ich rate meinen wütenden Patienten, in solchen Situationen auf Kissen einzuschlagen und zu schreien), oder sie können diese Gefühle durch anstrengende körperliche Arbeit auflösen. Vielleicht gelingt es ihnen nie, ihre Wut und Angst vollständig wahrzunehmen und aufzulösen, aber mit Hilfe der Arznei können sie genügend Mut und Selbstbewußtsein aufbauen, um ihr Leben emotional und beruflich weiterzuentwickeln, Wurzeln zu schlagen und auf die alte Taktik des Weglaufens zu verzichten.
Der sanfte Staphisagria
Der sanfte Staphisagria hat viele Charakteristika der anderen drei Typen, aber darüber hinaus noch einige spezifische Züge. Im Hinblick auf die soziale Anpassung ist er der erfolgreichste aller Staphisagrias, und gerade diese »Normalität« macht es schwer, ihn zu erkennen. Außerdem ist keiner der vier Typen sehr verbreitet, deshalb kann der unerfahrene Homöopath sie nicht so leicht durch eigene Erfahrung kennenlernen, sondern ist auf genaue Beschreibungen angewiesen.
Der sanfte Staphisagria erinnert sehr stark an den zarten Typ, kann aber entschiedener sein, wenn es die Situation erfordert. Wie der zarte Typ wirkt er auf eine feminine Weise weich und freundlich, ohne verweiblicht zu sein, was ihn vielen Menschen sympathisch macht (die Weichheit des englischen Komödianten und Sängers Des O'Connor ist ein gutes Beispiel für diese Art). Im Vergleich dazu wirkt Lycopodium, der leicht mit dem sanften Staphisagria verwechselt wird, neutraler oder maskuliner und emotionsloser. Während der zarte Typ Unannehmlichkeiten vermeidet, indem er nachgibt, ist der sanfte Staphisagria subtiler und schlüpfriger. Er ist im allgemeinen sehr diplomatisch und versteht es, Situationen zu vermeiden, in denen er sich unbehaglich fühlen könnte, ganz gleich ob es dabei um die Aggressionen anderer Leute geht oder um ein intimes Gespräch über seine eigenen Gefühle. Er hat in der Regel einen scharfen Intellekt, den er nicht nur anwendet, um die Welt zu erkunden, sondern auch, um die Aufmerksamkeit von seinen eigenen Gefühlen abzulenken. Dabei benutzt er geschickt seinen Humor, um sein persönliches Leben zu beschönigen und das Gespräch aufzulockern. Anders als der zarte Staphisagria wird der sanfte Typ nicht ständig nachgeben, sondern gelegentlich auch ärgerlich werden. Dabei drückt er seinen Ärger selten direkt aus, sondern wird zunehmend wortkarg und versucht, den Gegenstand seines Ärgers so weit wie möglich zu meiden.
Wie der Name schon andeutet, benimmt sich der sanfte Staphisagria friedlich und locker, was den Eindruck erweckt, er sei emotional entspannt und gesund. Er ist sehr flexibel und kann sich an viele Situationen anpassen, ohne nervös zu wirken. Seine prinzipielle Schwäche besteht darin, daß er emotional ausweicht, was für den Homöopathen zunächst schwer festzustellen ist, bis er seinen Patienten eingehender prüft oder dessen Partnerin befragt. Außerdem muß der Homöopath lernen, zwischen dem sanften Staphisagria und anderen glatten, emotional ausweichenden Typen wie Lycopodium und Natrium zu unterscheiden. Im allgemeinen wirkt der sanfte Staphisagria sogar noch sanfter und lockerer als Lycopodium, denn er hat nicht dessen Neigung, alles zu rationalisieren und seine Kenntnisse zur Schau zu stellen. Wie alle Staphisagrias wirkt auch der sanfte Typ bescheiden, obwohl er in Gesellschaft oft selbstsicher ist. Er wirkt lässiger und jungenhafter als Natrium-Männer und fühlt sich bei Intimität nicht so leicht verlegen oder bedroht. (Man vergleiche die Sanftheit des Naturfilmers David Attenborough mit der von Des O'Connor.) Natrium ist insofern tiefgründiger als Staphisagria, als er zu tieferen Gefühlen fähig ist und sich mit bedeutenderen Problemen beschäftigt wie beispielsweise dem Elend der Obdachlosen oder religiösen Fragen. Der sanfte Staphisagria wünscht sich einfach ein angenehmes Leben, und obwohl er im allgemeinen von Natur aus freundlich ist, hat er nicht das Bedürfnis vieler Natriums, das Leben anderer Leute in Ordnung zu bringen.
Konstitutionstypen werden zwar stärker durch Vererbung als durch Umweltfaktoren bestimmt, aber es gibt anscheinend eine bemerkenswerte Resonanz zwischen dem Konstitutionstyp und seinem jeweiligen familiären Hintergrund. So kommt es beispielsweise häufig vor, daß Ignatia als Kind einen geliebten Menschen verliert oder daß Natrium von seinen Eltern zur Leistung angetrieben wird. Bei Staphisagria wird das Kind oft entweder körperlich mißhandelt, oder es bekommt das Gefühl vermittelt, nichtsnutzig zu sein. Diese Konditionierung spielt dann eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung späterer Krankheiten.
Ein deutliches Beispiel dafür war der Fall eines sanften Staphisagria-Patienten mit einer lähmenden Arthritis, die sich im Alter von 18 Jahren plötzlich bei ihm entwickelt hatte. (Es ist typisch für Staphisagria, daß sich der Gesundheitszustand als Reaktion auf emotionale Stimuli plötzlich verändert.) Er war nett und höflich, aber dabei gleichzeitig bescheiden. Er wirkte offen und freundlich und hochintelligent. Als ich ihn fragte, was in seinem Leben geschehen war, als sich die Arthritis entwickelt hatte, sagte er, er habe damals gerade seine Abschlußprüfungen an der Schule absolviert und auf die Ergebnisse gewartet. Er hatte mit schlechten Noten gerechnet und sich Sorgen darüber gemacht, was seine Eltern wohl von ihm denken würden, denn sie erwarteten, daß er Jura studieren würde. Auf weiteres Nachfragen bestätigte er, daß seine Eltern stets seine Leistungen und ihn als Person kritisiert hätten. Ich fragte ihn, wie er sich dabei gefühlt hätte, und er sagte: »So, als ob ich völlig unfähig wäre.« Dann fragte ich ihn, welche Auswirkungen seine Arthritis auf sein Leben hatte, und er sagte: »Ich kann nicht tun, was ich will.« Für mich war klar, daß er sich unbewußt dafür entschieden hatte, seine Arthritis zu entwickeln, weil er damit rechnete, das Examen nicht bestanden zu haben, und nach einer Möglichkeit suchte, seine Unfähigkeit den Eltern gegenüber zu rechtfertigen. Als Krüppel durfte er unfähig sein, sonst aber nicht. Paradoxerweise hatte er seine Prüfungen mit guten Ergebnissen bestanden und war ein erfolgreicher Anwalt geworden. Ich verordnete ihm eine regelmäßige Dosis Staphisagria C30, und seine Gelenkschmerzen besserten sich deutlich. Sein Zustand wurde als Reitersche Krankheit diagnostiziert, eine Arthritis. die entweder auf eine Gastroenteritis oder eine sexuell übertragene Urethritis folgt.
Es ist interessant festzustellen, daß zu den körperlichen Schwächen von Staphisagria das Verdauungssystem und das Fortpflanzungssystem gehören, und ich habe verschiedene Fälle von Reiterscher Krankheit erlebt, die gut auf das Mittel reagierten. Genau dieselbe Familiendynamik findet man oft in der Kindheit von Lycopodium. aber das Ergebnis ist etwas anders, weil die angeborene Konstitution anders ist. Lycopodium reagiert auf Entmutigung prinzipiell mit einem Mangel an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, den damit verbundenen Erwartungsängsten und oft auch mit einer kompensatorischen Angeberei. Dem sanften Staphisagria-Anwalt mit seiner Arthritis fehlte es nicht an Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, und er litt weder unter Erwartungsängsten, noch neigte er zu einer übertriebenen Selbstdarstellung. Die Erwartungen seiner Eltern hatten bei ihm Wut und Angst vor Strafe ausgelöst, und um diese Gefühle zu vermeiden, hatte sein Unterbewußtsein beschlossen, eine lähmende Krankheit zu entwickeln.
Staphisagria neigt viel stärker als Lycopodium dazu, als Reaktion auf emotionalen Streß plötzlich ernsthaft krank zu werden. Während sich bei Lycopodium in Streßzeiten Ekzeme oder Verdauungsstörungen verschlimmern können, wird Staphisagria wahrscheinlich eher schwere Magenschmerzen oder ein starkes Ekzem bekommen. Der sanfte Staphisagria-Anwalt wirkte emotional sehr stabil wie alle sanften Staphisagrias, aber er zahlte dafür einen furchtbar hohen Preis. Alternativ hätte er entweder den Eltern seine Angst und seinen Ärger zeigen oder einen Nervenzusammenbruch erleiden können, und er wählte von diesen drei Möglichkeiten die Arthritis als die am wenigsten bedrohliche.
Sanfte Staphisagrias sind im allgemeinen sehr gesellige Menschen. Ihre emotionale Lockerheit macht sie in Kombination mit ihrem Charme und Witz bei vielen Menschen beiderlei Geschlechts sehr beliebt. Lycopodium-Männer sind in der Regel bei Frauen beliebter als bei Männern, weil ihre Konkurrenzhaltung sie oft dazu verleitet, Männer als Rivalen zu behandeln. Im Gegensatz dazu wirkt der sanfte Staphisagria auf beide Geschlechter bescheiden und charmant, weil er nicht versucht, irgend etwas zu beweisen. Was er jedoch, wie alle Staphisagrias, versucht, ist, seinen tieferen Gefühlen auszuweichen, und gerade die Tatsache, daß ihm dies so gut gelingt, macht ihn so sympathisch.
Einige berühmte Entertainer haben eine Lockerheit, die an den sanften Staphisagria erinnert. Sie sind auch körperlich leicht gebaut, was für Staphisagria im allgemeinen typisch ist. Ich denke dabei nicht nur an den schon erwähnten Des O'Connor, sondern auch an Fred Astaire, Bing Crosby und den englischen Schauspieler Nigel Havers. (Es ist vielleicht kein Zufall, daß die letzten zwei Fernsehfilme, die ich mit Nigel Havers gesehen habe, ihn als Flüchtling zeigten, dessen Nettigkeit und Charme das schreckliche Geheimnis, vor dem er floh, nicht mehr verbergen konnten.) Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die etwas schelmischen Züge der genannten Entertainer' die beinahe feminin wirken.
Da der sanfte Staphisagria seine tieferen Gefühle nicht zuläßt, ist er natürlich im Privatleben meist weniger erfolgreich als in der Gesellschaft. Seine Partnerin findet sein ausweichendes Verhalten wahrscheinlich frustrierend, denn man kann einem Mann, der sich vor sich selbst versteckt, nie wirklich nahe sein. Vermutlich wird sie auch ärgerlich, wenn er ernste Probleme praktischer oder emotionaler Art beschönigt. Viele sanfte Staphisagrias schließen Kompromisse, indem sie lernen, die Sorgen ihrer Partnerin ernst zu nehmen und mehr über ihre Gefühle zu sprechen, was die Beziehung dann befriedigender macht, obwohl der Mann immer noch die meisten seiner Gefühle unterdrückt, was für die Stabilität der Partnerschaft immer eine Bedrohung ist. Wenn zukünftige Ereignisse einige der schlafenden Elefanten aufwecken, kann daraus ein wilder Ansturm von unerklärlicher Wut und starker Reizbarkeit werden, wobei irrationale Nervosität zu Alkoholismus oder zu ernsten körperlichen Krankheiten führen kann. Wie alle Staphisagrias sitzt auch der sanfte Typ auf einem Faß gärender Emotionen. Im allgemeinen schafft er es, den Deckel gut geschlossen zu halten, aber gelegentlich bricht er infolge äußerer Umstände doch auf, und dann ist Staphisagria selbst über die Intensität seiner Gefühle erstaunt.
Körperliche Erscheinung
Nach meiner Erfahrung gibt es unter den zarten Staphisagrias etwas mehr Frauen als Männer, aber bei den anderen drei Typen kommen Frauen selten oder gar nicht vor. Die zarten, wilden und sanften Typen sind sich körperlich meist recht ähnlich, und ich will sie zuerst beschreiben. Der Körperbau ist im allgemeinen leicht, und sie sind kleiner und schlanker als der Durchschnitt. Das Gesicht wirkt jünger, als der Mensch an Jahren ist, mit einer weichen Haut, sehr feinen Falten und einem charakteristischen Kranz feiner Falten in den Augenwinkeln. Häufig hat das Gesicht einen schelmischen Ausdruck, ist schmal und dreieckig mit dem Schwerpunkt nach unten zum Kinn. Das Haar ist gewöhnlich fein und kann jede beliebige Farbe haben, obwohl es meist hell- oder mittelbraun ist. Die Augen sind in der Regel hell und glänzend wie die der Cartoonfigur Jimmy Cricket, deren ganze Erscheinung auf Staphisagria hindeutet. Einige Staphisagrias, vor allem solche, die »aussteigen« und süchtig nach Marihuana werden, sind groß und extrem schlank mit hageren, eckigen Gesichtern und einer scharfen, knochigen Nase. Oft wirken sie blaß und kränklich und haben charakteristisch gebeugte Schultern. Dieser Typ hält beim Gehen oft beide Arme seitlich steif am Körper, was unpassend wirkt, weil er gewöhnlich lässig durch die Gegend trottet. Es sieht aus, als gehe ein Orang-Utan daher. Diese »verwaschene«, schwächliche Version von Staphisagria ist psychisch in der Regel eine Kombination des zarten, wilden und unterdrückten Typs.
Der unterdrückte Staphisagria sieht den anderen oft sehr ähnlich, aber seine Züge sind zur Maske geronnen, die starr ist und wenig Emotionen zeigt. Er hat im allgemeinen graue Haare, auch wenn er noch jung ist, und seine Augen sind ausdruckslos. Ich habe einen unterdrückten Staphisagria behandelt, der hochgewachsen war, die anderen waren klein, aber im allgemeinen muskulös, da sie ein körperlich aktives Leben führten. Bei den meisten unterdrückten Staphisagrias sind die Lippen als Folge der extremen Unterdrückung von Gefühlen dünn oder kaum zu sehen.