Mercurius
Mercurius ist ein faszinierender Typ. Die Persönlichkeit von Mercurius in den Griff zu bekommen ist wahrscheinlich schwieriger als bei allen anderen Konstitutionstypen. Wie kann man etwas begreifen, das so viele Facetten hat, so veränderlich und so widersprüchlich ist? Ich schlage vor, wir beginnen mit dem Verhältnis zwischen der Mercurius-Persönlichkeit und dem Bild des römischen Gottes Merkur und vor allem seines griechischen Vorläufers Hermes.
Merkur ist der Bote der Götter; er ist schnellfüßig, denn er trägt geflügelte Sandalen, und auch sein Geist arbeitet schnell, wie man an den Flügeln auf seinem Helm sehen kann. Sein Vater ist Zeus selbst, der Herr des Götterhimmels, und seine Mutter ist eine niedere Erdnymphe, die sich Zeus hingab. So ist Merkur halb göttlich und halb irdisch und deshalb perfekt geeignet, Botschaften zwischen den Göttern des Olymp und den Sterblichen hier auf der Erde zu überbringen. Mercurius-Menschen haben im allgemeinen einen Fuß in der Welt der Träume und den anderen in der »wirklichen« Welt. Sie wechseln ständig zwischen kalter Logik und überraschend scharfsinniger Intuition, zwischen Pragmatismus und Mystik, zwischen strenger Enthaltsamkeit und reinem Hedonismus. Diese Tendenz von Mercurius, ständig zwischen zwei Extremen zu schwanken, ist äußerst charakteristisch für diesen Typ und einzigartig für Mercurius. Anacardium schwankt ständig zwischen einer normalen (oder großzügigen) und einer dämonischen Persönlichkeit, die beide stabil und komplex sind. Mercurius dagegen schwankt zwischen den Extremen unendlich vieler verschiedener Eigenschaften, einschließlich introvertiert/extrovertiert, optimistisch/pessimistisch, pragmatisch/idealistisch, moralistisch/opportunistisch und so weiter.
Der Grund, warum Mercurius so flexibel sein kann, hat mit der ihm eigenen Neutralität zu tun. Er ist der Bote, das Medium. Er hat keine feste eigene Persönlichkeit. Er übermittelt nur, was ihm aufgetragen wird. Diese Neutralität kann für Mercurius selbst sehr verwirrend sein. Manchmal weiß er nicht, wer er ist oder was er denkt. Einen Tag ist er ein Moralist, weil er durch die Reinheit dessen inspiriert wurde, was eine religiöse Leitfigur gesagt hat, am nächsten Tag ist er ein Sensualist und idealisiert den Weg des Hedonismus, nachdem er einen Film wie Emanuelle gesehen hat. Die Neutralität von Mercurius kann sich wie Leere anfühlen. Manchmal fließt rein gar nichts durch dieses in höchstem Maße empfängliche Gehirn, und Mercurius fühlt sich nur leer. In solchen Phasen kann er sehr einsam sein, so als säße er in einer riesigen Einöde, oder er fühlt sich gelangweilt oder wird auf andere Weise durch seine eigene Nichtigkeit in Schrecken versetzt.
Die Mercurius innewohnende Neutralität bedeutet, daß er sehr beeinflußbar ist. Er nimmt Einflüsse aus der Umgebung auf und wird für eine Weile zu dem, was er aufgenommen hat. Ich habe einmal eine junge Frau behandelt, die sagte, sie habe eine »mediale Persönlichkeit«. Ich wußte nicht, was das war, und so erklärte sie mir, eine mediale Persönlichkeit werde so von ihrer Umgebung beeinflußt, daß sie ihre eigene Identität nicht bewahren könne. Sie klagte über Stimmungsschwankungen, bei denen sich Depression, Verzweiflung, Angst und Rastlosigkeit abwechselten, Bemerkenswert daran war der rasche Wechsel. Sie verfiel beispielsweise in eine tiefe Depression, die aber nur einen Tag dauerte und dann einer anderen Stimmung Platz machte. Die Dame wirkte ziemlich androgyn wie ein Jugendlicher, der Junge oder Mädchen hätte sein können. Viele Mercurius-Menschen wirken so, weil sie so neutral sind.
Sie sprach zögernd, weil es ihr sehr schwerfiel, ihren eigenen so komplexen Geisteszustand zu beschreiben. Es war ihr sehr wichtig, daß ich sie verstand, und sie war offensichtlich äußerst sprachgewandt und intelligent. So erforschte sie sehr langsam und bedächtig die Landschaft ihres eigenen Geistes mit ihren Worten und zeichnete allmählich ein merkwürdiges Bild mentaler Zersplitterung an der Grenze zur Auflösung und beschrieb, wie sie darum kämpfte, die Einzelteile ihres Verstandes zusammenzuhalten. Es kann faszinierend sein, einen so flexiblen Geist zu haben, aber Mercurius zahlt dafür den Preis der Labilität oder sogar des geistigen Zerfalls. Das Bild intellektueller Schärfe und Tiefe, kombiniert mit androgynen Eigenschaften und geistiger Zerstreutheit, veranlaßte mich, ihr Mercurius 10M zu verordnen. Das führte zu einer raschen Integration ihrer Erfahrungen, so daß sie sagte, ein paar Tage, nachdem sie die Arznei genommen habe, sei sie voller Ekstase gewesen, weil sie auf ein solches Ausmaß an geistiger Integration gar nicht zu hoffen gewagt habe. Obwohl diese dramatische Verbesserung nur vorübergehend war, wuchs anschließend ihr Gefühl der »Zentriertheit« stetig bei einer regelmäßigen täglichen Dosis Mercurius vivus LM6.
Die Mercurius-Persönlichkeit ist sehr weit gefächert. Einerseits gibt es die unreifen Mercurius-Jugendlichen, die sehr leicht zu beeinflussen, flatterhaft und unzuverlässig sind, und auf der anderen Seite gibt es sehr reife Menschen, die über viel Weisheit und persönliche Kraft verfügen. Erstere gleichen jungen Fohlen, deren Energie stark, aber ungezähmt ist. Ich erinnere mich an einen solchen Fall, einen Jugendlichen von etwa 18 Jahren, der sich wegen seiner Aufmerksamkeitsstörungen behandeln lassen wollte. Er war intelligent, sehr gespannt und sehr erwartungsvoll. Er war aufgeregt, weil er gerade seine eigene Diagnose gestellt hatte, nachdem er ein Buch über Aufmerksamkeitsstörungen gelesen hatte, und hoffte nun ungeduldig auf Hilfe. Er hatte die typischen Symptome, war geistig zerstreut, konnte sich schlecht konzentrieren und ließ sich leicht ablenken. Außerdem war er sehr impulsiv und hatte wenig Selbstwertgefühl. Das reichte eigentlich schon aus, um auf Mercurius zu tippen, aber es gab noch mehr charakteristische Züge, die dieses Mittel bestätigten. Eine so intelligente und eifrige Offenheit läßt an Phosphor, Mercurius und Argentum nitricum denken. Obwohl er etwas unzusammenhängend sprach, weil er mit seinem impulsiven Enthusiasmus über die eigenen Worte stolperte, bezeichnete er Kommunikation als seine Stärke. Er berichtete, er gebe sein Wissen gerne an andere weiter und könne das auch gut. Ich glaubte ihm, obwohl er so holprig sprach, weil ich schon die Intelligenz und Neugier erkannt hatte, die für Mercurius oft so charakteristisch ist. Obwahl offen und leicht zu beeinflussen wie Phosphor, ist Mercurius wesentlich stärker mentalorientiert als der emotionale Phosphor. Nur Argentum, der ebenfalls sprunghaft ist, aber einen scharfen Verstand hat, kommt ihm nahe. Seltsamerweise wirkt Mercurius trotz seiner Impulsivität und Widersprüchlichkeit nicht exzentrisch wie Argentum. Er ist flatterhaft und unberechenbar, aber sein Intellekt arbeitet so zielgerichtet, daß er nicht exzentrisch, sondern sehr direkt wirkt, was aber mit einer etwas verzerrten Wahrnehmung einhergeht.
Mein junger Patient sagte, er habe nur wenige Freunde, weil die Leute ihn für eigensinnig hielten. Es stimmt, daß Mercurius meist sagt, was er denkt, und vor allem der junge Mercurius wirkt oft übertrieben selbstsicher, weil er die Feinheiten des sozialen Umgangs noch nicht gelernt hat, aber auch, weil seine ursprüngliche, direkte Wahrnehmung ihm ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt. Ich gab ihm Mercurius vivus 10M gefolgt von LM6, und er berichtete bald darauf, seine Konzentrationsfähigkeit habe sich verbessert. Er hatte sich einen Job als Staubsaugervertreter besorgt und erklärte mir stolz die besonderen Qualitäten seines Produkts. Er wirkte auch sehr selbstbewußt, als er mir erzählte, er habe einen Preis gewonnen, weil er die Teile eines neuen Staubsaugers in Rekordzeit zusammensetzen konnte. Mercurius ist schnell und anpassungsfähig; sein Verstand erfaßt mühelos jede Erfahrung und jede Idee, weil er keinen starren Bezugspunkt hat. Das gibt ihm eine große Breite und Flexibilität, aber auch eine große Instabilität. Nur der reifere Mercurius schafft es, sich selbst genügend zu disziplinieren, um seine Talente voll zu nutzen, indem er Ablenkungen ignoriert und Prioritäten setzt.
Mercurius ist meist sehr intuitiv. Er lebt auf der Grenze zwischen rationalem Intellekt und intuitiver Einsicht und schwankt oft zwischen beidem hin und her. Das ist an und für sich ein gewisser Widerspruch. Einerseits unterscheidet, klassifiziert und zerteilt Mercurius die Welt mehr als die meisten anderen Typen. So beurteilt er beispielsweise sofort den Charakter eines anderen Menschen, um sich dann mit dem Betreffenden anzufreunden oder ihn zu meiden. Er ist überraschend eindeutig in seinen Meinungen und Präferenzen und verfügt dabei oft über ein großes Maß an objektivem Wissen. Bei Dingen, über die er bisher nie besonders nachgedacht hat, kann er eigensinnig und didaktisch wirken. Der Mercurius-Verstand macht Schnappschüsse von der Welt vor seinen Augen, klassifiziert dann sofort die Bestandteile des Bildes und legt es beiseite. Das kann zu übereilten Entscheidungen oder Vorurteilen führen, aber auf der anderen Seite hat Mercurius oft eine so rasche Wahrnehmung, daß er in unglaublich kurzen Zeit-Bits die richtigen Schlußfolgerungen ziehen kann. (Der Ausdruck »Bit« scheint hier passend, wenn man von der Affinität ausgeht, die Mercurius zu Computern hat. Der Verstand von Mercurius arbeitet schnell wie ein Computer, und er ist oft ebenso distanziert.)
Andererseits sind viele Mercurius-Menschen fähig, ihr logisches Denken aufzugeben und sich den unterbewußten und »überbewußten« Informationsquellen zu öffnen. Oft geschieht das unfreiwillig, wenn intuitive Einsichten plötzlich gewissermaßen aus dem Blauen heraus auftauchen. Viele Mercurius-Menschen werden sich dieser intuitiven Begabung bewußt. Manchmal suchen sie auch gezielt diese Verbindung zu den tieferen Ebenen des Geistes. Nach meiner Erfahrung hat Mercurius oft einen guten Zugang zur Meditation, was überraschend erscheinen mag angesichts der zerstreuten und unaufhörlich geschäftigen Wesensart des Typs. Es stimmt zwar, daß Mercurius durch exzessives Denken zum Wahnsinn getrieben werden kann, aber es stimmt genauso, daß er die Wahl hat, und wenn er seine Aufmerksamkeit vom rationalen Intellekt weg nach innen richtet, findet er es überraschend einfach, das Geplapper der alltäglichen Gedanken abzustellen und sich für Einsichten aus der nichtrationalen Welt zu öffnen. Hier sehen wir, warum Mercurius so eng mit Hermes verwandt ist. Dieser mag zwar ein mutwilliger Herumtreiber sein, der nicht stillhalten kann, aber er ist der auserwählte Vermittler zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen. Er ist ein Amphibium, gleichermaßen zu Hause in den Wassern der Unterwelt wie auf dem trockenen (rationalen) Land. Anders als China, die völlig in ihre inneren Welten abtauehen kann und dabei den Kontakt mit dieser Welt verliert, ist Mercurius im allgemeinen die meiste Zeit hier. Aber er ist durchaus fähig, in die Tiefe hinabzugleiten (oder sich in die Höhe zu schwingen) für einen schnellen Trip ins Niemandsland, ins Land der Träume oder in tiefere, mehr transzendente Bereiche. Das ist es, was dem merkurischen Dichter seine Tiefe gibt. Es kann auch eine Art von Besessenheit sein, indem irrationale oder symbolische Inhalte ungerufen in den Geist von Mercurius eindringen, obwohl er das lieber vermeiden würde. Das folgende Gedicht eines jungen Mercurius-Poeten illustriert das:
erstaunlich wie viele unbewußte symbole man in der
küche findet
alle lebendig und wohlauf
aber seltsam unwirklich
ich gestehe
ich habe mich abgewandt als ich die zeichen sah
mich wirklich gewehrt gegen ihr eindringen
Jungs kobolde
Fausts dämonen
theaterspielende urgewalten aus den tiefsten tiefen
der gehirne von gott weiß wem
ich schere mich nicht drum
solange sie mich anderes tun lassen
als diese monster zu füttern
ich denke ich schrubbe diesen topf noch einmal
Dieser Dichter zieht es vor, ohne Interpunktion zu schreiben, die den freien Fluß des Bewußtseins von Mercurius wahrscheinlich behindert. Außerdem ordnet er seine Worte gerne in Mustern an, die ins Auge fallen. Diese Kombination von verbaler und visueller Kreativität ist bei Mercurius-Künstlern ziemlich verbreitet.
Der Dichter, der die obigen Zeilen schrieb, ist sehr jung und sieht noch jünger aus. Er ist eine typische Mercurius-Erscheinung mit langen, schlaksigen Gliedmaßen und gnomenhaften Gesichtszügen. Im Gespräch ist er schrullig und sprunghaft, in der einen Minute ernsthaft, in der nächsten kindisch albern. Er erzählte mir eine Geschichte, die auf frappierende Weise beides erhellt, sowohl die mediale Offenheit von Mercurius als auch die ihm innewohnende Neutralität, sein Potential, für Gott oder den Teufel offen zu sein. (Ich wollte gerade schreiben »Gut und Böse«, aber irgendein Kobold in der Maschine schrieb »Gott und das Böse«, und daraus wurde dann »Gott und der Teufel«. So wirkt Merkur, indem er unserem Verstand mit bedeutungsvollen Wortspielen ein Bein stellt.) Er erzählte mir, daß er einmal während seiner Meditation spürte, wie eine andere Wesenheit von ihm Besitz ergriff. Es war eine sehr seltsame Erfahrung, weil er nicht daran gewöhnt war, besessen zu sein. Er empfand diese Wesenheit als mächtig und böse. Sie übernahm die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper und ließ ihn als hilflosen Zeugen zurück. Er erlebte, wie diese Wesenheit unsere Welt fasziniert betrachtete und voller Schadenfreude daran dachte, wie er sie benutzen und unterwerfen würde. Sein Körper ging aus dem Haus und sah die Straße draußen. Er konnte fühlen, wie die fremde Wesenheit den Gedanken genoß, diese neue Welt vor ihren Augen zu manipulieren. Dann ging er/gingen sie zurück ins Haus und sagten zur Freundin des Dichters: »Er kommt nicht zurück.« Sie war erschrocken, weil sie den bösen Blick in den Augen ihres Partners gesehen hatte, war jedoch geistesgegenwärtig genug zu fordern: »Ich will ihn aber zurückhaben!« Überraschenderweise sagte der Geist: »O. k.«, ging zurück ins Schlafzimmer, setzte sich hin und verschwand. Zurück blieb der Dichter, der seinen Körper und Geist wieder unter Kontrolle hatte und wie zuvor mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett saß. Nun wäre das allein schon außergewöhnlich genug gewesen, aber was jetzt folgt, vervollständigt das Bild einer merkurischen Besessenheit perfekter, als wenn ich es mir selber ausgedacht hätte. Kaum fühlte unser junger Dichter sich von der bösen Macht befreit, ergriff ein anderer Geist Besitz von ihm. Dieser war völlig verschieden von dem ersten. Er fühlte sich rundum gut und weise an. Er blieb ein paar Minuten, und während dieser Zeit lehrte er den Dichter viele Dinge. Letzterer stellte fest, daß er mit dem Neuankömmling ungehindert sprechen konnte und daß der Geist jede Frage sofort beantwortete. Interessant war dabei die Form der Antworten. Er sah sie auf einen geistigen Bildschirm geschrieben, ähnlich wie bei einem Fernsehgerät oder einem Computer. Er fragte, was geschehen würde, wenn er etwas Bestimmtes täte, und sofort erschienen die Konsequenzen, sowohl die kurzfristigen als auch die langfristigen. Dann fragte er, was geschähe, wenn er seine Pläne geringfügig ändern würde, und es erschien eine neue Folge von Konsequenzen. Tiefe philosophische Fragen über den Sinn des Lebens wurden sofort beantwortet. Es gab nichts, was dieses Wesen nicht zu wissen schien. Es verschwand so plötzlich, wie es gekommen war, und ließ den Dichter voller Staunen über die Ereignisse zurück. Ich bin sicher, daß er mir die Wahrheit erzählt hat, denn erstens kenne ich den Mann gut, und zweitens war seine Freundin dabei, die bei dem Gedanken an diese Ereignisse immer noch schauderte.
Die zwiespältige Natur der medialen Empfänglichkeit von Mercurius kann gar nicht klarer verdeutlicht werden. Wenn sich das Ego von Mercurius aufbläht, kann es die gewonnenen Einsichten mißbrauchen und nach persönlicher Macht streben. Das ist die Schattenseite von Mercurius, der Magier. Bühnenhypnotiseure, die ihr Publikum veranlassen, sich lächerlich zu benehmen, gehören meist zu dieser Sorte von Mercurius-Menschen. Dasselbe gilt für Leute, die bewußt mit Magie spielen (mit wirklicher Magie, nicht mit Zaubertricks), um Macht über andere zu erlangen. Diese Art von Charakter wird wunderbar klar in dem Film Warlock – Satans Sohn porträtiert. Es geht dabei um einen mittelalterlichen Hexenmeister, der sich selbst ins 20. Jahrhundert versetzt, um Schriftrollen auszugraben, die ihm zu enormer Macht verhelfen. Der Hexer ist sehr gerissen, außerordentlich charmant und vollkommen rücksichtslos. Die fremdartige Welt 500 Jahre nach seiner eigenen Zeit bringt ihn nicht aus der Fassung. Er weiß genau, wie er die Menschen des 20. Jahrhunderts für seine eigenen Zwecke ausnutzen kann, und hinterläßt dabei eine Spur der Zerstörung. Ich finde es faszinierend, wie treffsicher die Filmregisseure in Hollywood bei der Rollenbesetzung sind. Heutzutage spielen die Filmschauspieler fast immer ihren eigenen Konstitutionstyp; deshalb sind sie auch so überzeugend. Jack Nicholson als im Luxus schwelgender Magier in dem Film Die Hexen von Eastwick trifft den Nagel auf den Kopf. Nicholson wirkt immer böse und ist dabei gewöhnlich schelmisch und mutwillig zugleich. Im Grunde ist es nur ein kleiner Schritt von schelmisch zu mutwillig und von da aus zum Bösen. Mercurius verkörpert im allgemeinen mindestens zwei dieser drei Aspekte. Die Rollen, die Nicholson spielt, haben die Kraft von Nux vomica, aber ihre Kraft ist auch noch von anderer Art. Sie ist meistenteils charmant, hypnotisierend und vollkommen egoistisch. Nux vomica ist einfacher in seinem ernsthaften, unverhohlenen Einsatz von (vorwiegend körperlicher) Kraft. Der merkurische Nicholson ist auf eine tiefgründigere Weise kraftvoll, die schlüpfriger ist und deshalb furchterregender. Nux ist beängstigend, weil er skrupellos ist, Mercurius kann furchterregend sein, weil er bösartig ist (Kent: »tiefe Bosheit des Willens«). Weil er so relativ leicht Zugang zu überpersönlichen Kräften und Informationen findet, muß Mercurius sich entscheiden, ob er Engel oder Teufel sein will. Doch viele Betroffene befinden sich noch in einer Übergangsphase und drücken beide Eigenschaften abwechselnd aus. Natürlich sind die meisten Leute mal gut und mal böse, aber die Polarität kommt bei Mercurius stärker zum Ausdruck (genauso wie jede andere Polarität), weil er einen direkteren Zugang zur überpersönlichen Inspiration hat.
Das fleischgewordene Wort
In der griechischen Mythologie ging Hermes als Kind bei den Musen in die Schule, jenen mysteriösen Geistern, die Dichter und Schriftsteller mit originellen Einfällen versorgen. Unter dem Diktat der Musen schreibt der Dichter seine besten Werke mühelos, weil er nur ein Gefäß ist, durch das der Fluß der Kreativität strömt. Mercurius verkörpert alle Charakteristika, die Hermes als dem Boten der Götter zugeschrieben werden, weil er durchlässig genug ist, um den jenseitigen Mächten als Stimme zu dienen. Viele Mercurius-Menschen sind begabte Schriftsteller oder Redner. Einige können nur schöpferisch tätig sein, wenn sie unter dem Einfluß der Muse stehen, den Rest der Zeit sind sie unproduktiv. Andere können nach Belieben in den Fluß der Kreativität eintauchen (wie Paul McCartney, der merkurische Ex-Beatle). Ich erinnere mich an das Buch Kleinzeit des begabten Schriftstellers Russell Hoban. Darin verliert der Held Kleinzeit seinen Job als Werbetexter, weil er einen unsinnigen Werbespruch geschrieben hat, der irgendwie in sein Gehirn gelangt und als Inspiration maskiert worden war. Er erlebt dann eine schreckliche Zeit im Krankenhaus, wo sich ein Organ nach dem anderen entscheidet aufzugeben. Hoban gelingt es jedoch, daraus eine brillante Komödie zu machen. Statt medizinischer benutzt er musikalische und geometrische Begriffe. So wird sein Diapason gespreizt, seine Schmerzen schießen von A nach B und seine Asymptoten sind verzerrt. (Das ist ein gutes Beispiel für die verbale Geschicklichkeit von Mercurius, der es liebt, mit Worten zu spielen, mit denen er sowohl ehrfürchtig als auch neckisch umgeht.) Während er im Krankenhaus liegt, spricht Kleinzeit mit dem Krankenhaus, dem Tod und sogar mit Gott, aber keiner von ihnen klingt sehr beruhigend (ein Beispiel dafür, daß die Götter eher zu ihrem Boten als durch ihn sprechen?). Schließlich gelingt es ihm durch die Liebe einer Pflegerin, aus dem Krankenhaus zu entkommen (was bisher noch niemand geschafft hat), und er richtet sich in einem leeren Raum ein, wo er nur eine Schreibmaschine und ein paar Blätter Papier hat. Er wartet, und dann ganz plötzlich wird er vom Wort überwältigt, das seinen Samen in Kleinzeit pflanzt. Von nun an kämpft Kleinzeit mit dem Papier, verführt es mit kleinen Zeilen und verwüstet es dann mit langen Strophen. Am Ende des Buches schließt er Freundschaft mit dem Tod in Gestalt eines riesigen behaarten Schimpansen, und von Stund an führt er ein glückliches Leben. Diese verrückte, aber brillante kleine Geschichte ist voll von Mercurius-Bildern, und ich bin sicher, daß Hoban selbst Mercurius ist. Da ist zunächst die Werbeagentur. Niemand ist ein besserer Werbetexter als Mercurius. Er kann mit Worten zaubern und manipuliert sie in jeder Form und zu jedem Zweck. Mercurius hat im allgemeinen keine Moral, und das ist in der Welt der Werbung nützlich. Er läuft zu Höchstform auf, wenn es um schnelle, griffige und pfiffige Sprüche geht, und ist der schnellste und erfindungsreichste Wortschöpfer. Dann ist da die merkwürdige Besessenheit im Zusammenhang mit diesen paar unsinnigen Reimen, die ihn nicht nur seinen Job kosten, sondern ihn später auch zu größerer Kreativität führen. Mercurius ist geistig offen und durchlässig genug, um für solche plötzlichen Inspirationen anfällig zu sein und sich von trivialen Gedanken bis zur Verrücktheit ablenken zu lassen, ja mehr noch, sich auch von unsinnigen Gedanken bezwingen zu lassen, die er nicht mehr los wird.
Kleinzeits Gespräche mit höheren Wesenheiten wie Himmel, Krankenhaus und Gott sind wie ein Schwatz mit seinesgleichen, keine kriecherische Demütigung gegenüber einem Gott. Das erinnert an Hermes, der selbst zur Hälfte göttlich ist und den Göttern nicht nur dient, sondern auch auf du und du mit ihnen steht. Schließlich ist Zeus selbst sein Vater. Der Mercurius-Mensch zeigt sich anderen Leuten gegenüber oft merkwürdig distanziert und erweckt den Eindruck, er stehe über dieser Welt. Diese Distanziertheit kann ausgesprochen arrogant wirken, aber beim besser integrierten, reifen Mercurius ist es keine Arroganz, sondern ein Gespür für die eigene Tiefe und Stille, das ihn abseits stehen läßt. Der gesunde Mercurius ist nicht mehr von sich selbst fasziniert, sondern begegnet der Welt eher hilfsbereit, aber still und distanziert, wie ein weiser Beobachter. Diese tiefere Seite von Mercurius wird aus verschiedenen Gründen oft übersehen. Erstens neigt der weisere Mercurius zum Schweigen, bis der richtige Moment gekommen ist, seine Weisheit auszusprechen. Zweitens sind seine unreifen Mercurius-Brüder viel auffälliger und verschaffen dem Typ seinen schlechten Ruf, und drittens muß der Homöopath selbst weise sein, wenn er die Weisheit seiner Patienten erkennen will.
Selbst der reife Mercurius hat meist nur eine schwache Verbindung zu seinem Körper und zur Erde. Mercurius ist nicht sehr geerdet; er lebt überwiegend in seinem Kopf. Das ist auch ein Grund, warum er so distanziert ist und warum sein Geist von Impulsen aus dem Jenseits überwältigt werden kann, ganz gleich ob sie nun göttlich oder dämonisch sind (Kent: »impulsiver Wahnsinn«). Kleinzeit stellt fest, daß alle seine Organe eins nach dem anderen ausfallen. Er kann sich nicht mehr auf sie verlassen. Das erinnert an die schlechte Beziehung, die Mercurius zu seinem Körper hat. Sehr oft ignoriert er die Bedürfnisse seines Körpers und tut statt dessen, wozu er gerade Lust hat. Vielleicht ernährt er sich schlecht, bleibt abends lange auf, um Videos anzusehen, und treibt keinen Sport. Es ist anstrengend für ihn, sich mit seinem Körper zu verbinden, wenn es nicht gerade um bestimmte Spiele geht, die ihm genügend Spaß machen. Weil er auf seinen Körper so wenig Rücksicht nimmt, zahlt er dafür am Ende oft den Preis in Form von Erschöpfung, immer wieder auftretenden oder chronischen Infektionen oder ernsteren Krankheiten wie beispielsweise Herzbeschwerden.
Die Cleverneß von Mercurius kann sehr banal sein. Sein Geist scheint ständig in Bewegung und stellt Verbindungen zwischen Dingen her, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben. Diese Art zu denken wird in Tom Stoppards Schauspiel Rosenkranz und Güldenstern glänzend porträtiert. Die beiden Hauptdarsteller sind weise Idioten, ähnlich wie der Narr, der bei Shakespeare so oft auftritt, um zu amüsieren und zu informieren. Sie necken sich gegenseitig mit ständigen Wortspielen, die ebenso klug wie anstrengend sind, weil selten einer die Oberhand gewinnt. Rosenkranz und Güldenstern sind eigentlich Charaktere aus Shakespeares Hamlet. Es ist passend, daß aus einem seiner Schauspiele eine solch merkurische Kost gemacht wird, denn seine eigenen Stücke sind ebenfalls voll von merkurischem Geist. Obwohl der Text aufgeschrieben ist, klingen Shakespeares Wortgefechte in ihrem Ablauf ebenso spontan wie brillant. Hier ist ein kurzes Beispiel aus Ende gut, alles flut:
HELENA: Monsieur Parolles, Ihr seid unter einem liebreichen Stern geboren.
PAROLLES: Unterm Mars!
HELENA: Das hab ich immer gedacht: unterm Mars.
PAROLLES: Warum unterm Mars?
HELENA: Der Krieg hat Euch immer so heruntergebracht, daß Ihr notwendig unterm Mars müßt geboren sein.
PAROLLES: Als er am Himmel dominierte.
HELENA: Sagt lieber, als er am Himmel retrogradierte.
PAROLLES: Warum glaubt Ihr das?
HELENA: Ihr geht immer sehr rückwärts, wenn Ihr fechtet!
Und so weiter. Dies ist das Beispiel eines geistreichen Mercurius-Tricksters. Menschen, die so etwas ohne Manuskript vortragen können, sind konstitutionell oft Mercurius. Dazu muß man geistig sehr schnell und beweglich sein, denn die Erwiderung muß gleichzeitig auf zwei verschiedene logische Gedankengänge passen. Diese Art von Neckerei klingt verrückt, aber wie bei Hamlet selbst hat der Wahnsinn auch bei Mercurius Methode. Im Grunde ist er sogar schnell genug, um sich selbst auf den Arm zu nehmen. Hamlet: »… mein Oheim-Vater und meine Tante-Mutter haben sich betrogen … Ich bin nur toll bei Nord oder Nord-West; wenn der Wind von Süden bläst, kann ich einen Falken sehr wohl von einer Hand-Säge unterscheiden.« Es ist sehr wahrscheinlich, daß der große Barde selbst Mercurius war. Jahrelang habe ich mich gefragt, welcher Konstitutionstyp Shakespeare wohl gewesen sein könnte. Dann entdeckte ich Mercurius, und alles paßte zusammen. Shakespeare war ein großartiger »Worteschmied«, nicht nur im Hinblick auf die Anschaulichkeit seiner Charaktere, sondern auch gemessen an seinen lebhaften Wortspielen und an der Tiefe seiner Erkenntnisse. Er kannte sich in der düsteren Würde des Palastes genauso aus wie im obszönen Humor der Wirtshäuser. Seine besondere Vorliebe galt dem Paradox und seiner Schwester, der Illusion. So steckte er Könige in die Kleider von Bettlern, vertauschte Zwillinge bei der Geburt (Zwillinge faszinieren die Doppelnatur des Mercurius), entlarvte die Frömmsten als Gauner, während die Geringsten sich als Engel herausstellten. Seine Kenntnis des menschlichen Wesens war beängstigend, und doch bewahrte er sich dabei ein leichtes Herz und blieb distanziert (»die ganze Welt ist Bühne, und alle Fraun und Männer bloße Spieler«). Seine Liebe zur Symbolik und zu esoterischen Bezügen läßt einen Mann erkennen, der sowohl in der rationalen Logik als auch in der irrationalen Weisheit zu Hause war, und seine Liebe zum Narren erinnert an Mercurius, der selbst ein Paradox ist, denn sein Geist ist so leer, daß er Weisheiten aussprechen kann.
Wie Shakespeare empfinden viele Mercurius-Menschen die Faszination der Esoterik und vor allem der Weissagung. Mehrere meiner Mercurius-Patienten befragten ständig Wahrsager, oder sie benutzten selbst Tarotkarten oder das I Ging, wenn sie vor wichtigen Entscheidungen standen. Das überrascht kaum, wenn man daran denkt, wie verwirrend das Leben für den armen Mercurius sein kann, dem im allgemeinen tausend verschiedene Möglichkeiten offenstehen. Pamela Tyler hat ein brillantes Buch über die astrologischen Charakteristika des Planeten Merkur geschrieben (unter dem schlichten Titel Merkur), das die unheimlichen Parallelen zwischen der Astrologie des Merkur und der konstitutionellen Mercurius-Persönlichkeit enthüllt. Ich war betroffen von folgendem Satz in ihrem Buch: »Merkur ist der Konsument im okkulten Supermarkt.« Mercurius liebt die Stimulation und deshalb alles Außergewöhnliche, und er fühlt sich instinktiv allem Medialen und Okkulten verbunden, selbst wenn er keine direkten Erfahrungen damit hat.
Der Puer aeternus
Bis jetzt haben wir uns damit beschäftigt, wie leicht Mercurius zu beeindrucken, wie flexibel und wie wortgewandt er ist. Nun müssen wir uns mit seinen weniger sympathischen Eigenschaften auseinandersetzen: seiner kindischen Verliebtheit in sich selbst, die man unter dem Begriff »Narzißmus« zusammenfassen kann. Der große Psychologe C. G. Jung prägte den Begriff Puer aeternus oder »ewiges Kind«, um eine bestimmte Art von Person zu beschreiben, die niemals wirklich erwachsen wird und doch im allgemeinen charmant, selbstbesessen und oft manipulativ ist. Seine Beschreibung ist eine sehr genaue Charakterisierung der unreiferen Mercurius-Person, und selbst die reiferen Mitglieder der Mercurius-Familie behalten gewisse Charakteristika des Puer (oder der Puella, wenn sie weiblich sind).
Der Puer fühlt sich als etwas Besonderes, im allgemeinen weil seine Mutter ihn hinreißend findet und verwöhnt und so dazu beiträgt, daß er emotional infantil und von ihr abhängig bleibt. Viele Mercurius-Menschen sind als Kinder so intelligent und geistig agil, daß ihre Eltern sie für etwas Besonderes halten. Außerdem hat Mercurius die angeborene Fähigkeit, Menschen zu manipulieren, um seinen Willen durchzusetzen, sowohl durch Charme als auch durch weniger attraktive Methoden wie etwa Beschimpfungen. So wird das Mercurius-Kind oft verwöhnt, und je mehr es verwöhnt wird, desto mehr erinnert es an den Puer. Ein gutes Beispiel dafür ist der verstorbene Peter Sellers. Ich wurde auf eine Biographie von Sellers durch eine Buchbesprechung in der Zeitung aufmerksam. Dort hieß es: »Sellers konnte jede Persönlichkeit darstellen, weil er keine eigene Persönlichkeit hatte.« Das machte mich neugierig, weil es so merkurisch klang, und so las ich das Buch (The Life and Death of Peter Sellers von Roger Lewis) und stellte fest, daß Sellers eins der besten Beispiele für den Mercurius-Puer war. Lewis begann als großer Fan von Sellers, doch je weiter er die Persönlichkeit seines Helden analysierte, desto dunkler wurde sie. Sellers' eigener Onkel bemerkte über den jungen Sellers: »Er war gräßlich, ein Monster von einem Kind. Ich hätte ihm mit Vergnügen die Gurgel durchgeschnitten.« Er wurde von seiner theatralischen Mutter hemmungslos verwöhnt und durfte tun, was er wollte. Einmal stieß er eine Besucherin ins Feuer, so daß sie sich übel verbrannte. Er spuckte den Leuten in die Hüte, machte sein Spielzeug kaputt und drückte die Katze unter dem Sofakissen platt. Wenn seine Mutter das Zimmer verließ, schrie er, bis sie zurückkam. Dieses manipulative Verhalten behielt Sellers während seines ganzen Lebens. Er bekam immer, was er wollte, ganz gleich welchen Preis andere dafür bezahlten.
Sellers hatte eine unheimliche Fähigkeit, die Stimme und das Verhalten eines anderen Menschen zu imitieren, wenn er den Betreffenden nur kurz gesehen hatte. Seine Tochter sagte, er habe die mediale Fähigkeit besessen, andere Menschen zu verstehen, und das habe er bei seiner Charakterdarstellung benutzt. Bekannte sagten, er habe ständig irgendeine Rolle gespielt und sei niemals er selbst gewesen. Sellers selbst sagte einmal: »Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, nach meiner Persönlichkeit zu suchen.« Wirklich glücklich war er nur auf der Bühne, wenn er das tat, was er am besten konnte: die Maske eines anderen aufsetzen. (Eine von Sellers' früheren Biographien hatte den Titel Die Maske hinter der Maske.) Er sagte, sein Leben sei nur lebenswert, wenn er filmte; den Rest der Zeit habe sein Leben keine Bedeutung. Sellers war ein außerordentlich begabter merkurischer »Papagei«, aber es ist ihm nie gelungen, eine reife Beziehung zu einem anderen Menschen zu entwickeln. Lewis schrieb über Sellers: »Er war unfähig, eine stabile Freundschaft einzugehen, zu der Geben und Nehmen gehört.« Statt dessen benutzte er die Leute. Seine Familie beispielsweise beachtete er wochenlang überhaupt nicht und zog sie dann nach der Show auf die Bühne, damit er als Familienvater fotografiert werden konnte. Der Puer weiß genau, wie er bekommt, was er will. Als Sellers wieder einmal der BBC Kopfschmerzen verursachte, weil er sich weigerte, sich an das Manuskript zu halten (das seine Spontaneität einschränkte), und sein Agent Briefe von der Fernsehanstalt bekam, in denen von Vertragsbruch die Rede war, beantwortete Sellers diese Briefe selbst folgendermaßen: Er begann zunächst vernünftig und freundlich, ohne jedoch Reue zu zeigen, und dann beklagte er sich seinerseits darüber, wie er behandelt wurde, flocht ein paar Unwahrheiten ein, um seinen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen, bis er am Ende richtig in Fahrt kam und dem Sender gegenüber ausfallend wurde. Dabei war er so geschickt, und seine Talente waren so gefragt, daß er ausnahmslos von den Leuten, die er gerade mißbrauchte, einen Brief der Entschuldigung bekam. Das ist der Stoff, aus dem Diktatoren gemacht sind, und der Mercurius-Puer kann leicht zum Diktator werden, wenn er genügend Macht erlangt.
Der Mercurius-Puer erträgt keine Unannehmlichkeiten. Ich habe einmal ein junges Mädchen im Teenager-Alter wegen Aufmerksamkeitsstörungen behandelt. Sie war intelligent und schnell in ihrer Auffassung, und ihre distanzierte Cleverneß wirkte fast aufreizend. Sie war ein Computerfan und hatte keine Schwierigkeiten, sich am Computer zu konzentrieren, aber in der Schule war sie rastlos und launisch. (Das läßt oft an Mercurius denken, der sich für technische Spielereien begeistern kann, während Menschen ihn langweilen.) Der Vater des Mädchens erzählte mir, sie habe einen sehr starken Willen und breche in wüste Beschimpfungen aus, wenn sie ihren Kopf nicht durchsetzen könne. Er sagte auch, sie habe einen ausgeprägten sechsten Sinn. Er beschrieb, wie sie bei Würfelspielen bestimmte Zahlen erzwingen konnte, und sie bestätigte das. Ihr scharfer, unpersönlicher Intellekt, ihre Ablenkbarkeit, ihre Begeisterung für Computer und ihre medialen Fähigkeiten lenkten meine Aufmerksamkeit auf Mercurius. Wenn sie eine Spritze bekommen mußte, machte sie vorher und nachher Theater wie eine Dreijährige. Wenn sie einen Kratzer hatte, war das der Weltuntergang. Diese extreme Sensibilität gegenüber jeder Unannehmlichkeit bestätigte Mercurius, und das Mittel hatte eine stabilisierende Wirkung auf ihr Verhalten.
Homöopathen wissen, daß Mercurius weder Hitze noch Kälte verträgt. Er wird in der Arzneimittellehre als »menschliches Barometer« beschrieben. Natürlich reagiert auch das Metall Quecksilber selbst extrem stark auf kleine Temperaturveränderungen und wird deshalb im Thermometer benutzt. Ich habe einen Mercurius-Freund, der jedesmal niest, wenn es nur geringfügig kälter wird. Im Auto fummelt er ständig an der Lüftung, der Heizung oder der Klimaanlage herum, um die Temperatur so einzustellen, wie sein Körper es verlangt. Wenn der Wagen sich aus der Sonne in den Schatten bewegt, reguliert er die Luftzufuhr gleich nach, um die Temperatur zu erhöhen, und wenn es sein muß, paßt er sie jede halbe Minute an. Beim Essen ist dieser Mann extrem wählerisch. Im Restaurant nörgelt er am Menü herum und äußert alle möglichen Sonderwünsche, nicht weil er irgendwelche Nahrungsmittel nicht vertragen würde, sondern weil er alles genau nach seinen Vorstellungen haben will. Wenn das Essen etwas zu kalt ist (wobei es für jeden anderen eine normale Temperatur hätte), läßt er es sofort zurückgehen. Er sagt, sein Magen sei sehr empfindlich, und zwar nicht im Hinblick auf spezielle Nahrungsmittel, sondern bezüglich der Ausgewogenheit einer Mahlzeit. Wenn er etwas Bitteres gegessen hat, braucht er deshalb anschließend etwas Süßes als Ausgleich. Wenn das Essen zu schwach gewürzt ist, streut er Salz darauf, und dann ist es zu salzig, deshalb muß er etwas trinken und so weiter. (Das erinnert mich an eine vergnügliche Restaurantszene in Steve Martins Film L. A. Story, wo eine Gruppe von schick aufgemachten Leuten Kaffee bestellt. Die Bestellung fängt recht konventionell an mit Cappuccino, Espresso und Milchkaffee und wird dann immer affektierter mit Bestellungen wie halb entkoffeiniert, koffeinfrei mit Magermilch, halb entkoffeiniert mit Magermilch und Sahne und endet schließlich bei koffeinfrei mit Magermilch, Sahne und einer Scheibe Zitrone.)
Für einige Mercurius-Menschen ist Ausgewogenheit kaum zu erreichen. Sie reagieren so sensibel wie ein Tropfen Quecksilber, und ihre Stabilität ist ähnlich schwer zu fassen. Das gilt für ihre Stimmungen, ihren Körper und sogar ihre Ansichten. Mercurius fällt immer von einem Extrem ins andere. Oft ist eine strenge Disziplin entweder gar nicht möglich, oder Mercurius nimmt dabei wirklich Schaden. Sellers hielt strenge Diät, um schlank und attraktiv zu sein, als er mit Sophia Loren als Hauptdarstellerin spielen sollte. Er verlor eine Menge Gewicht, aber der Schock brachte ihn beinahe um. Am Ende seiner Diät hatte er die erste von zahlreichen Herzattacken. Einer meiner Mercurius-Patienten erzählte mir eine ähnliche Geschichte. Er hatte immer zuviel gegessen, so daß sein Körper weich und schwabbelig geworden war. Eines Tages entschloß er sich zu einer Diät und trieb jeden zweiten Tag Sport. Obwohl er keine anstrengenden Übungen machte, gelang es ihm, seine Fettreserven in feste Muskeln zu verwandeln, aber er hatte sein Ziel kaum erreicht, da erkrankte er an einem mysteriösen Leiden, das ihn vollkommen schwächte. Danach aß er wieder zuviel und trieb keinen Sport mehr. Es sieht so aus, als könne es für manche Mercurius-Menschen in einer Katastrophe enden, wenn sie versuchen, ihrem chaotischen Lebensstil feste Strukturen aufzuzwingen.
Das deutlichste populäre Beispiel eines Mercurius-Puer, das mir einfällt, ist das übergroße Kind Arthur in dem gleichnamigen Film, gespielt von Dudley Moore, der höchstwahrscheinlich selbst Mercurius ist. Arthur ist vollkommen abhängig von Dienern, die sich um ihn kümmern, und obwohl er einen liebenswerten Charme hat, ist er selbstsüchtig und unfähig, Verantwortung für sich zu übernehmen, von anderen ganz zu schweigen. Es ist für Arthur ein harter Kampf, seine narzißtische Bedürftigkeit zu überwinden, und diesen Kampf müssen auch viele Mercurius-Menschen austragen. Wenn sie beispielsweise einer hübschen Frau widerstehen sollten, weil sie verheiratet ist, dann haben sie nicht die geringste Willenskraft und versuchen es nicht einmal. Dasselbe gilt für Essen, aufregende Erlebnisse oder wonach ihnen sonst der Sinn steht (Clarke: »Verlust der Willenskraft«). Sellers war hinter Sophia Loren her, obwohl sie verheiratet war, und dann hinter etlichen anderen, von denen er einige heiratete. Mercurius ist in seinen Launen völlig impulsiv wie ein kleines Kind. Genauso impulsiv ist er in seiner Inspiration, und wie Sulfur wird er toleriert und geliebt, weil er so charmant und brillant ist. (Ein gutes Beispiel für die Brillanz von Mercurius ist Dudley Moores Improvisation auf dem Klavier. Zunächst spielt er kunstfertig ein Stück schwerer klassischer Musik, um dann ganz allmählich die Melodie zu verändern, bis etwas so Banales wie »Happy birthday to you« dabei herauskommt.) Frauen lieben Mercurius auch wegen seiner jungenhaften Verwundbarkeit. Er kann mit anderen, und besonders mit jemandem vom anderen Geschlecht, völlig offen über sich selbst sein, und das kann für sich genommen schon sehr attraktiv wirken; es kann aber auch überwältigend sein. Er verliebt sich leicht auf den ersten Blick, macht einen Heiratsantrag, und nach der Hochzeit ist es mit der Liebe vorbei. Das ist Sellers mehrmals passiert, deshalb seine zahlreichen Ehen. Dennoch muß er von Anfang an eine gewisse Selbsterkenntnis gehabt haben. In Lewis' Biographie über Sellers heißt es, er habe seiner ersten Frau folgenden Heiratsantrag gemacht: »Anne, willst du meine erste Frau werden?« Trotzdem hat die arme Frau ja gesagt.
Der Mercurius-Puer ist aufverschiedene Arten jungenhaft (oder mädchenhaft). Er ist meist frech, respektlos, verantwortungslos und vergnügungssüchtig. Ich habe diese Tendenz zur Sucht bei verschiedenen Mercurius-Patienten erlebt. Ein junger Mann (der noch jünger aussah) suchte mich auf, weil er von seiner Drogensucht loskommen wollte. Er war ein ausgezeichneter Friseur und liebte seine Arbeit, aber er arbeitete mit typischer Mercurius-Geschwindigkeit, und an den Wochenenden wollte er abschalten und sich amüsieren. Also nahm er Drogen, viele Drogen. Mercurius neigt zu Extremen, und der Drogenkonsum dieses Mannes war enorm. Trotzdem war er stolz darauf, nicht süchtig zu sein. Er redete sich ein, wenn diese Gewohnheit sich nicht nachteilig auf seine Arbeit auswirke, dann sei er nicht abhängig; und sie wirkte sich nicht nachteilig auf seine Arbeit aus. Doch sie forderte körperlich und im Hinblick auf seine Beziehungen ihren Preis, und deshalb hatte er mich aufgesucht, um mit meiner Hilfe seine Wochenendgewohnheit aufzugeben. Über einige Worte, mit denen er sich selbst beschrieb, mußte ich lächeln, denn sie waren absolut rein in ihrer merkurischen Essenz. Er sagte, wenn er Drogen nehme, liege er nicht einfach herum wie ein Zombie. Er hatte viel Spaß mit einer ganzen Gruppe von anderen, die sich darauf verließen, daß er »Leben in die Bude« brachte. Mercurius ist immer in Bewegung, deshalb hatte mein Patient wenig mit passiver »Bewußtseinserweiterung« im Sinn. Er sagte, er spiele den »Rattenfänger« für seine Freunde, und sie würden ihm bereitwillig folgen.
Der Rattenfänger ist eine vollkommen merkurische Gestalt, ein junger Mann, der leichtfüßig durch die Stadt tanzt und dabei zuerst Ratten und später Kinder mit seiner Flöte verzaubert. Als Rattenfänger betätigt er sich gegen Bezahlung (der Puer ist auch in seiner Verspieltheit noch eigennützig), und wenn er sein Geld nicht bekommt, lockt er alle Kinder unbemerkt aus der Stadt heraus. Das ist die Schattenseite des verspielten Puer. Wenn man ihm in die Quere kommt, wird er zum herzlosen Dämon. Selbst seine Kleidung ist als Mischung von Gegensätzlichem merkurisch. Mein Friseurpatient veranstaltete internationale Seminare in seiner Kunst, was angesichts seiner Jugend recht beeindruckend war. Er sagte, als Kind habe er sich im Garten auf eine Seifenkiste gestellt und freie Reden an ein imaginäres Publikum gehalten. In diesen Reden habe er dargestellt, wie großartig und erfolgreich er war. Hier sehen wir die Wortgewandtheit von Mercurius in Verbindung mit dem Narzißmus des Puer. Ich gab ihm Mercurius vivus 10M, und drei Wochen später sagte er, er sei wesentlich ruhiger geworden und habe keine Schwierigkeiten, auf Drogen zu verzichten. Er war eine neue Beziehung eingegangen und entschlossen, sie nicht durch seinen früheren extremen Lebensstil zu gefährden. Nach einer einzigen Dosis des Simillimum beginnt der Puer, erwachsen zu werden.
Die Gestalt des Puer ist eine seltsame Mischung aus Verletzlichkeit und arroganter Empfindungslosigkeit. Er hält sich für den Besten, aber er braucht Bestätigung. Er nimmt den Mund voll, ohne an die Konsequenzen zu denken, aber er ist zutiefst verletzt, wenn jemand Kritik äußert, die zutreffend klingt. Er hängt sich gerne an eine neue Liebe und baut seine Welt um sie herum, bis er sich an sie gewöhnt hat, und dann hält er sie für vollkommen selbstverständlich, Der Puer ist eigentlich sehr unsicher, denn sein Gefühl der Sicherheit und Unverwundbarkeit gründet er auf die unerschütterliche Zuneigung seiner Mutter. Wenn ihm diese entzogen wird, erwartet er, daß die ganze Welt in ihn vernarrt ist, wie seine Mutter es war, und wenn sich diese Vorstellung als unzutreffend erweist, bekommt der Puer einen bösen Schock. Der junge Staubsaugervertreter mit seiner Aufmerksamkeitsstörung sah traurig und verletzlich aus, als er sagte, es sei schwer für ihn, Freunde zu finden, und zugab, daß andere Leute ihn für eigensinnig hielten. Dann bestätigte er, daß er sich immer noch im Puer-Stadium befand, indem er seine Haltung rechtfertigte und sagte, er sei nicht wirklich eigensinnig, sondern die anderen könnten nur nicht ertragen, wenn er ihnen die Wahrheit sagte. Der Puer denkt ständig über sich selbst nach, aber alles, was er sieht, ist seine oberflächliche Brillanz. Es ist für ihn sehr schwer zu erkennen, daß er selbstsüchtig und nicht zu intimen Beziehungen fähig ist. (Wie kann man mit anderen intim sein, wenn man in sich selbst verliebt ist?) Der Mercurius-Puer kann das Gefühl haben, er sei völlig mit einer anderen Person verschmolzen, und das kann ekstatisch für ihn sein, aber in Wirklichkeit hat er dabei sich selbst an den anderen verloren. Zur wahren Intimität gehört es, daß man sein Selbst behält und damit dem anderen begegnet.
Ein hervorragendes Beispiel für den verwundbaren, brillanten Mercurius-Puer ist der Sänger Michael Jackson. Er ist einer der widersprüchlichsten und flatterhaftesten Charaktere auf der öffentlichen Bühne. Er ist ein Peter Pan, der nie erwachsen geworden ist. Er lebt auf seiner Ranch Never Never Land mitsamt eigenem Vergnügungspark, Kino und Zoo. Seine Erscheinung ist außerordentlich merkurisch. Er ist nicht nur schön, zierlich und sehr jugendlich, sondern er verändert sich auch von Woche zu Woche. Er ist von seinem Äußeren so besessen, daß er sein Gesicht zum Spiegelbild des Gesichts seiner Schwester umgestaltet hat. Außerdem wirkt er im echten Mercurius-Stil halb weiß und halb schwarz, halb männlich und halb weiblich, halb wie ein Mensch und halb wie ein Kobold. Auf der Bühne wirkt er wie elektrisiert in seiner Beweglichkeit. Er hypnotisiert das Publikum mit seinem Moonwalk, der so aussieht, als gehe er gleichzeitig vorwärts und rückwärts. Mit Hilfe von besonderen Computereffekten vervollständigt er die Illusion, indem er sich vor unseren Augen in einen Panther verwandelt. Als Jackson 1994 im Fernsehen auftrat, um auf die Kritik der Presse zu antworten, die ihn als Monster dargestellt hatte, tat er wenig, um diesen Eindruck zu korrigieren. Er erschien als zarte, geisterhafte Gestalt mit einer weichen Mädchenstimme, fühlte sich mißverstanden, wollte nur lieben und von allen geliebt werden. Er sei immer geschminkt, so ließ er wissen, weil sein Gesicht weiße Flecken habe. Tatsächlich haben einige Mercurius-Menschen körperliche Zeichen ihrer dualen oder multiplen Natur. So hat beispielsweise einer meiner Mercurius-Patienten Pupillen, die ganz unterschiedlich groß sind. Bei all seiner Fremdartigkeit und seiner zurückhaltenden Isolation ist Jackson ein brillanter, kreativer Musiker. Vielleicht hatte er recht, als er so unschuldig und ernsthaft sagte, Gott habe ihm seine Gaben verliehen, damit er der Menschheit Freude bringen könne.
Der Narr
Während ich dieses Kapitel schreibe, staune ich darüber, wie Mercurius nicht nur eine, sondern drei oder noch mehr archetypische Gestalten aus dem Tarot verkörpert. Er ist der Narr, der ein Aspekt des Puer ist, aber er ist auch der Magier, der Hohepriester und der Kaiser. Das hat zweifellos etwas mit Alchimie zu tun, wo Mercurius der Geist im Kessel ist, der sich von einer Stufe der Vervollkommnung zur nächsthöheren transformiert, genauso wie es vom Magier heißt, er sei die »höhere Oktave« des Narren. Weil Merkur auch der Bote der Götter ist, das Bindeglied zwischen dem Unbewußten und dem rationalen Verstand und von den Musen die Weissagung lernte, scheint es passend, daß er in den Tarotkarten so herausragend vertreten ist, denn sie repräsentieren schließlich symbolhaft die verschiedenen Entwicklungsstadien der Psyche auf ihrer Suche nach Weisheit.
Der Narr ist ein faszinierender Archetyp, denn er vereint die widersprüchlichen Aspekte von Torheit, Weisheit, Unschuld und dem Trickster. Insofern ist er eine sehr merkurische Gestalt. Im Tarot wird der Narr als junger Mann dargestellt, der sorglos mit einem Sack auf dem Rücken herumwandert und gerade dabei ist, fröhlich über einen Abgrund zu steigen, mit einem bellenden Hund auf den Fersen. Das entspricht der sanguinischen, gedankenlosen Unschuld des Mercurius-Puer. Ein klassisches Beispiel ist der Narr, der in so vielen Shakespeare-Stücken auftaucht. In Zwei Herren aus Verona wird er »Speed« genannt, ein höchst passender Name für eine merkurische Gestalt. Shakespeare sagt über einen seiner Narren: »Dieser Geselle ist weise genug, den Narren zu spielen, und das erfordert eine besondere Art von Witz. Er muß die Stimmungen derjenigen beobachten, mit denen er seine Späße treibt, die Eigenschaften der Personen und die Zeit. Das erfordert soviel Mühe wie die Kunst eines weisen Mannes.« Shakespeares Narren werden von den anderen Schauspielern als Idioten behandelt, und gewöhnlich spielen sie die meiste Zeit den Narren, aber hinter ihrer vermeintlichen Dummheit verbirgt sich eine Weisheit, die sich aus ihrem distanzierten, nicht dazugehörenden Status ergibt. Es ist der Narr, der dem König die Wahrheit sagt, wenn kein anderer sie sieht, und ihm den Spiegel vorhält, wenn kein anderer es wagt. Der Narr sieht alles, aber sagt nichts, bis er gefragt wird. Erst dann zeigt er seine bemerkenswerte Beobachtungsgabe ohne Anzeichen von Stolz oder Ernst, sondern mit der Leichtigkeit eines Kobolds oder eines unpersönlichen Fremden. Es ist die Unpersönlichkeit von Mercurius, die ihn närrisch wirken läßt. Er hat in der Konversation oft nichts zu sagen, weil das Gespräch sich um persönliche Meinungen, Vorlieben und Abneigungen dreht, für die er sich nicht interessiert.
Einer meiner Mercurius-Patienten, ein Teenager, der unter Schnupfen litt, sagte, er sei in der Schule die meiste Zeit schweigsam, denn er wisse nichts über die modische Musik, von der seine Altersgenossen schwärmten, und er habe nichts für die emotionale und kindische Art übrig, mit der sie bestimmte Dinge verspotteten und andere bewunderten. Er hatte keine persönliche Meinung über Mandys Flirt mit Steven, und er kannte auch nicht die neuesten Klassenwitze über die Lehrer. In gewissem Sinne wirkte er wie ein Narr, weil er so distanziert war, aber es war keine freiwillige Distanziertheit. Er bemühte sich verzweifelt darum, Freundschaften zu schließen, und wollte sogar versuchen, die Sprache der anderen zu lernen, aber es gelang ihm nicht, bei Dingen, die er für tri vial hielt, Interesse zu heucheln. Für sein Alter wußte er sehr viel über Wissenschaft, Politik und Geschichte, aber er war ein sozialer Außenseiter. Wie der Mercurius-Narr hätte er mit jedem gesprochen, aber sie fanden es seltsam, mit ihm zu reden, weil er nicht wie einer von ihnen wirkte. Er war gescheiter als sie, aber im Hinblick auf die Dinge, die sie wichtig fanden, war er völlig unwissend.
Der Mercurius-Narr ist nicht stolz. Er würde mit jedem sprechen; die Frage ist nur, wer ihm zuhört. Im allgemeinen sind das nur solche Leute, die ehrlich mit sich selbst sind und gleichzeitig die Fähigkeit haben, über den Tellerrand ihrer persönlichen Präferenzen hinauszusehen. Der Narr im Tarot ist die erste Karte der großen Arkana. Gleichwohl ist er nicht repräsentativ für die ersten Stadien der menschlichen Evolution, sondern eher für das erste Stadium der bewußten individuellen Entwicklung jenseits des »Massenbewußtseins« und namentlich für die Einsicht in unser eigenes Unwissen. Er repräsentiert die Bereitschaft, den Schritt ins Unbekannte zu tun, unvorbereitet und auf das Schicksal vertrauend, und dieses unschuldige, abenteuerliche Vertrauen findet man oft bei Mercurius.
Der Mercurius-Narr ist ein verspieltes Kind. Manchmal handelt es sich um narzißtische Puer-Typen, die mürrisch, reizbar und anspruchsvoll werden, wenn sie arbeiten müssen. Andere sind selbstloser, und sie kommen Shakespeares Narren am nächsten. Sie sind schelmisch und scharfzüngig, aber nicht bösartig. Der junge Mercurius-Dichter, den ich behandelt habe, war solch ein »Narr«. Er spielte den Narren mit Vergnügen, scherzte wie ein Kind und warf mit cleveren Wortspielen um sich. Wie viele Mercurius-Menschen stellte er gleichzeitig zwei gegensätzliche Charaktere dar. Er wirkte sehr jung, offen, etwas »grün« und unbeholfen. Oft stolperte er über seine eigenen Worte wie ein Narr, und doch enthielten ebendiese Worte (besonders seine Gedichte) auch tiefgründige Weisheit. Häufig spielte er auf der sozialen Ebene den Narren, weil er dafür mehr Beifall bekam als für seine tiefgründigen Wahrheiten, und er fühlte sich dann weniger verwundbar.
Nachdem ich Mercurius als Konstitutionstyp »entdeckt« hatte, dämmerte mir allmählich, daß der größte Teil unserer Stegreitkomödianten und Kabarettisten zu diesem Typ gehört. Sie müssen geistig sehr schnell reagieren, vor allem wenn sie mehrere unterschiedliche Charaktere imitieren. Diejenigen, die ihre eigenen Texte schreiben, müssen außerdem scharfe Beobachter der menschlichen Natur sein. Der beste Humor hängt oft davon ab, ob es gelingt, Verhaltensweisen zu demaskieren, die wir alle schon millionenfach gesehen haben, ohne darüber nachzudenken. Der Komiker muß diese automatischen Verhaltensweisen isolieren können, um sie zu entlarven. An dieser Stelle kommt das alles durchdringende Auge von Mercurius ins Spiel. Darsteller wie Ben Elton, Robin Williams und Jim Carrey sind hochgradig merkurisch. Sie sind »Revolverschnauzen«, die außergewöhnlich schnell mit einer Vielzahl von Akzenten sprechen können. Im allgemeinen demaskieren sie unbewußte Verhaltensweisen ziemlich rücksichtslos, aber sie wirken dabei nicht böse oder gehässig. Wie ein guter Richter stellen sie eine unbewußte Geste gnadenlos, aber auch ohne Boshaftigkeit an den Pranger. Mercurius ist gut darin, tiefgründige, aber auch unangenehme Wahrheiten ohne emotionale Betroffenheit auszusprechen. Das ist in einer Komödie und im Gerichtssaal wirkungsvoll, aber auf der sozialen Ebene kann Mercurius seine Freunde schnell verlieren, wenn er nicht lernt, die Schärfe seiner Beobachtungen zu mäßigen. Wie der junge Staubsaugervertreter kann er andere mit seinen kompromißlosen Bemerkungen beleidigen, und anschließend wundert er sich, warum er einsam ist. Auch Nux vomica spricht sehr offen, aber es gibt da einen Unterschied. Nux läßt bereitwillig die Luftballons der Leute platzen und genießt beinahe ihr Unbehagen. Mercurius ist im allgemeinen weniger aggressiv. Er sagt, was er sieht, ohne darüber nachzudenken, ob er den anderen damit verletzt, oder er redet sich sogar ein, daß er dem anderen damit etwas Gutes tut, aber er spricht in den meisten Fällen nicht aus einer Verärgerung heraus. Mercurius ist wesentlich neutraler und distanzierter als Nux, obwohl seine scharfe, zielstrebige Art den Homöopathen an letzteren erinnern kann.
Der Puer hat Eigenschaften des Narren, weil er nicht nachdenkt, bevor er spricht oder handelt. Er ist so spontan, daß er jede Gelegenheit nutzen kann, die das Schicksal ihm bietet. Und weil er so formbar ist, kann er sich dem Fluß der Ereignisse anpassen, was den Eindruck erweckt, als habe er sehr viel Glück. Auf der anderen Seite kann er sich auch in alle möglichen unangenehmen Situationen manövrieren, weil er nicht hinsieht, bevor er springt. Ein gutes Beispiel ist die Tendenz des Mercurius-Puer, impulsiv in Beziehungen hineinzuspringen. Verschiedene meiner Mercurius-Patienten haben darüber berichtet. Die prickelnde Erregung einer neuen Beziehung reizt sie so sehr, daß sie nicht darüber nachdenken, wohin das Ganze führen könnte. Manchmal klappt es, manchmal wird es eine Katastrophe.
Der Mercurius-Narr ist oft sehr geistesabwesend. Das hat zum Teil damit zu tun, daß er vollkommen in der Gegenwart lebt und deshalb nichts aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Genausowenig macht er irgendwelche Pläne. Die Frau eines meiner Mercurius-Patienten erzählte mir, sie müsse immer die Route für die Wochenendausflüge planen, weil ihr Mann den Weg sonst jedesmal nur rate und sich dabei oft genug hoffnungslos verfahre. Er ist immer sehr selbstsicher und macht dann oft eine Bauchlandung. Genauso neigt der Mercurius-Narr dazu, ohne Schlüssel aus dem Haus zu gehen. Er denkt einfach nicht daran. Er mag zwar durchaus fähig sein, abstruse wissenschaftliche oder esoterische Informationen miteinander zu verknüpfen, aber er denkt nicht daran, seine Schlüssel mitzunehmen. Das ist ein Beispiel für die schwierige, unzuverlässige Art des Narren. Wenn er durch Nachlässigkeit eine ihm anvertraute Aufgabe nicht erledigt hat, fällt ihm bestimmt eine passende Ausrede ein; oder aber sein Kopf ist einfach leer, und er entschuldigt sich überhaupt nicht. Mercurius hat oft eine gewisse Zeit diese Leere im Kopf (wie immer bei Mercurius geht es dabei um alles oder nichts). Es ist andererseits gerade diese Leere, die es ihm ermöglicht, so objektiv zu sein und sich der inneren Weisheit zu öffnen. Doch sie kann ihn auch völlig dumpf machen, so daß er nichts mehr zu sagen hat. Der Direktor von Peter Sellers' Schule sagte über seinen früheren Schüler: »Sellers hinterließ nicht den geringsten Eindruck. Er verschmolz gewissermaßen mit dem Mobiliar. Er hatte wenig mit uns gemein.« Derselbe Sellers machte als Schauspieler einen enormen Eindruck, weil er das, was er war, nicht zu spielen brauchte. Mercurius kann närrisch wirken, weil er so hastig mit Worten umgeht (Kent: »Ein ausgesprochener Zug von Merkur ist Hastigkeit«), oder auch, weil er überhaupt nichts sagt. Peter Sellers spielte einen solchen ausdruckslosen Narren in dem Film Willkommen, Mr. Chance.
In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von Filmen über Narren gedreht worden, und in allen sind die Hauptrollen mit Schauspielern besetzt, die konstitutionell wahrscheinlich Mercurius sind. Außer den bereits genannten denke ich an The Jerk mit Steve Martin, National Lampoon's Vacation mit Chevy Chase, Rainman mit Dustin Hoffman, Forrest Gump mit Tom Hanks, Hudsucker – Der große Sprung mit Tim Robbins und Dumm und dümmer mit Jim Carrey; außerdem Bull Murray in verschiedenen Filmen. Alle diese Schauspieler haben bestimmte merkurische Züge. Sie wirken jugendlich, unschuldig, distanziert, »hell und strahlend«. Ihre Gesichtszüge und ihre körperliche Erscheinung stimmen ebenfalls sehr stark mit Mercurius überein. Diese Mercurius-Schauspieler wurden für die Rolle des humorvollen Idioten ausgewählt, weil sie von Natur aus fähig sind, die seltsame Kombination von geistiger Ausdruckslosigkeit und intelligenter Spontaneität darzustellen, die man so oft bei Mercurius findet.
Der Trickster
C. G. Jung benutzte den Ausdruck »Trickster« (Schelm, Gauner, listiger Narr), um den Aspekt des Unbewußten zu beschreiben, deruns ein Bein stellt. Er läßt uns über unsere eigenen Worte stolpern, Freudsche Fehlleistungen erbringen oder sogar Iügen, wenn wir eigentlich die Wahrheit sagen wollen. Der Trickster sucht und findet uns. Er verführt uns dazu, den falschen Weg zu wählen, etwas Falsches zu sagen oder uns das unpassendste Kleidungsstück zu kaufen. Er ist der Dämon, der Kobold, der kleine Wicht, der uns ständig seine Streiche spielt. Einige Mercurius-Menschen personifizieren den Trickster, der schließlich nur ein weiteres Alter ego von Merkur ist. In der griechischen Mythologie hat Hermes von Geburt an seine Streiche gespielt. Er wollte das Vieh seines Bruders Apollo stehlen, und so band er große Sandalen rückwärts an die Hufe der Tiere, damit, wenn er sie wegführte, ihre Spuren scheinbar in die andere Richtung wiesen. Als Apollo entdeckte, was geschehen war, geriet er in Wut und zerrte seinen Halbbruder vor ihren gemeinsamen Vater Zeus. Zeus ermahnte Hermes, aber er amüsierte sich so über den Einfallsreichtum seines Sohnes, daß er ihn gnädig davonkommen ließ. Der Mercurius-Trickster hat eine solche »Chuzpe«, daß er meist mit seinen Streichen davonkommt. Diese Streiche sind vielleicht nicht mehr als verspielte praktische Scherze, wie Peter Sellers sie so sehr liebte. So verschwand er beispielsweise mitten in einem Bühnenakt nach hinten, zog eine Feuerwehruniform an, kam wieder hervor und rief: »Feuer! Feuer!« Daraufhin war der Zuschauerraum anschließend fast leer. Bei einer anderen Gelegenheit bestand er darauf, daß ein kurzes Fernsehinterview immer wieder neu aufgenommen wurde, so daß man am Ende drei Stunden brauchte, um ein Fünf-Minuten-Interview zu filmen. Zufällig war das am 1. April.
Der Mercurius-Trickster kann auf selbstsüchtige, hinterlistige Weise gerissen sein. Er kann andere beeintlussen und manipulieren, um genau das zu bekommen, was er will. In seiner Anfangszeit gab Sellers bei jedem Reichen mit dem Nachnamen Sellers vor, er sei ein entfernter Verwandter. Er schrieb an die betreffenden Leute sogar Briefe, in denen er behauptete, ein seit langem vermißter Cousin zu sein, der nun um Unterstützung zum Aufbau seiner Karriere bat. Damit hatte er allerdings keinen Erfolg. Lewis schrieb über Sellers: »Er hatte keinen Sinn für Moral, keine Urteilsfähigkeit, und er wußte nie, wie er sich benehmen sollte, oder er probierte aus, was man ihm durchgehen ließ.« Diese Beschreibung ist der Schlüssel für die Interpretation des hinterlistigen Verhaltens von Mercurius. Er weiß nicht, wie er sich benehmen soll, einerseits weil er sich so von den anderen Menschen isoliert, andererseits, weil er sich schnell entscheiden muß, wie er am besten seine Spuren verwischt. Die vollkommen selbstsüchtige Art, mit der Mercurius seinen Willen durchsetzt, ist im allgemeinen eher aalglatt als aggressiv. Er schlängelt sich ständig durch und weicht aus, damit man ihn nicht zu fassen bekommt. Der Mercurius-Trickster hat meist große Angst davor, daß man ihn in die Ptlicht nimmt. Sellers sagte einmal: »Ich habe keine Freunde, ich bin argwöhnisch gegenjedermann.« Einen großen Teil seiner späteren Jahre verbrachte er im Dorchester-Hotel in London, nachdem er sich von seiner seit langem leidenden Familie getrennt hatte. Im Hotel brauchte er sich wenigstens nicht ordentlich zu benehmen; dort war er niemandem verptlichtet.
Nicht alle Mercurius-Typen sind so selbstsüchtig, wie Sellers es anscheinend war. Aber auch der eher »durchschnittliche« Mercurius kann bei Bedarf aalglatt sein. Er erfindet lieber Notlügen, ehe er zuläßt, daß ihm jemand auf die Schliche kommt, und er kann so geschickt mit Worten umgehen, daß er fast sogar selbst seine Lügen für die Wahrheit hält. Pamela Tyler sagt in ihrem Buch Merkur: »Der Lufttyp ist der subtilste von allen; Heuchelei verbirgt hier die Unaufrichtigkeit. Eine andere Taktik ist die seelische Einschüchterung, wobei die Schwierigkeit darin besteht, daß sie mit großer Finesse praktiziert wird. Diese Art, jemanden hinters Licht zu führen, ist die raffinierteste und gehässigste. Überzeugend jemandem das Wort im Mund zu verdrehen und pedantische Scheinbeweise zu führen, das sind die Grundlagen der intellektuellen Kniffe. Doppelzüngigkeit, zu welchem Zweck auch immer, ist das Werkzeug des Luftigen.« Sie bezieht sich hier auf den astrologischen Merkur und die Lufttypen im allgemeinen. Ihre Bemerkungen könnten sich jedoch genausogut auf die Mercurius-Konstitution beziehen. Als hochgradig mentaler Typ ist er tatsächlich einer der hauptsächlichen »Lufttypen« (vgl. Anhang). Mercurius kann sich so selbstsicher oder so nonchalant ausdrücken, daß eine Lüge wie die Wahrheit klingt. Genausogut kann er sich schweigend entziehen. Mit meinem Mercurius-Freund war ich mehrmals zum Mittagessen in einem Restaurant verabredet, und lange nachdem wir bestellt hatten, bemerkte er beiläufig, er habe kein Geld bei sich. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er mir nicht zurückzahlen würde, was ich für ihn auslegte.
Eins der besten populären Beispiele für den Mercurius-Trickster ist Jack Nicholson. Man muß nur in diese teuflischen Augen sehen, um zu wissen, daß er nichts Gutes im Sinn hat. Nicholson wirkt manchmal sympathisch, sowohl im wirklichen Leben als auch auf der Leinwand, aber die meiste Zeit ist er der subtile, selbstsüchtige Trickster, den wir so gerne lieben und hassen. Als kraftvoller, rätselhafter Mercurius hypnotisiert er sein Publikum und erfreut die Leute so mit seiner selbstsicheren Gerissenheit und seiner schamlosen Selbstliebe, daß sie ihm Erfolg wünschen. Er ist der charmanteste aller Übeltäter, und oft ist er halb gut und halb böse. (Wer könnte den Joker im dritten Batman-Film besser spielen als dieser Erztrickster?) Jack Palance ist ein anderes gutes Beispiel für diesen Typ. Sein starrer Blick ist zugleich finster und hypnotisierend, obwohl er sich in den letzten Jahren auch stärker selbst zum besten hält. Es gibt auch extremere Varianten des Mercurius-Tricksters, die fast ausschließlich Übeltäter sind. Ein gutes Beispiel unter den Schauspielern (dort findet man zahllose Beispiele für Mercurius, weil er hervorragend seine eigene brillante Flexibilität auf der Leinwand darstellen kann) ist Dennis Hopper. Hopper spielt die merkurischen Verrückten, die finster sind, weil sie scharfsinnig, böse und völlig unberechenbar sind. Sie sind distanziert wie Psychopathen. Ein anderes, gleichermaßen merkurisches Beispiel ist John Malkovitch. Er spielt vorzugsweise sehr clevere, intrigante Schurken, die ebenso zwielichtig wie herzlos sind. Die Augen von Malkovitch wirken genauso unheimlich distanziert, wie man es oft bei Mercurius sieht.
Der Charaker des Tricksters verschmilzt auf der einen Seite mit dem des Narren (der unschuldigen Seite) und auf der anderen Seite mit dem des Magiers. Letzterer verfügt über eine subtile und gründliche Kenntnis davon, wie das Unbewußte arbeitet, und er kann es beliebig manipulieren. Das ist ein seltener Mercurius-Typ, der sich esoterischen Praktiken verschrieben hat und im allgemeinen sehr machtbesessen ist. Ich vermute, daß der große Magier Aleister Crowley konstitutionell Mercurius war. Seine Liebe zum Ritual, sein tiefes und subtiles Verständnis esoterischer Zusammenhänge und seine amoralische Haltung passen insgesamt zu Mercurius.
Der Trickster kann sich in Mercurius auch noch anders verkörpern, und zwar in Gestalt von sprunghaften Gedanken und fixen Ideen. Der eher nervöse Mercurius neigt zu fixen Ideen, die negativ oder einfach nur unsinnig sein können. Das ist die dunkle Seite der mentalen Ausrichtung von Mercurius. Aus genau diesem Grund suchte mich einmal ein Mann von etwa 30 Jahren auf. Er war ein starker Mann, der sehr philosophisch dachte und sich zu esoterischem Gedankengut hingezogen fühlte. Seine Augen waren dunkel und glänzend und huschten nervös im Zimmer umher. Er sagte, er sei immer ein nervöser Typ gewesen, und wenn er gedanklich angespannt sei, wiederhole er ständig irgendwelche Zahlenreihen. Er war etwas medial veranlagt und konnte manchmal Auren um die Köpfe der Leute herum sehen. Er war groß, aber seine Haltung wirkte sehr zusammengesunken, so daß er seinen Hals strecken mußte, um aufrecht auszusehen. Sein scharfer Verstand, der ihm Streiche spielte, ließ mich an Mercurius denken, das ich ihm in einer 10M-Potenz gab. Nach wenigen Tagen hatten die sich ständig wiederholenden Gedanken fast aufgehört, und er blieb anschließend mehr oder weniger ruhig.
Ein anderer Mercurius-Patient sagte, sein Geist komme nie zur Ruhe, und wenn er müde sei, neige er zu negativem Denken. Er hatte festgestellt, daß er dagegen durch positives Denken angehen konnte, indem er bestimmte Aphorismen ständig wiederholte. Ich habe mehrere Mercurius-Patienten erlebt, die auf ähnliche Weise positives Denken einsetzten, um ihre fixen Ideen unter Kontrolle zu halten. Natrium muriaticum setzt positives Denken ein, um nicht traurig zu werden, während Mercurius es benutzt, um negative Gedanken oder fixe Ideen zu zerstreuen. Es überrascht nicht, daß Mercurius Aphorismen benutzt, um negative Gedanken zu bekämpfen. Es paßt zu einer Konstitution, die mit dem Medium des Wortes so vertraut ist und magisches Denken so genießt (siehe unten), daß sie in Gedanken auf Worte und Sätze zurückgreift, um die Kobolde der fixen Ideen zu bannen.
Distanziertheit und Entfremdung
Mercurius ist eins der reinsten Beispiele für den Lufttyp, der in erster Linie über den Verstand und weniger über seine Sinne und Emotionen lebt. Nur Lycopodium ist so »verkopft« wie Mercurius, aber er ist ein ganz anderer Typ. Anders als Lycopodium hat Mercurius einen ungeheuer formbaren und flexiblen Geist. Gleichwohl ist es das Luftelement, das beiden Typen ihre Distanziertheit verleiht. Mercurius ist sogar noch distanzierter als Lycopodium, denn er braucht keine Mühe auf den höchst persönlichen Kampf um Selbstvertrauen und Selbstrespekt zu verwenden, mit dem die meisten Lycopodium-Männer beschäftigt sind.
Die Distanziertheit von Mercurius hat etwas sehr Attraktives. Sie befähigt ihn, alle Seiten einer Sache zu sehen, und zwar ruhig und unberührt von persönlichen Emotionen, die normalerweise die Wahrnehmung und das Handeln beeinträchtigen. Das Ganze wird dadurch noch attraktiver, daß es von Momenten der Erregung und Inspiration oder von plötzlichem Gelächter unterbrochen wird. Mercurius ist ein solches Rätsel, hochgradig distanziert und gleichzeitig höchst spontan. Das ist schwer vorstellbar, und so können einige weitere merkurische Beispiele hilfreich sein. Der Komiker Steve Martin gehört hierher. Obwohl es so scheint, als könne er jedes Gefühl sofort ausdrücken, hat er eine unpersönliche, distanzierte Art. Ein anderes gutes Beispiel ist der undurchsichtige Schauspieler Kyle McLochlan, der im Fernsehen in der Kultserie Twin Peaks den philosophischen Detektiv spielt. Seine Rollen sind immer extrem kühl und kontrolliert, aber doch nicht kalt im Sinne von gefühllos. Das gilt für die meisten Mercurius-Menschen. Mercurius hat einen kühlen, distanzierten Ruhezustand ohne Gedanken und Gefühle, in den er sich gewöhnlich sehr leicht versetzen kann. Aus seinem neutralen Ruhezustand reagiert er spontan auf seine Umgebung, und zwar sowohl gefühlsmäßig als auch intellektuell beurteilend. Seine Emotionen sind in der Regel nur kurzlebig, aber sie können sehr intensiv sein. Das Mercurius-Pendel kann heftig in jede Richtung ausschlagen, aber es kehrt in den meisten Fällen auch schnell wieder in seine Ruheposition zurück. Es gibt jedoch auch Mercurius-Menschen, denen es sehr schwerfällt, dieses Gleichgewicht zu finden, und die ständig zwischen irgendwelchen Extremen hin und her pendeln. Im allgemeinen sind aber sogar sie intellektuell bewußter als die meisten anderen labilen Typen wie Ignatia und Phosphor, die mehr von Emotionen als von Gedanken beherrscht werden. Der labile Mercurius erlebt zwar einiges an Emotionen, aber er wird auch unablässig von Gedanken gequält, die er nicht abstellen kann.
Für viele Leute ist die Distanziertheit von Mercurius beunruhigend. Stellen Sie sich vor, in die Augen von Jack Nicholson zu sehen, und Sie werden wissen, was ich meine. Man hat den Eindruck, als würde man von einem gefühllosen, alles durchdringenden Verstand genau geprüft, und das ist oft auch der Fall. Ich habe gehört, wie jemand von »außerirdischen Augen« gesprochen hat, um den Blick meines Mercurius-Freundes zu beschreiben. Als ich ihn fragte, was er denn fühle, wenn er so leidenschaftslos in die Augeneines anderen sehe, sagte er: »Nichts. Ich fühle mich einfach innerlich sehr still.«
Die Distanziertheit von Mercurius drückt sich in seiner Liebe zu Computern und anderen intelligenten elektronischen Maschinen aus. Er scheint in diesen schnellen, unpersönlichen Geräten ein Spiegelbild seiner selbst zu finden, vor allem wenn sie Worte oder Bilder produzieren können oder sich schnell bewegen wie ferngesteuerte Flugzeuge. Ein gutes Beispiel für eine mercuriusartige Maschine ist Max Headroom, der halb computerhafte, halb menschliche Kommentator der Fernsehsendung The Max Headroom Show. Dies ist kein trockenes mechanisches Computergehirn wie Kalium carbonicum, sondern ein ziemlich schrulliger, schlauer und sehr respektloser Halbmensch, dessen manische, abgehackte Sprache an verschiedene Mercurius-Komiker erinnert, besonders an Robin Williams. Man mag ihn gerne, weil er die menschlichen Absurditäten so scharf beobachtet und weil sein Humor so clever ist. Sogar sein Name ist ein Wortspiel. Er ist faszinierend wegen seiner unheimlichen, computerartigen Unpersönlichkeit.
Das Medium des Films ist der große Favorit von Mercurius. Es erlaubt ihm, sich zurückzulehnen und den sich ständig verändernden Augenschmaus zu genießen, der durch seine Bedeutung noch interessanter wird. Mercurius hat einen rastlosen Geist, der ständig nach Anregungen verlangt, und oft ist er zu unruhig, um mit Genuß zu lesen. Science-fiction-Filme sieht er besonders gerne. Auch hier scheint er in der distanzierten Vision unbeschränkter Möglichkeiten, die in solchen Filmen dargestellt werden, das Spiegelbild seiner selbst zu erkennen. Ich habe festgestellt, daß Mercurius besonders von Außerirdischen fasziniert ist. Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, daß er sich selbst fremdartig fühlt. Wir neigen zu der Vorstellung, daß Außerirdische mental sehr weit entwickelt und emotional distanziert sind, und genauso fühlt sich Mercurius. Mercurius' Affinität zum weiten Raum (innerlich und äußerlich) spiegelt sich in den Rollen, die Mercurius-Schauspieler in Science-fiction-Filmen spielen. Christopher Walken ist eine sehr unheimliche merkurische Gestalt. Er war der Hauptdarsteller in der Verfilmung des Buchs Communion, das von den wiederholten Heimsuchungen des Autors durch Außerirdische handelt. Walken selbst hat etwas von einem Außerirdischen. Er hat eine unheimliche und intensive Präsenz, die so wirkt, als komme er von einem anderen Planeten. Ein anderes Beispiel ist der Kapitän der Enterprise in der neuen Folge der Raumschiffserie. Kapitän Jean-Luc Picard hat denselben kalten, stählernen, starren Blick wie Walken. Er ist als Kommandeur der Enterprise sehr kühl und kontrolliert und spricht nur selten über persönliche Gefühle, doch er hat weder die emotionale Schwere von Natrium muriaticum noch das Ego eines Nux-Kommandeurs. Obwohl er eine starke Führernatur ist, reagiert er flexibel und hört seiner Crew aufmerksam und freundlich zu.
Mercurius ist so distanziert, weil ihm das Erdelement fehlt. Er ist wie ein Geist, der keine Verbindung zur Erde oder zu seinem Körper hat. Das kann dazu führen, daß er seinen Körper ignoriert und mißbraucht und ist in vielen Fällen auch verantwortlich für seine geistige Labilität. Es ist das Erdelement, das uns bodenständig macht; wenn es fehlt, neigen wir zur Labilität. Ich habe Mercurius-Menschen gesehen, die nicht still stehen konnten, nicht etwa weil sie rastlos waren oder ein neurologischer Schaden vorlag, sondern weil ihre Muskeln nicht daran gewöhnt waren, erdhaft zu reagieren. Die Anstrengung, still zu stehen, war zu viel für sie. Die Erdferne von Mercurius führt in vielen Fällen auch dazu, daß er keine Lust hat, auf dem Land zu leben. Viele Mercurius-Menschen langweilen sich auf dem Land, oder sie haben dort Angst. Sie sind in der künstlichen, anregenden Atmosphäre der Stadt zu Hause und können sich in einer ländlichen Umgebung nicht entspannen. Im Zusammenhang damit hat Mercurius oft das Bedürfnis nach stark verarbeiteten oder verfälschten Nahrungsmitteln und fühlt sich nach einer einfachen, aber vollwertigen Mahlzeit unbefriedigt. Man kann sich eine ganze Rasse von »Merkurianern« vorstellen, die in Raumschiffen durch das Universum flitzen, synthetische Nahrung zu sich nehmen und mit fortgeschrittener Computertechnologie virtuelle Welten in ihr Raumschiff projizieren. Sie haben keine Kernfamilien, sondern paaren sich beliebig, und ihre Nachkommen werden auf dem Heimatplaneten, der an sich ziemlich öde ist, in anregenden virtuellen Parks erzogen.
Für Mercurius kann das Leben einsam sein. Nur wenige Leute sind fähig, eine Beziehung mit einem Mercurius-Menschen einzugehen, und auch er findet seinerseits nur zu wenigen Leuten Kontakt. Deshalb ist er oft ein Einzelgänger. Das gefällt ihm jedoch nicht, denn die Leere, die er innerlich oft empfindet, kann sich desolat anfühlen, und er sehnt sich deshalb vielleicht nach Gefährten. Ein Mercurius-Patient sagte, er habe den immer wiederkehrenden Alptraum, der letzte lebende Mensch in einer Landschaft zu sein, die von außerirdischen Raumschiffen zerstört worden sei. Von Zeit zu Zeit neigte er zu Gefühlen von Paranoia, die nicht psychotisch waren (wie bei Veratrum, Stramonium, Belladonna, Hyoscyamus), sondern eher eine Überreaktion auf Widersprüche, die er im sozialen oder beruflichen Bereich erlebte. Je mehr sich Mercurius als fremdartig empfindet, desto mehr neigt er dazu, sich in dieser Welt unsicher zu fühlen. Es ist die Angst des Fremden, der weiß, daß er anders ist. Vielleicht habe ich deshalb den Eindruck, daß die Mercurius-Konstitution stärker unter Juden verbreitet ist, die auf der ganzen Welt immer Minderheiten waren. Die Juden sind bekannt für ihren scharfen Verstand, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Zurückhaltung, die manchmal an Arroganz grenzen kann. All diese Züge sind charakteristisch für Mercurius.
Manchmal löst das Gefühl der Fremdartigkeit bei Mercurius Verzweiflung und Todessehnsüchte aus. Diese Tendenz findet man bei allen syphilitischen Typen, einschließlich Aurum und Syphilinum. Die junge Frau, deren Identität so brüchig war, daß sie leicht in Hunderte von Ichfragmenten zersplittern konnte, fühlte oft diese Art von Verzweiflung. Sie fügte die einzelnen Fragmente allmählich wieder zusammen, indem sie zwei sehr merkurische Techniken benutzte. Die eine war Schreiben. Indem sie Tagebuch führte, konnte sie durch Analysieren und Beschreiben ihre eigene Psyche als sinnvoll empfinden. Die andere Technik war das Ritual (siehe unten).
Der obige Fall machte mich mit einem faszinierenden Phänomen bekannt, das ich für ein besonderes Mercurius-Charakteristikum halte, das Phänomen der »Zwillingshaftigkeit«. Es gibt eine merkwürdige Beziehung zwischen dem Mercurius-Menschen und den Eigenschaften von Merkur und seinem astrologischen Zeichen, den Zwillingen. Es wird als Zwillingspaar dargestellt und soll eine »gespaltene Persönlichkeit« haben. Der Mercurius-Mensch hat häufig das Gefühl, daß ihm eine Hälfte fehlt. Dieses Gefühl wird oft von der Sehnsucht nach einem Zwillingsbruder oder einer Zwillingsschwester und einer Faszination für Zwillinge begleitet. Die Mercurius-Frau, die darum kämpfte, die Bruchstücke ihrer selbst wieder zusammenzusetzen, sprach häufig von ihrer Tendenz, andere Menschen als ihren Zwilling zu behandeln. Sie beschrieb sogar, wie sie sich von dem anderen in einem solchen Ausmaß vereinnahmt fühlte, daß sie nicht mehr wußte, wo sie aufhörte und der andere begann. Der »Zwilling« war einerseits eine Quelle des Trostes, weil er ein Gefühl der Ganzheit vermittelte und die fehlenden Teile ergänzte, aber er löste andererseits auch ein Gefühl von Angst und Machtlosigkeit aus, denn meine Patientin fühlte sich vollkommen abhängig, wenn sie ihrer Neigung nachgab, den Zwilling auf jemand anders zu projizieren. Diese junge Mercurius-Frau war tatsächlich überzeugt, daß sie in der Embryonalzeit einen Zwilling hatte, der vor der Geburt gestorben war, obwohl ihr das nie jemand erzählt hatte. Wenn sie sich erlaubte, darüber nachzudenken, empfand sie jedesmal starken Kummer. (Es ist eine Tatsache, daß in den meisten Fällen, in denen Zwillinge empfangen wurden, nur ein Kind geboren wird. Der andere Zwilling verschwindet irgendwie, meist in der ersten Zeit der Schwangerschaft. Insofern ist die Intuition meiner Patientin gar nicht so weit hergeholt.)
Verschiedene andere Mercurius-Menschen haben mir erzählt, daß sie das Verlangen haben, mit jemand anders, der ihnen so ähnlich ist, daß eine tiefe Einheit entstehen kann, vollkommen zu verschmelzen. In einigen Fällen hatten sie Beziehungen, denen auf einer gewissen Ebene die Erfüllung fehlte, auch wenn es sonst »gute« Beziehungen gewesen waren, weil der Partner nicht ähnlich genug war, um das Bedürfnis nach einem Zwilling zu erfüllen. In gewisser Weise kann man dieses Bedürfnis nach einem Zwilling als Ausdruck von Narzißmus ansehen. Dabei ist Mercurius nicht unbedingt in sich selbst verliebt. Das mag der Fall sein oder auch nicht, aber er braucht anscheinend eine Art Spiegelung seiner selbst, ganz gleich ob es sich dabei um einen anderen Menschen handelt, der ihm ähnlich ist, oder um einen wirklichen Spiegel. Verschiedene Mercurius-Patienten haben mir erzählt, daß sie es tröstlich finden, in den Spiegel zu sehen, oder das sogar für ihre psychologische Stabilität brauchen. Es ist so, als brauche Mercurius eine Art objektiver Bestätigung für seine Existenz. Das entspricht dem Grundthema des »Mediums«, des Boten der Götter, der keine feste eigene Identität hat.
In seiner Distanziertheit neigt Mercurius dazu, alles zu analysieren. Ständig steckt er Dinge, Ereignisse und Menschen in bestimmte Schubladen. Durch diesen Prozeß wird er zwar weise, aber er bleibt von anderen abgeschnitten. Selbst auf einer alltäglichen Ebene ist der Scharfsinn von Mercurius geeignet, ihn von anderen Menschen zu trennen. Meist empfindet er sich selbst als entweder über oder unter anderen Leuten stehend, und entsprechend verhält er sich. Infolgedessen kann er niemanden auf seiner eigenen Ebene treffen. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß ein Mensch, der flexibel genug ist, so viele unterschiedliche Seinszustände zu erleben, daß er sie bei anderen Menschen sofort erkennt, unfähig ist, mit diesen Menschen in Kontakt zu kommen. Statt dessen wirkt er als Spiegel. Wie Shakespeares Narr spiegelt er andere Menschen wider, aber er kann keine Beziehung zu ihnen entwickeln. Nur wenn seine Liebe wächst, kann Mercurius wieder Anschluß an die Menschheit finden, und einige bemühen sich erfolgreich darum.
Ritual und magisches Denken
Die Liebe zum Ritual ist ein höchst ungewöhnlicher Aspekt des Mercurius-Geistes. Ich habe sie verschiedentlich erlebt und als sehr charakteristisch empfunden. Das Ritual kann für Mercurius viele Formen annehmen. Es kann eine rituelle Zwangshandlung sein, wie man sie häufig in der Kindheit erlebt. Peter Sellers zum Beispiel mußte als Kind alles fünfmal tun. Er klopfte fünfmal an die Tür, rührte fünfmal im Tee und so weiter. Zahlen spielen bei den Ritualen von Mercurius oft eine Rolle (und ebenso bei seinen fixen Ideen). Auf einer bewußteren Ebene kann Mercurius versuchen, an Ritualen teilzunehmen. Der Mercurius-Dichter, der einmal vorübergehend von zwei fremden Wesenheiten besessen war, hat mir erzählt, er habe als Kind die fixe Idee gehabt, er nehme als Meßdiener am Ritual der Messe teil. Er fiel während des Rituals in einen tranceähnlichen Zustand, der nach Aussagen seiner Freundin mehr dämonisch als spirituell war. Sie kannte ihn von Kindheit an und war in dieselbe Kirche gegangen. Sie sagte mir, es sei etwas »Krankhaftes« daran gewesen, wie er während der Messe aussah. Sie habe das Gefühl gehabt, er sauge Energie aus dem Ritual, um sich selbst mit mehr Macht auszustatten. Ein anderer Mereurius-Patient sagte, er sei immer von Ritualen fasziniert gewesen, und als er die Chance bekam, nahm er an einem zeremoniellen magischen Wochenende teil. Er sagte, er habe sich bei den verschiedenen Ritualen an diesem Wochenende sehr heimisch gefühlt und auf seltsame Weise einen Machtzuwachs empfunden. Er setzte diese Aktivitäten später nicht fort, aber er hatte das Gefühl, sie seien für sein seelisches Wachstum wichtig gewesen.
Auch die junge Frau, die so gut auf Mercurius reagierte und darum kämpfte, wieder zu einem soliden Selbstgefühl zu finden, verließ sich stark auf das Ritual, um ihre zerstreuten Einzelteile wieder zusammenzufügen. Sie war sehr vertraut mit Symbolik und Mythologie, und sie benutzte dieses Wissen, um ihre Rituale zu strukturieren. Ein einfaches Ritual bestand für sie beispielsweise darin, Skulpturen aus Muscheln herzustellen, wenn sie sich in ihrem Leben einer neuen Situation gegenübersah. Die Skulptur repräsentierte die Bedeutung oder Essenz der Situation für sie. Sie sagte, es helfe ihr, »die Energie der Situation zusammenzuhalten«, und dann fühle sie sich weniger davon bedroht. Wenn sich ihre eigene Einstellung zur Situation veränderte, stellte sie die Skulptur an einen anderen Platz in ihrem Zimmer oder nahm sonst eine Veränderung daran vor. Diese Art von Ritual klingt für viele Leute verrückt, aber es hatte für die junge Frau eine lebenswichtige Funktion. Ihr eigenes Selbstgefühl hing stark von der Umgebung ab, was dazu führte, daß sie entweder Angst hatte oder sich verwirrt fühlte oder beides. Sie benutzte das rituelle Objekt als eine Art geistiges Gerüst, um sich über die Bedeutung der Situation klar zu werden (als ob sie sich mit einem möglichen Partner beraten würde), und auf diese Weise konnte sie verhindern, daß sie selbst völlig in der jeweiligen Situation aufging. Mercurius hat ein Bewußtsein, das sehr stark zerfließt. Wahrscheinlich stellen sowohl bewußte als auch automatische Rituale eine Möglichkeit dar, wie sich Mercurius eine Art psychischer Struktur bewahren kann.
In engem Zusammenhang mit der Vorliebe für Rituale steht Mercurius' Neigung zum magischen Denken. Naturvölker und Kinder haben eine Tendenz zum magischen Denken, wobei normalen oder zufälligen Ereignissen eine spezielle Bedeutung zugeschrieben wird. Die Astrologie ist eine Art von magischem Denken, die bei Mercurius-Menschen besonders beliebt ist. Mercurius kann die symbolische Bedeutung erkennen, die ein Vogel im Baum seines Gartens hat (und die im allgemeinen ihn selbst betrifft), oder die Bedeutung des Autokennzeichens seines neuen Freundes. Er neigt dazu, seine Träume symbolisch zu interpretieren oder bestimmten Farben und Namen eine spezifische Bedeutung zu geben. In diesem magischen Denken liegt oft ein großes Maß an Scharfsinn und Weisheit. Es handelt sich dabei nicht nur um eine psychotische Wahnidee, wie mehr pragmatische Geister vielleicht meinen. Dahinter steht vielmehr die Fähigkeit, die Verbindung zwischen inneren und äußeren Ereignissen zu erkennen.
Es ist interessant, daß Hermes der Vermittler zwischen der inneren Welt (dem Himmel oder dem Unbewußten) und der äußeren Welt war. Bezeichnend ist auch, daß Zeus ihn befähigte, Träume zu interpretieren. Das magische Denken von Mercurius drückt offenbar eine wirkliche Fähigkeit aus, die innere Bedeutung äußerer Ereignisse zu erkennen. Man kann die Sache aber auch zu weit treiben. Einige Mercurius-Menschen sind so besessen von den symbolischen Verknüpfungen zwischen Dingen und Ereignissen, daß es ihnen schwerfällt, vernünftig zu denken. Vielleicht ordnen sie ihren gesunden Menschenverstand ihrem Sinn für Symbolik unter, und das ist nicht immer sinnvoll. Einer meiner Mercurius-Patienten wollte beispielsweise keine Entscheidung treffen, ohne vorher das I Ging, das alte chinesische Buch der Weissagungen, befragt zu haben. Er war so darauf fixiert, die Zeichen zu deuten, daß er im Alltag nicht vernünftig handeln konnte. Im allgemeinen jedoch ist das magische Denken eine Bereicherung für Mercurius und bringt ihm mehr Weisheit als Wahn. Viele Mercurius-Menschen sind tatsächlich mit einem Leben gesegnet, das für sie persönlich sehr bedeutungsvoll ist, und sie haben ein starkes Gefühl für die Magie des Lebens selbst.
Größenwahn und Grausamkeit
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, warum Mercurius zu Größenwahn neigen kann. Zunächst ist da die Tendenz des Puer, stets seinen Kopf durchsetzen zu wollen. Wenn der Puer nicht bekommt, was er will, sorgt er für Chaos. Wenn der Diktator nicht bekommt, was er will, tötet er. Der Unterschied ist nur ein gradueller. Zweitens hat Mercurius diese merkwürdige Distanziertheit. Einige Mercurius-Menschen sind so distanziert, daß sie sich über die Gefühle der anderen keine Gedanken machen. Drittens spielt die Vorstellung, etwas ganz Besonderes zu sein, eine Rolle, ein aufgeblähtes Ego, das von echter geistiger Beweglichkeit und Scharfsinn begleitet wird. Dieses aufgeblähte Ego kann bei Mercurius von seinen intuitiven medialen Empfindungen gespeist werden. Das alles zusammengenommen ergibt eine Person, die sich für unbesiegbar hält. Magier, die durch das Ritual Macht erlangen wollen, können zu diesem Mercurius-Typ gehören, ebenso Diktatoren. Es ist interessant, daß verschiedene meiner Mercurius-Patienten von Diktatoren fasziniert waren. Der nervöse Mann, der mich wegen seiner zwanghaften »Zahlen im Gehirn« aufsuchte, hatte Deutsch gelernt, Er war fasziniert von den Nazis und sagte, er fühle sich medial von ihnen angezogen, obwohl er ein spirituell orientierter Mann war, der das Böse in ihnen durchaus erkannte. Aber irgend etwas bei ihren üblen Taten zog ihn an. Peter Sellers kleidete sich gerne in eine SS-Uniform und marschierte vor der Öffentlichkeit, um die Leute zum Lachen zu bringen (oder um ein Gefühl der persönlichen Macht zu erlangen?). Er hätte gerne die Rolle von Adolf Hitler gespielt, und er genoß es, in einem seiner Filme Napoleon darzustellen. Tatsächlich benahm sich Sellers während seines ganzen Lebens wie ein kleiner Diktator (Lewis: »Er war maßlos und launisch, wie es traditionell ein König ist«), Der von sich selbst überzeugtere Mercurius kann sehr gut Befehle erteilen. Der Idiot, den Steve Martin in dem Film The Jerk spielt, wird sehr reich und läßt das seine Begleiter spüren, ganz ähnlich wie Sellers es tat. Andere Mercurius-Menschen ertappen sich selbst bei diesem Verhalten und ändern sich, bevor es zu spät ist. Ich habe jedoch bei einigen meiner Mercurius-Patienten, die nicht wie unangenehme Charaktere wirkten, erlebt, daß sie von Macht und Grausamkeit gleichermaßen fasziniert waren. Es heißt, Napoleon sei konstitutionell Mercurius gewesen. Er war bekannt dafür, daß er die Angewohnheit hatte, seine Soldaten in die Nase zu kneifen, eine Geste, die irgendwie ihren Weg in die Arzneimittellehre von Mercurius fand. Aus den Beschreibungen derjenigen, die ihn kannten, wurde ein psychisches und physisches Profil des großen Generals zusammengestellt und repertorisiert. Daraus ergab sich Mercurius als führendes Arzneimittel.
Ein gutes zeitgenössisches Beispiel für einen Mercurius-Möchtegerndiktator ist Wladimir Schirinowsky, der russische Ultranationalist, der bei der ersten demokratischen Wahl in Rußland mit dem besten Wahlergebnis ins Parlament kam. Schirinowsky ist ebenso charmant und clever wie unberechenbar und gefährlich. Er verspricht alles und spielt mit den Schwächen der Menschen und ihrer Sehnsucht nach Ruhm und Selbstachtung. Er ist geistig recht gesund, aber trotzdem stößt er gelegentlich absurde Drohungen und Versprechen aus, wie beispielsweise, daß die russische Armee auf die Krim marschieren und das frühere russische Reichsgebiet zurückverlangen werde. Seine Vision eines russischen Staates vom Mittelmeer (!) bis zum Indischen Ozean erinnert an den Machttrieb, den Napoleon hatte. Obwohl er noch nicht einmal das Oberhaupt des russischen Staates ist, träumt er schon von einem sehr viel größeren Herrschaftsgebiet. Schirinowskys gelegentliche Drohungen, Japan »nuklear« anzugreifen, und seine unberechenbaren Auftritte in der Welt scheinen seiner Beliebtheit zu Hause keinen Abbruch zu tun. Mercurius kann theatralisch sein, und das ist sicher eine der größten Stärken, die Schirinowsky als Politiker hat.
Man kann sich die Frage stellen, warum Schirinowsky und Napoleon nicht zu einem anderen diktatorischen Typ wie Nux vomica, Veratrum oder Stramonium gehören. Der Grund ist, daß keiner von ihnen so vernünftig und geistig gesund ist wie Nux vomica, aber auch nicht verrückt genug, um Veratrum oder Stramonium zu sein. Ein anderer Diktator, der konstitutionell Mercurius sein könnte, ist Saddam Hussein. Er hat bei all seiner Brutalität etwas Jungenhaftes und Charmantes, und er ist wahrscheinlich nicht wahnsinnig genug, um einer der wirklich psychotischen Typen zu sein. Seine Angewohnheit, sich mit Leuten zu umgeben, die ihm ähnlich sind, ist bemerkenswert und erinnert an die Eitelkeit von Mercurius, aber auch an dessen Liebe zur Nachahmung und zur Einbildung. Weiterhin war sein Überfall auf Kuwait ziemlich dumm und impulsiv, fast so, als sei er ein ungehöriges Kind und nicht ein vernünftiger, praktisch denkender General. Saddams offenkundige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid, das er verursacht, entspricht ziemlich genau Mercurius, der jede seiner Handlungen geschickt zu rechtfertigen weiß und schnell vergißt, woran er sich lieber nicht erinnern möchte. (Lewis über Sellers: »Indem er sein Bewußtsein regelmäßig ausleerte, konnte Sellers solche menschlichen Schwächen wie Schuldgefühle loswerden.«)
Mein Mercurius-Freund (der eindeutig auf die Arznei reagierte) sagte einmal, er wäre gerne Präsident der Vereinigten Staaten, aber nur, wenn er dann wirklich die Macht hätte, Dinge zu verändern. Mercurius kann das langwierige Hin und Her demokratischer Institutionen nicht ertragen; es dauert ihm zu lange, bis dabei Veränderungen erreicht werden. Er ist mehr ein Freund von »Schnellschüssen«, bevorzugt die plötzliche dramatische Veränderung, die permanente Innovation. Mercurius wäre ein entsetzlicher Beamter. Seine Neigung zu Grausamkeiten hat damit zu tun, daß er menschliche Gefühle wie Liebe und Reue bewußt ausschalten kann. Mercurius kann seine Gefühle so geschickt auswählen, daß er fähig ist, beispielsweise Liebe, aber keine Reue zu empfinden. Er kann alles nach Gutdünken zulassen oder ausblenden. Es ist diese außerordentliche geistige und emotionale Plastizität, die Roger Lewis über Peter Sellers schreiben ließ: »Herzlos und sentimental, großzügig und knickrig, gewalttätig und leicht zu Tränen gerührt … Sellers hätte die Psychiater reihenweise verschlissen.« Sellers konnte alles sein, was er wollte, und das machte ihn zu einem Monster. Die Maskengestalt, die Jim Carrey spielt, ist auf unheimliche Weise halb menschlich und halb dämonisch. Ähnlich faszinierend ist die roboterhafte Fernsehpersönlichkeit Max Headroom, denn er präsentiert Scherze und vor allem subtile Wortspiele und schlaue Satire schneller und unterhaltsamer, als irgendein Mensch es könnte. Er sieht alles, einschließlich der Absurdität und der Heuchelei der Menschen, aber er fühlt nichts. Mercurius blickt aus seiner Luftblase in eine fremde Welt, eine Welt, von der er sich getrennt fühlt und die er zu manipulieren versucht, oft sehr erfolgreich. Ein zweijähriges Kind Iernt, seine materielle Umwelt zu manipulieren, und entwickelt sich dann weiter, indem es auf menschliche Weise lernt, mit anderen zu teilen, sie zu verstehen und zu lieben. Einige Mercurius-Menschen meistern dieses fortgeschrittene Stadium der sozialen Entwicklung nie, sondern versuchen statt dessen weiterhin, andere Menschen zu manipulieren, als seien sie leblose Objekte.
Körperliche Erscheinung
Mercurius-Menschen sind in ihrer Mehrzahl Männer, aber beide Geschlechter wirken relativ androgyn. Da sie stark intellektuelle Typen sind, ist ihr Gesicht eckig und wirkt in der Regel jugendlich. Die Augen blicken oft durchdringend, und die Augenbrauen sind meist kräftig und gerade. Ihr Haar ist gewöhnlich dunkel und glatt, kann aber jede beliebige Farbe haben. Häufig sind die Haare entweder dünn oder widerspenstig. Die meisten Mercurius-Menschen haben einen leichten Körperbau, aber einige werden fett, weil sie genußsüchtig sind.
Zusammenfassung
Es ist nicht leicht, die unterschiedlichen Mercurius-Typen auf einen Nenner zu bringen. Die einen sind leicht wie Phosphor, aber weit stärker distanziert, und sie haben einen schärferen Intellekt. Andere können so eindringlich sein wie Nux, haben aber nicht dessen Entschlossenheit. Wieder andere haben die Inspiration von Sulfur und sind genauso selbstsüchtig, aber weitaus flexibler, und manche können so rastlos sein wie Tuberculinum, aber noch anpassungsfähiger. Einige Mercurius-Menschen wirken kindlich und unschuldig wie Michael Jackson und Dudley Moore. Andere wirken oft distanziert und entrückt, ja sogar paranoid wie Peter Sellers. Einige wenige Mercurius-Menschen sind grausam und despotisch und können von Gewalt fasziniert sein. Meist ist Mercurius von sich selbst fasziniert und deshalb selbstsüchtig, obwohl er durchaus auch liebevoll und freundlich sein kann. Er ist ein labiler Charakter, dessen Stimmungen so schnell wechseln, wie er seine Meinung ändert, ein Mensch, der Veränderung braucht und Vorhersagbarkeit und Routine nicht erträgt. Die Fähigkeit von Mercurius, seine Umgebung widerzuspiegeln und sich ihr anzupassen (wie ein Chamäleon), ist einzigartig und beruht darauf, daß ihm die persönliche Identität weitgehend fehlt. Seine schnelle Wandlungsfähigkeit wird ergänzt durch seine Liebe zu Illusionen, zur Magie und zum Übernatürlichen. Mercurius kann so unpersönlich sein, daß er sich sehr einsam fühlt, und seine Unpersönlichkeit führt dazu, daß er das Stadtleben, die Anonymität und halbintelligente Maschinen liebt. Einige Mercurius-Menschen entwickeln genügend Reife, um relativ stabil zu sein, und bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit am größten, daß der Homöopath sie mit anderen Typen verwechselt. Eine Analyse ihrer Gewohnheiten, ihrer Begabungen und ihrer früheren Charakteristika sowie eine genauere Untersuchung ihrer Psyche wird zeigen, wie breitgefächert, fließend und innerlich »neutral« ihre Persönlichkeit ist.