Lycopodium

Grundzug: Unfähigkeit

Lycopodium ist ein »großes« Arzneimittel. Gemessen an der Häufigkeit, mit der es in der Bevölkerung der zivilisierten Nationen vorkommt, rangiert es an zweiter Stelle hinter Natrium muriaticum. Lycopodium ist prinzipiell ein männliches Konstitutionsmittel, und ungefähr ein Fünftel aller Männer in den Industrienationen gehört diesem Typ an.

Weil Lycopodium so häufig vorkommt, gibt es innerhalb dieses Typs ein weites Spektrum unterschiedlicher Persönlichkeiten. Der Homöopath muß lernen, sie alle zu erkennen, wenn er nicht die Mehrheit der Lycopodium-Typen verfehlen will. Einmal assistierte eine frisch ausgebildete Homöopathin in meiner Praxis. Nachdem sie den Fall eines neuen Patienten analysiert hatte, den wir gerade zusammen aufgenommen hatten, meinte sie, der Patient könne nicht Lycopodium sein, weil er sportlich und nicht sehr intellektuell war. Er paßte nicht in das Standardbild von Lycopodium mit seinem »wachen Intellekt, aber schwachen Muskeln«. Gleichwohl war der Patient ein ziemlich typischer Lycopodium-Mann, und er reagierte auch auf das Mittel.

»Unfähigkeit« ist ein sehr umfassender Begriff. Die große Mehrheit der Lycopodium-Menschen hat eine Art von innerer Unfähigkeit, obwohl sie so wirken, als hätten sie ein relativ starkes Selbstvertrauen oder sogar große innere Kräfte. Doch sie haben kein Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, und dieser Mangel an Selbstvertrauen kann gewöhnlich bis in die Kindheit zurückverfolgt werden.

Es gibt zwei weitverbreitete Szenarios für die häuslichen Verhältnisse eines Lycopodium-Kindes. Erstens gibt es die Situation, in der ein Elternteil, gewöhnlich der Vater, das Selbstvertrauen des Kindes untergräbt. Vielleicht erwartet er, daß das Kind sehr sportlich ist, und kritisiert mehr, als er lobt. Diese Art von Vater kommentiert gerne: »Als ich in deinem Alter war … «, und dann folgt wieder eine Beschreibung seiner großartigen Leistungen als Kind bei allem und jedem, von sportlichen Erfolgen bis zu Erfolgen bei Mädchen. Bei einer solchen Behandlung entwickelt das Kind natürlich sehr bald Versagensängste und fürchtet sich vor jeder Aufgabe, bei der erwartet wird, daß es sie gut bewältigt. Diese Angst schwächt seine Leistungsfähigkeit nur noch mehr, und dadurch wächst wiederum seine Versagensangst weiter. Später im Leben kämpft das Kind ständig darum zu beweisen, daß es gut genug ist. Eine sehr ähnliche Konstellation findet man bei vielen Natrium-Kindern. Letztere werden jedoch Perfektionisten, weil sie dauernd versuchen, ihre perfektionistischen Eltern zufriedenzustellen. Anders als das Lycopodium-Kind glauben solche Natrium-Kinder an ihre Fähigkeiten, weil sie im Fall des Erfolgs von ihren Natrium-Eltern meist eine positive Bestätigung bekommen. Das Natrium-Kind hat jedoch trotz seiner hervorragenden Leistungen das Gefühl, nicht gut genug zu sein, weil die Liebe seiner Eltern an Bedingungen geknüpft ist. Das Lycopodium-Kind fühlt sich dagegen als Versager, weil seine Leistungen nicht gut genug sind.

Das andere verbreitete Szenario besteht darin, daß der Elternteil, der dasselbe Geschlecht wie das Kind hat, ebenfalls Lycopodium ist und unter mangelndem Selbstvertrauen leidet, so daß das Kind diesen Mangel durch sein Beispiel ebenfalls entwickelt. Das Kind mag zwar bessere Chancen haben als seine Eltern, es wird vielleicht auch stärker ermutigt, und deshalb erreicht es im Leben auch mehr als seine Eltern. Trotzdem wird es die nagende Angst vor dem Versagen behalten, weil der kleine Junge während der persönlichkeitsbildenden Jahre die Angst seines Vaters sozusagen durch psychische Osmose absorbiert hat.

Ganz gleich wie die Situation in der Kindheit war, wird der Lycopodium-Mensch, dem es bei seiner Arbeit und in seiner Partnerschaft gutgeht, im Hintergrund meist die permanente Sorge haben, daß er geschäftlich Bankrott erleiden oder daß seine Ehe zerbrechen könnte. Auch hier gibt es wieder Ähnlichkeiten mit Natrium, der gerade dann, wenn alles im Leben glatt läuft, mit dem Schlimmsten rechnet. Der Unterschied zwischen beiden ist subtil, aber wichtig. Lycopodium erwartet insgeheim, daß er versagt, während Natrium erwartet, daß er unglücklich sein wird. Lycopodium ist glücklich (und erleichtert), solange er alles gut bewältigt, während Natrium trotz seiner offensichtlichen Erfolge im Inneren oft unglücklich ist, weil er sich als Kind trotz seiner guten Leistungen ungeliebt fühlte.

Wegen seiner Angst zu versagen leidet Lycopodium unter Erwartungsängsten. Vor einem wichtigen Gespräch wird er in großer Sorge sein, er könnte einen Fauxpas begehen (Kent: »Er hat Angst, daß er Fehler machen könnte«), und er wird seine Angst als Übelkeit und Unwohlsein im Magen spüren. Lycopodium bewältigt die Dinge gewöhnlich besser, als er selbst erwartet, denn sein Gefühl der Unzulänglichkeit hat nichts mit einem Mangel an Fähigkeiten oder Vorbereitung zu tun, sondern mit einer » Verlierer«Situation in der Kindheit. Mit der Zeit lernt er vielleicht, seine Erwartungsängste zu ignorieren, und stellt sich mehr und mehr auch den Herausforderungen öffentlicher Auftritte, etwas, was er ursprünglich am meisten gefürchtet hat.

Der Gefällige

Nichts stärkt das Selbstvertrauen mehr als Popularität. Das Lycopodium-Kind lernt von früh auf, sich einzuschmeicheln, um bei seinen Altersgenossen beliebt zu sein. Er wird die Phrasen und das Verhalten imitieren, um den anderen zu gefallen; er wird alle möglichen Forderungen erfüllen, sowohl bei den brutalen Typen als auch bei den anderen, die gerade lernen, wie man am besten seinen Willen durchsetzt; und er wird im allgemeinen versuchen, nett zu sein. Natrium-Kinder sind entsetzt, wenn ihre Freunde sie zurückweisen. Lycopodium ist entsetzt, wenn irgend jemand ihn nicht mag, selbst wenn es ein völlig Fremder ist. Er entwickelt eine gewisse Toleranz (Kent: »Milde«), weil er Angst vor Konfrontationen hat, und er gibt um des lieben Friedens willen eher nach. In extremen Fällen kann daraus ein kriecherischer Speichellecker werden, dessen verzweifelte Versuche, es den anderen recht zu machen, in einem direkten Verhältnis zu seiner Angst vor Strafe stehen. Und die Strafe, die er am meisten fürchtet, ist oft die soziale Zurückweisung.

In seinem Bemühen, beliebt zu bleiben, wird der Lycopodium-Mann sich selbst untreu, um seinen Freunden zu gefallen. Gewöhnlich hat er eher eine größere Zahl guter Bekannter als einige wenige enge Freunde wie Natrium. Es ist sehr charakteristisch für Lycopodium, daß ihm seine Freunde wichtiger sind als seine Familie. Obwohl es sich nicht um enge Freundschaften handelt, wird er alles tun, um in ihrer Gunst zu bleiben. Dabei vernachlässigt er oft seine Familie, weil er sich auf deren Loyalität ja schon verlassen kann. Ich kannte einmal einen Tennistrainer, der wie die meisten Lycopodium-Mensehen sehr leutselig war. Er war mit einer seit langem leidenden Natrium-Frau verheiratet, die ihn nur selten zu sehen bekam. Auf seinen Wunsch hin hatten sie sich von der Stadt, in der die Familie lebte, in eine kleine Kreisstadt zurückgezogen. Eines Tages sprachen wir darüber, welche Vorzüge das Stadt- bzw. Landleben hat, und seine Frau machte deutlich, daß sie sich so weit weg von der Familie unglücklich fühlte und nur auf sein Drängen fortgezogen war. Mein Lycopodium-Trainer antwortete, er könne überall glücklich sein, denn er sei gerne mit jedermann Freund und lasse sich mit niemandem zu nahe ein. Wann immer ihn jemand abends zu einer Runde Tennis einlud, nutzte er die Chance, mit anderen zusammenzusein (und zu tun, was er gut konnte – Tennis spielen), und ließ seine Frau als eine Art Tenniswitwe zurück. Schließlich konsultierte er mich wegen chronischer Verdauungsstörungen, die nach einigen Dosen Lycopodium 10M vollständig verschwanden.

Weil er gefallen möchte, ist Lycopodium im allgemeinen auch ein diplomatischer Mensch. Selbst wenn er den anderen nicht respektiert, verhält er sich gewöhnlich beschwichtigend und freundlich. Das ist ein Grund, warum Lycopodium so ein guter Verkäufer ist. Vor allem Autoverkäufer sind sehr oft Lycopodium. Dafür gibt es viele Gründe. Erstens sorgt die vermittelnde persönliche Art von Lycopodium dafür, daß sich die Leute wohl fühlen, und deshalb werden sie eher geneigt sein, viel Geld auszugeben. In den meisten Fällen ist Lycopodium auch gerne mit Menschen zusammen und genießt das Gespräch mit völlig Fremden. Selbst wenn er jemanden nicht mag, kann er das gut mit einer Mischung aus Nonchalance und Schmeichelei verbergen. Weiterhin ist Lycopodium ein großer Opportunist. Er neigt viel mehr als Natrium dazu, persönlichen Gewinn über die Moral zu stellen, und deshalb ist er nicht nur geeignet, Neuwagen mit drei Jahren Garantie zu verkaufen, sondern er ist auch der richtige Mann beim zwielichtigen Geschäft mit Gebrauchtwagen. Und schließlich machen die meisten Lycopodium-Typen gerne Eindruck, und das Auto ist ein wichtiges Symbol für Macht und Prestige. Selbst wenn es nicht sein eigenes ist, wird es den durchschnittlichen Lycopodium-Verkäufer mit einigem Stolz erfüllen, die Vorzüge eines schnittigen, PS-starken neuen Wagens aufzuzählen, und er wird sich in seiner Männlichkeit angegriffen fühlen, wenn der zukünftige Eigentümer entscheidet, daß ihm die Maschine doch nicht stark genug ist.

Gastgeber von Fernsehshows müssen ähnliche Eigenschaften wie Autoverkäufer haben, und so sind auch sie gewöhnlich Lycopodium. Im Unterschied zu der subtilen Freundlichkeit des Lycopodium-Diplomaten im Dienste seines Vaterlandes muß der Gastgeber bei einer Fernsehshow den Teilnehmern gegenüber oft so nett sein, daß einem schon vom Zusehen übel wird. Er betont seine Beliebtheit beim Publikum, indem er sich kumpelhaft freundlich gibt, ohne einem anderen wirklich nahezukommen. Diese lockere Kumpelhaftigkeit repräsentieren auf typische Weise einige der bekannten und beliebten Showmaster.

Obwohl Lycopodium anderen gefallen muß, um sich sicher zu fühlen, findet er oft anspruchsvollere Erklärungen für seine Freundlichkeit. Ich habe einmal an einer »Encounter-Gruppe« teilgenommen, wo man Iernt, die verborgenen Motive hinter den Handlungen eines Menschen zu erforschen, um sich selbst und andere besser zu verstehen. In diesem Kurs war ein Mann von ungefähr 50 Jahren, der trotz seines Alters jungenhaft gut aussah, mit langen Haaren und Blue Jeans. Er hatte gerade an einem anderen, mehr »spirituellen« Kurs teilgenommen, wo er gelernt hatte, daß man jeden Menschen lieben muß. Während unserer Veranstaltung hatte dieser Mann große Schwierigkeiten, die Aggressionen zu akzeptieren, die bei einigen Teilnehmern auftraten und auch ausgedrückt wurden. Wann immer es jemandem gelang, in Kontakt mit alten unterdrückten Gefühlen der Wut zu kommen und diese auszudrücken, versuchte unser Lycopodium-Friedensstifter mit ihnen auf einer rationalen Ebene zu diskutieren, indem er hervorhob, daß jeder, der sie verärgert hatte, doch nur nach Liebe gesucht habe. Verständlicherweise half dieses Verhalten den Teilnehmern nicht im geringsten, Zugang zu ihrer Wut zu bekommen, und unser Lycopodium-Freund wurde bald sehr unbeliebt. Doch er blieb unerschrocken bei dem, was er gelernt hatte, und verkündete der Gruppe: »Ich finde, wir sollten alle einander lieben.« An diesem Punkt wurde er jedoch von dem kollektiven Ruf »Blödsinn!« mundtot gemacht. Er lernte in diesem Kurs auf die harte Tour, daß seine Freundlichkeit nichts mit bedingungsloser Liebe zu tun hatte, sondern eher eine Bitte um Akzeptanz war.

Eine andere Gruppe von Leuten, die ihre Freundlichkeit und ihre Fähigkeiten, beredsam zu argumentieren, auf eine scheinbar lobenswerte Weise nutzen, sind die amerikanischen Fernsehprediger. Ich bin sicher, daß viele von ihnen Lycopodium sind, besonders diejenigen, die mehr Druck machen und ihren Schäfchen mit demselben Eifer Zuwendungen entlocken, mit dem ein Verkäufer seine Autos anpreist. Diese angeblich spirituellen Männer benutzen zynische emotionale Manipulationen, um Menschen mit Schuldgefühlen das Geld aus der Nase zu ziehen, das sie dann für Frauen und schnelle Autos ausgeben. Glücklicherweise haben die meisten Lycopodium-Charmeure mehr Moral und weniger Macht als diese Fernsehevangelisten. (Einige wenige Fernsehprediger sind wahrscheinlich Natrium oder Sulfur.)

Prahlerei

Prahlerei findet man bei Lycopodium öfter als bei irgendeinem anderen Typ. Es ist der Versuch, die Angst zu verbergen, indem man so handelt, als sei man voller Selbstvertrauen. Obwohl die grundlegende Essenz von Lycopodium Unfähigkeit ist, stellt die Aufgeblasenheit ein starkes sekundäres Element dar. Auf der körperlichen Ebene wird das sichtbar an dem von Gasen aufgetriebenen Bauch, aber auch an erweiterten Venen und Hämorrhoiden. Dies sind Beispiele der körperlichen Aufblähung, die als Folge von Schwäche (der Verdauung oder der Gefäßwände) auftritt. Auf der psychischen Ebene gilt für die Prahlerei ähnliches: Sie ist ein Fall von Aufgeblasenheit ohne jede Substanz, die als Folge eines Gefühls der Schwäche erscheint.

Nicht alle Lycopodium-Typen erliegen der Versuchung zu prahlen. Der Einfachheit halber können wir Lycopodium in drei Untertypen aufteilen, die wir als den »Schwächling«, den »Prahlhans« oder Angeber und den durchschnittlichen Lycopodium-Typ bezeichnen. Letzterer macht nach meiner Erfahrung etwa die Hälfte aus, die beiden ersten jeweils ein Viertel. Der »Schwächling« (wie ich ihn etwas unfreundlich der Deutlichkeit halber nenne) flüchtet sich nicht in Prahlerei. Seine Nervosität tritt offen zutage und kann bisweilen recht lähmend sein. Er ist der 50-Kilo-Angsthase, dem man Sand ins Gesicht wirft, der Feigling, der beim ersten Schuß vom Schlachtfeld rennt, der Tölpel, der beim Vorstellungsgespräch so nervös ist, daß er seinen Kaffee voll über den Tisch seines zukünftigen Chefs schüttet. Er hat nicht gelernt, seine Angst hinter den subtilen Abwehrmechanismen des durchschnittlichen Lycopodium zu verbergen oder die gröberen Methoden des »Prahlhans« anzuwenden. Diese »Schwächlinge« zeigen all die offensichtlicheren Anzeichen der Nervosität, die in den älteren Arzneimittellehren beschrieben werden (Kent: »fürchtet sich vor neuen Bekanntschaften«, »fürchtet sich, irgend etwas zu unternehrnen«, »fürchtet sich vor Lappalien«). Sie haben oft Schwierigkeiten, sich auszudrücken, verwechseln Worte oder stottern. Sie sind diejenigen, die am stärksten versuchen, anderen zu gefallen, und sie reagieren auf Widerspruch eher mit Furcht als mit Ärger. Die tragikomischen Charaktere, die Jerry Lewis und Norman Wisdom gespielt haben, sind gute Karikaturen dieses Typs.

Im direkten Gegensatz zum »Schwächling« kompensiert der »Prahlhans« sein Gefühl der Unfähigkeit, indem er seine männliche Kraft übertrieben betont. Das kann auf verschiedene Art geschehen. Die einen blasen sich körperlich auf, indem sie Bodybuilding und Kampfsportarten betreiben, so daß sie den Schwächlingen Sand ins Gesicht werfen können (oder zumindest so aussehen, als würden sie es können). Viele begeisterte Anhänger von körperlichem Fitneßtraining sind Lycopodium, aber diejenigen, die es übertreiben, sind oft die Angeber, die Wert darauf legen, daß andere sehen, wie stark sie sind. Der körperliche Prahlhans ist meist auch sehr stolz auf seine sexuellen Leistungen, zumindest nach außen. Er wird mit seinen Kumpels in dieser Beziehung konkurrieren wollen, sich bei einem Bier mit seinen sexuellen Eroberungen brüsten und hübschen Frauen anzügliche Blicke zuwerfen. Da er das Männliche überbewertet, unterbewertet er das Weibliche, und deshalb ist der Prahlhans ein sehr chauvinistischer Mann. Er denkt gerne, daß Frauen nur da sind, um ihn zu versorgen oder mit ihm zu schlafen, und daß er der Boß ist. Überflüssig zu sagen, daß Frauen, die mit einem solchen Angeber verheiratet sind, insbesondere mit einem körperlichen Prahlhans, ein hartes Leben haben.

Der Prahlhans dominiert gern über andere (Kent: »diktatorisch«). Körperliche Angeber tun das durch körperliche Bedrohung. Wenn er heimkommt und das Essen ist noch nicht auf dem Tisch, schreit er seine Frau wahrscheinlich an oder tut noch Schlimmeres. Weil sie Feiglinge sind, neigen die körperlichen Angeber dazu, Frauen zu schikanieren und Männer zu fürchten, und sie versuchen, die stärkeren zu beeindrucken. Sie tragen Kleidung, die ihre ausgeprägten Muskeln betont, fahren PS-starke Autos und geben eine Menge Geld für Alkohol aus. Wenn sie auf einen selbstbewußten Intellektuellen treffen, werden sie am stärksten in die Defensive gedrängt, weil sie damit nicht konkurrieren können. Folglich neigt der körperliche Prahlhans dazu, selbst den schwächlichsten Akademiker mit Respekt zu behandeln.

Brutale Männer sind konstitutionell meist entweder Natrium muriaticum oder Lycopodium, weil der Brutalo innerlich ein tiefes Gefühl von Unzulänglichkeit hat. Wie der Natrium-Brutalo legt auch der brutale Lycopodium großen Wert darauf, daß man ihn mag, und er wird sich selbst verleugnen, um nett zu denen zu sein, die zu ihm stehen.

Intellektuelle Prahlerei (auch als »Aufschneiderei« bezeichnet) ist der prinzipielle Abwehrmechanismus des intellektuellen Angebers. Letzterer ist nicht zwangsläufig besonders intelligent oder intellektuell, hält sich aber dafür und vermag auch einige Leute zu beeindrucken, die weniger intellektuell sind als er. Ein gutes Beispiel für diesen Typus ist Colonel Manwaring in der britischen Fernsehkomödie Dad's Army. Der Colonel macht das Beste aus seiner unbedeutenden Stellung und benutzt sie als Plattform, um das große Wort zu schwingen und dabei diejenigen herunterzumachen, deren Unwissenheit er bloßstellen kann. Wie alle intellektuellen Angeber bedient er sich einer pompösen, blumigen Sprache, die extrem umständlich ist. Viele lange Worte sind ihm lieber als wenige kurze, obwohl letztere wesentlich besser geeignet wären, seine Botschaft rüberzubringen. Das Resultat besteht darin, daß die meisten intellektuellen Angeber furchtbar langweilig sind. Sie präsentieren ihre Perlen der Weisheit (dafür halten sie sie jedenfalls) entweder mit der Intensität eines Predigers, die ihren Worten große Bedeutung verleihen soll, oder auf eine blumige Art, als ob sie sagen wollten: »Ha! Seht nur, wie schlau ich bin!« (Diese letzte Art erinnert mich an Yul Brunners Filmversion des Königs von Siam in Der König und ich.)

Der intellektuelle Prahlhans ist im allgemeinen überzeugt, daß er fast immer recht hat, und duldet keinen Widerspruch (Kent: »erträgt keinen Widerspruch«). Er lernt ein wenig von allem und hält sich dann für einen Experten in jedem Bereich. Folglich erlebt man oft, daß er sich in Gespräche einschaltet, um Aussagen zu korrigieren, die er für falsch hält. Manchmal tut er das sogar bei völlig Fremden (Kent: »neigt zum Widerspruch«). Diese Tendenz, sein Wissen zur Schau zu stellen, erinnert an Sulfur, der seine Zuhörer auch bis zum Gähnen langweilen kann und immer glaubt, daß er recht hat. Grundsätzlich könnte man sagen, daß Sulfur vor allem sein eigenes Wissen schätzt, während es ihm nur sekundär darauf ankommt, sein Wissen mit anderen zu teilen. Deshalb ist Sulfur gewöhnlich gut über seine Lieblingsthemen informiert und läßt sich seltener dazu herab, seine Kenntnisse mitzuteilen, als der intellektuelle Lycopodium-Angeber, dessen Hauptinteresse nicht dem Inhalt seiner Aussagen gilt, sondern der Bewunderung, die er damit ernten kann.

Dem intellektuellen Prahlhans geht es zum Teil auch darum, mit großem Aufwand sein Versagen zu rechtfertigen oder die Aufmerksamkeit davon abzulenken. So habe ich beispielsweise einen jungen Mann kennengelernt, der viele Jahre nicht gearbeitet hatte und seine Rechnungen von Vater Staat bezahlen ließ. Er sagte, er habe ein Attest von einem befreundeten Arzt (der intellektuelle Prahlhans ist immer mit seinem Arzt persönlich befreundet), daß er aufgrund von »nervöser Spannung« nicht arbeiten könne. Nun war er zwar tatsächlich ein wenig nervös, aber er schien durchaus fähig zu arbeiten und gab das auch zu. Er rechtfertigte seine Arbeitsscheu jedoch mit dem Hinweis, die therapeutische Tätigkeit, mit der er beschäftigt sei, erfordere seine ganze Zeit. Er hatte an vielen Kursen über alternative Medizin teilgenornmen, und seine Wände waren mit den entsprechenden Zertifikaten gespickt. Sie lauteten auf den Namen »Jonathan Erdgeist«, den er angenommen und eintragen lassen hatte. In seiner Wohnung veranstaltete er örtliche Meditationstreffen. An einer solchen Veranstaltung habe ich teilgenommen. Wir waren nur eine Gruppe von vier Leuten, doch unbeeindruckt davon erklärte er in einer Pseudotrance, er sei berufen, ein Zentrum der Heilung für seine Gemeinde zu bilden. Später suchte er mich auf, um seine nervösen Verdauungsstörungen behandeln zu lassen. Ich gab ihm Lycopodium 10M, und er verfiel danach in eine kurze, aber tiefe Depression. Anschließend beendete er seine Meditationstreffen, nahm seinen richtigen Namen wieder an und fand einen richtigen Job. Das Simillimum ist (zumindest manchmal) so mächtig, daß es das Falsche einfach ausradiert.

Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, noch an einem weiteren Beispiel zu zeigen, wie die Arznei falschen Stolz ausmerzen kann. Der vorher schon erwähnte Lycopodium-Mann mittleren Alters, der gelernt hatte, daß man jeden Menschen lieben müsse, war sehr stolz auf seine jugendliche Erscheinung. Wenn man mit ihm sprach, lächelte er sofort gewinnend mit strahlend weißen Zähnen. Er war ein Schürzenjäger und ehemaliger Handelsreisender und hatte seinen jungenhaften Charme auf beiden Gebieten gewinnbringend eingesetzt. Auch er hatte jedoch jahrelang nicht gearbeitet und sich darauf verlassen, daß die bei ihm diagnostizierte Epilepsie ihm eine Rente sicherte. (Obwohl er nicht mehr als einen Anfall pro Jahr hatte.) Ich behandelte ihn schließlich wegen dieser Epilepsie mit Lycopodium 10M. Einen Tag nachdem er die Arznei eingenommen hatte, war sein falscher Schneidezahn ausgefallen und hatte eine unansehnliche Lücke hinterlassen, die er verzweifelt zu füllen versuchte, indem er den Zahn mit einem Superkleber wieder einklebte. Es scheint so, als habe die Arznei seinen Körper veranlaßt, nicht nur die psychische, sondern auch die physische Künstlichkeit abzustoßen. Nachdem er die Arznei eingenommen und seine Medikamente gegen Epilepsie abgesetzt hatte, bekam er noch einen Grand-mal-Anfall, dem zunächst eine Phase der Depression und dann eine grundlegende Neubewertung seines Lebens folgte. Wie Jonathan Erdgeist entschloß er sich ebenfalls, wieder zu arbeiten, und schrieb sich mit seinen über 50 Jahren für ein Studienprogramm ein. Einige Monate nach der Behandlung hatte er keinen Anfall mehr gehabt und alle Medikamente abgesetzt.

Der durchschnittliche Lycopodium-Typ

Die meisten Lycopodium-Typen sind weder Schwächlinge noch Angeber. Sie haben ein bißchen von beidem an sich, aber auch ein gewisses Maß an ursprünglichem Selbstvertrauen und der Fähigkeit, zumindest gelegentlich ohne jede Abwehrhaltung auf andere einzugehen. Die meisten Lycopodium-Typen geben beim Homöopathen auch zu, daß sie sich oft Sorgen machen, besonders über ihre Arbeit und auch darüber, ob sie bei anderen beliebt sind. Sie neigen auch dazu, ihre Schwächen herunterzuspielen oder zu leugnen. Insofern halten sie sich manchmal für stärker, als sie sind. Oft hat nur die Ehefrau von Lycopodium eine Ahnung, welche Sorgen ihrem Mann im Kopf herumgehen. Er mag ein prominenter Geschäftsmann sein oder ein anerkannter Dozent, der gewöhnlich ruhig und selbstsicher wirkt, aber innerlich macht er sich Sorgen darüber, daß etwas falsch laufen könnte. Da er etwas von der Art des Angebers in sich hat, brüstet er sich gerne gelegentlich auf subtile Weise. Beispielsweise kauft er vielleicht ein protziges neues Auto und erwähnt das eine Zeitlang im Gespräch. Oder er benutzt für seine private Korrespondenz Briefköpfe, die seine beruflichen Qualifikationen nennen. (Er redet sich selbst ein, daß er Geld spart, wenn er sein geschäftliches Briefpapier auch zu Hause benutzt, aber anders als der Prahlhans weiß er, daß mehr dahintersteckt, und gönnt sich trotzdem diesen kleinen Luxus.)

Der durchschnittliche Lycopodium ist sehr unbeschwert. Er ist ein sehr »vernünftiger« Mensch, der nicht zu besonderen Stimmungsschwankungen neigt, weder himmelhoch jauchzend noch zu Tode betrübt. Wie der intellektuelle Prahlhans neigt er zu Rationalisierungen, die aber nicht so defensiv sind. Lycopodium ist ein mentaler Typ in dem Sinne, daß er mehr in seinem Kopf als in seinen Gefühlen lebt. Er verläßt sich gewöhnlich auf seinen rationalen Verstand, um seine Welt sinnvoll zu interpretieren, und er respektiert diejenigen, die sich logisch ausdrücken. Er kann ein bißchen chauvinistisch sein und seine Freundinnen wegen ihrer unlogischen Emotionalität mit freundlicher Herablassung behandeln. Auf der anderen Seite mag der durchschnittliche Lycopodium-Mann im allgemeinen Frauen und kommt gut mit ihnen aus. Lycopodium ist oft eine Art Charmeur und hat eine Schwäche für hübsche Frauen. Er läßt sich gerne bemuttern, und Frauen, denen das liegt, scharen sich um ihn und flirten mit ihm, ganz gleich ob es sich um seine Schwiegermutter oder seine Tochter handelt. Weil er sanft und jungenhaft ist, wirkt er harmlos, und das macht ihn beliebt bei Frauen, die niemals mit tiefgründigeren oder stärkeren Typen flirten würden.

Distanziertheit

Emotional wird der durchschnittliche Lycopodium-Mann nie richtig erwachsen. In seinen Beziehungen ist er entweder angenehm, aber reserviert oder abhängig. In einer engen Beziehung ist er meist auf der Suche nach einer Mutterfigur, denn er will bedingungslos geliebt werden, ohne dabei selbst allzuviel zurückgeben zu müssen. Die meisten Lycopodium-Männer hatten als Kinder eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter, und das mag sie daran hindern, sich später eng an andere Frauen zu binden. Sie haben ihre Mütter geliebt, deren Liebe aber auch für selbstverständlich gehalten, und ihre Liebe war eher freundlich als leidenschaftlich. Dieses Muster wiederholen sie oft als Erwachsene in ihren Beziehungen zu Frauen, die sie mehr als Mütter denn als Geliebte behandeln.

Manche Lycopodium-Männer würden lieber mit den Jungen (oder Mädchen) spielen, statt mit ihrer Partnerin intim (im Gegensatz zu sexuell) zu sein, weil sie sich bei wirklicher Intimität unwohl fühlen. Wirkliche Intimität erfordert ein gewisses Maß an Verantwortlichkeit, und Lycopodium drängt sich nicht nach Verantwortlichkeit, jedenfalls nicht, wenn sie mit emotionalen Verpflichtungen verbunden ist. In den älteren Arzneimittellehren erscheint das als Tendenz, Frau und Kinder plötzlich und ohne Gewissensbisse zu verlassen. Während viele Lycopodium-Männer hingebungsvolle Ehemänner und Väter sind, gibt es auch viele andere, die die Verbindlichkeit einer Ehe scheuen, außereheliche Affären suchen oder ihre Familie verlassen, wenn eine hübsche junge Frau in ihrem Leben auftaucht. Lycopodium ist kein tiefgründiger emotionaler Typ, sondern eher ein emotionales »Leichtgewicht«, der die Nähe zu einer Partnerin ohne große Leidenschaft oder Intimität sucht. In der Ehe ist Lycopodium gerne ein guter Freund seiner Frau, mit der er gemeinsame Interessen teilt und der er bei der Hausarbeit und den Kindern hilft, aber im Grunde bleiben die Partner getrennt. Diese Art von Distanz versetzt viele Frauen in Wut, wirkt auf andere jedoch beruhigend.

Die obige Beschreibung mag den Eindruck erwecken, als sei Lycopodium ein kalter Typ, aber das ist gewöhnlich nicht der Fall. Der durchschnittliche Lycopodium ist wärmer als der durchschnittliche Natrium-Mann (das heißt, er zeigt seine Zuneigung mehr), und er genießt es durchaus, zu kuscheln und zu küssen. Er hat keine Schwierigkeiten »Ich liebe dich« zu sagen, und er meint, was er sagt. Es ist nur so, daß seine Liebe mehr freundliche Zuneigung als Leidenschaft ist. Er ist ein sanfter, unbeschwerter Mensch, der gerne hilft, wenn er darum gebeten wird, aber nicht scharf darauf ist, sich selbst zu binden, und der nur selten sehr tiefe Gefühle hat. Solche Männer können bei ihren Partnerinnen heftige emotionale Ausbrüche hervorrufen, und die Frauen würden alles tun, damit der Mann mehr Gefühle zeigt, weil sie das mit Liebe gleichsetzen.

Eine andere traditionelle Rubrik, unter der Lycopodium im Repertorium steht, ist seine Vorliebe für die Leute im Nebenzimmer. Das trifft oft buchstäblich zu. Wenn Lycopodium allein zu Hause ist, fühlt er sich einsam, gerät aber andererseits auch unter Druck, wenn er sein Leben zu intim mit jemandem teilen soll. Die »Vorliebe für die Leute im Nebenzimmer« ist eine gute Metapher für sein gesamtes emotionales Leben. Er braucht die Unterstützung anderer Menschen, aber er braucht auch seinen Freiraum. Das mag eine Folge davon sein, daß er eine überfürsorgliche Mutter hatte, wodurch er sich weiterhin abhängig fühlt, aber gleichzeitig auch oft unterdrückt.

Während die distanzierte Haltung von Lycopodium in engen Beziehungen zu Schwierigkeiten führen kann, ist sie bei der Arbeit von Vorteil. Die meisten Jobs verlangen einen logischen, distanzierten Verstand, und das gilt ganz besonders für wissenschaftliche Aufgaben. Wie Kalium können auch Lycopodium-Typen sehr gute Wissenschaftler sein. Beide lieben die Logik und können Regeln und Vorschriften folgen. Der Besuch der Fakultäten für Natur- oder Ingenieurwissenschaften an einer beliebigen Universität wird zeigen, daß die Studenten mehrheitlich Lycopodium sind (weil dieser Typ viel verbreiteter ist als andere hochrationale Typen wie Kalium oder Sulfur). Diese Studenten haben viele gemeinsame Charakteristika. So paßt auf die meisten beispielsweise die traditionelle Lycopodium-Beschreibung »intellektuell wach, aber von schwacher Muskelkraft« mit einem ziemlich mageren, knochigen Körper und einer Tendenz, die Augenbrauen zu runzeln, entweder aus Sorge oder als Ausdruck intellektueller Konzentration. Ihre Hobbys sind oft praktische Tätigkeiten, die wenig körperliche Anstrengung verlangen, wie beispielsweise Modellbau oder der Nachbau von Motoren. Im Sozialverhalten neigen sie eher zu Konformismus als zu Individualismus, was damit zu tun hat, daß sie gerne dazugehören und beliebt sein möchten. Das spiegelt sich oft auch in der Kleidung von Lycopodium, die zugleich modisch und konventionell ist, Ingenieurstudenten sind besonders bekannt dafür, daß sie gemeinsam große Mengen Alkohol trinken, und meine bescheidenen Erfahrungen mit ihnen bestätigen das, Diese Gruppenkameraderie ist sehr charakteristisch für Lycopodium, und sie wird erleichtert durch Alkohol, der Charaktere auflockert, die sonst durch ihre rationale Natur gehemmt sein würden.

Der durchschnittliche Lycopodium-Mann ist sowohl vorsichtig als auch ehrgeizig, wenn es um materielle Vorteile geht. Als Folge davon arbeitet er sich beruflich oft von unten hoch. Weil er angepaßt und gefällig ist, paßt er in große Konzerne, wo er ständig auf der Karriereleiter weiter nach oben steigt, bis er die Position erreicht hat, die seinen Vorstellungen entspricht. Obwohl er kein natürlicher Anführer wie Nux oder Sulfur ist, kann Lycopodium oft allmählich die Fähigkeiten und das Selbstvertrauen erwerben, das man braucht, um Autorität über eine große Zahl von Menschen auszuüben. Indem er sich ständiger Förderung versichert, kann er seine Position innerhalb des Konzerns allmählich ausbauen, ohne daß seine Versagensängste übermäßig aktiviert werden. Der durchschnittliche Lycopodium ist ein angenehmer Chef, der vernünftig und verständnisvoll ist und bis zu einem gewissen Grad ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Mitarbeitern genießt. Natrium-Chefs sind oft ganz ähnlich. Es ist die eigene Verletzlichkeit, die diese beiden am weitesten verbreiteten Konstitutionstypen menschlich und ansprechbar macht, wenn sie eine Position mit Autorität innehaben. (Nux und Arsenicum sind härter, während Sulfur nicht aus Verletzlichkeit, sondern wegen seiner Geistesgröße großzügig ist.)

Die Distanziertheit von Lycopodium ist zum Teil das Ergebnis seiner rationalen, nichtemotionalen Natur, zum Teil ist sie aber auch aufgesetzt, um seine Unsicherheit zu verbergen. Einige Lycopodium-Männer sind sehr geradeaus, nur wenig eitel und ohne das Bedürfnis zu beeindrucken. Andere legen sich ein »cooles« Image zu, das der kühlen Maske gleicht, die so viele Natrium-Männer aufsetzen, die unter allen Umständen den Eindruck von Ruhe und Gelassenheit vermitteln wollen. Diese kühlen Lycopodium-Typen erinnern im Sprechzimmer an Natrium oder sogar an Nux, aber in persönlichen Beziehungen wird ihre Sanftheit und Verletzlichkeit oft deutlicher. Selbst der kühlste Lycopodium-Typ läßt sich von seiner Partnerin meist gerne bemuttern und spricht mit ihr offener über seine Sorgen als ein durchschnittlicher Natrium-Mann. Der kühle Lycopodium läßt sich vielfach leichter identifizieren, wenn man mit seiner Partnerin spricht, es sei denn, er ist ein »Prahlhans«. In diesem Fall sind seine Versuche, nonchalant zu wirken, so offensichtlich, daß sie überall den Lycopodium-Stempel tragen.

Der Opportunist

Als Opportunist muß man sowohl emotional distanziert als auch flexibel sein. So stellen die stärker emotionalen Typen wie Natrium und Sepia emotionale Loyalitäten über den eigenen Vorteil, und die distanzierten, aber rigiden Typen wie Kalium und Arsenicum neigen dazu, ihre Sicherheit und ihre Prinzipien höher zu bewerten als Opportunismus. Zu den distanzierten, flexiblen Typen gehören Phosphor, Lycopodium, Argentum, Meadorrhinum, Nux, Staphisagria und Tuberculinum, die alle zu Opportunismus neigen. Nach meiner Erfahrung sind Lycopodium und Tuberculinum die opportunistischsten von allen.

Tuberculinum ist opportunistisch, weil sein Freiheitsbedürfnis so groß ist und weil er jede Gelegenheit ergreift, um diese Freiheit zu erlangen. Lycopodium ist auch freiheitsliebend, aber nicht so mutig oder so rücksichtslos wie Tuberculinum. Sein Opportunismus hängt teilweise mit seiner Freiheitsliebe zusammen, teilweise aber auch mit seiner Neigung, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und ohne viel Arbeit und Mühe Vorteile zu erlangen. Vielleicht fühlt er sich immer noch in der Mutter-Kind-Beziehung, nur daß jetzt die ganze Welt seine Mutter ist, die ihn mit allem versorgt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. (Deshalb ist die Zahl der Lycopodium-Männer, die nicht arbeiten, überproportional groß.) Wie Phosphor erwartet Lycopodium, daß er mit seinen Spielchen davonkommt, weil er einerseits eine schnelle Auffassungsgabe hat und andererseits so charmant ist.

Lycopodium zeigt seinen Opportunismus oft als Schürzenjäger. Romeo-Typen, die eine Frau nach der anderen vernaschen und sich immer abseilen, wenn Probleme auftauchen, sind sehr oft Lycopodium. Viele Lycopodium-Männer sind die reinsten Gigolos und verlassen sich darauf, daß sie Frauen um den kleinen Finger wickeln können, statt emotionale und berufliche Verpflichtungen einzugehen. Es ist nicht unüblich für einen Lycopodium-Mann, sich auf finanzielle Zuwendungen seiner Partnerin zu verlassen, wozu auch gehört, daß sie für seine Schulden aufkommt und ihn aus anderen selbstverschuldeten Miseren befreit. Im Gegenzug bietet er ihr sexuelles Vergnügen und eine angenehme Gesellschaft und geht davon aus, daß dies für die Frau ein annehmbares Geschäft ist.

Der Gauner ist eine andere Variante des Lycopodium-Opportunisten, und viele Lycopodium-Gauner sind auch Schürzenjäger. Zu den Lycopodium-Gaunern gehören beispielsweise der zwielichtige Gebrauchtwagenhändler, der Schwarzhändler, der alles verkauft, was »vom Lastwagen heruntergefallen« ist, und andere Lebenskünstler jeder Art. Was sie abgesehen von ihrem Mangel an moralischem Bewußtsein gemeinsam haben, ist ein rascher, raffinierter Verstand, mit dem sie jede Gelegenheit ergreifen, eine schnelle Mark zu machen. Vor allem die kleinen Gauner sind höchstwahrscheinlich Lycopodium. Um ein großer Gauner zu sein, braucht man gute Nerven und einen rücksichtslosen Charakter, was nicht zu den typischen Lycopodium-Eigenschaften gehört. Der Lycopodium-Gauner mag gegenüber den Konsequenzen seiner Gaunereien auf einem Auge blind sein (alle Lycopodium-Typen werden gerne auf einem Auge blind, wenn es ihnen in den Kram paßt), aber er ist nicht kaltblütig genug, um einen Mord zu begehen, es sei denn, er wäre einer der körperlichen Prahlhanse, der eine Menge Wut im Inneren aufgestaut hat. Kleine Gauner gehen nach Möglichkeit den Weg des geringsten Widerstands, und das ist ein weiterer typischer Zug bei Lycopodium.

Ein wunderbar humorvolles und exaktes Porträt des kleinen Lycopodium-Gauners findet man in der Gestalt des Gastwirts Thénardier im Musical Les Misérables nach dem Roman von Victor Hugo (die deutschen Liedtexte stammen von Herbert Kretzmer):

Immer herein! Ich krieg Sie satt!

Ich bin der beste Wirt in der Stadt.

Die Konkurrenz panscht und betrügt,

rechnet euch schwindlig, knausert und lügt.

Selten finden Sie soviel Syrnpathie,

ein Ehrenmann bin ich, drum beehr'n Sie mich!

 

Ich bin Herr im Haus, schleimig und charmant.

Halte meine auf und küsse Ihre Hand.

Ich bring euch in Schwung, manchmal auch in Wut, meine Gäste lieben mich als Tunichtgut.

Alles gäb ich her für Freunde, aber wie ein jeder weiß:

Gehört dir nichts, dann biste gar nichts,

jedes Ding hat seinen Preis.

Ich bin Herr im Haus, ich bin hier Dompteur.

Nehm euch einen Sou ab oder auch mal mehr.

Wasser in den Wein! Wenn ihr nicht mehr steht,

krall ich euren Klunker, weil ihr doppelt seht!

Waren Sie mit mir zufrieden? Hat's euch wieder Spaß gemacht?

Für euch tu ich doch alles, aber wartet, wer als letzter lacht!

Ich bin Herr im Haus, wer's auch immer sei,

keiner kommt an diesem Schwadroneur vorbei.

Bei den Armen groß, bei den Reichen klein,

jedem Kunden will ich Freund fürs Leben sein.

Jeder möchte mit mir trinken, jeder mag mein Fuchsgesicht —

Aufschlag für die Laus, Extra für die Maus,

zwei Prozent sind Stufengeld fürs Treppenhaus.

Zeiten sind brutal, Schulden sind horrend,

bei geschloss'nem Fenster schlafen: drei Prozent!

Gott diktiert mir nicht die Preise – da gibt's eine Menge Tricks!

Wie das immer mehr wird, wie die Börse leer wird,

nein, nicht nur die Kosten sind hier fix!

 

(Madame Thénardier, die Frau des Gastwirts:)

Ich träumte oft, ein Prinz wollt mich entführ'n …

warum im Himmel mußt mir san Kerl passiern?!

Der und Herr im Haus? Selten so gelacht!

Stammtischphilosoph, der nichts als Bockmist macht!

Taschendiebgehim, glaubt, er hätt' Esprit.

Glaubt, er wäre gut im Bett, bloß ICH rnerk's nie!

Welcher böse Dreh des Schicksals gab mir statt 'nern Pelz 'ne Laus?

Was hab ich erduldet neben diesem Bastard hier im Haus!

Nicht alle Lycopodium-Typen sind skrupellos, aber die meisten sind bis zu einem gewissen Grad opportunistisch. Wie Sulfur schmieden einige ständig große Pläne, um schnell reich zu werden, die ausnahmslos zunichte gemacht werden. Andererseits haben viele Lycopodium-Typen genug »Köpfchen«, um ein profitables eigenes Geschäft aufzubauen, indem sie Marktlücken nutzen und Werbung und Geschäftsverbindungen geschickt ausnutzen. Der durchschnittliche Lycopodium hat wie der durchschnittliche Natrium etwas von einem Kämpfer. Am liebsten hätte er einfach ein leichtes Leben, aber er weiß, daß er dafür kämpfen muß. Zwar genießt er diesen Kampf nicht wie Nux, und er nimmt auch nicht wie Sulfur an, daß er immer erfolgreich sein wird. Aber er ist vernünftig genug zu wissen, daß es der Mühe wert ist, und er hat genug Verstand und Geschick im Umgang mit Leuten, um schließlich sein Ziel zu erreichen.

Da wir gerade bei Lycopodium-Geschäftsleuten sind, möchte ich einen Fehler erwähnen, den einige unerfahrene Homöopathen machen. Viele Lycopodium-Geschäftsleute sind von ihrer Arbeit ziemlich besessen und wirken im Sprechzimmer wie echte Draufgänger, die vor Selbstvertrauen strotzen. Dadurch kann sich der Homöopath in ihnen täuschen und Nux vomica verschreiben, das jedoch nicht wirkt. Die Unterscheidung kann subtil und schwierig sein, besonders wenn die körperlichen Symptome bei beiden Mitteln vorkommen, was oft der Fall ist (etwa Verdauungsstörungen bei Streß). Ich finde es gewöhnlich hilfreich, dann zu fragen, welchen Charakter der Patient als Kind hatte. Sehr oft wird der selbstbewußte Lycopodium dann zugeben, daß er Prüfungsängste hatte oder daß er seine Fähigkeiten als Kind unterschätzt hat, auch wenn er für die Gegenwart keine Schwächen einräumt. Auch wenn man fragt: »Wovor haben Sie im Leben die größte Angst?«, wird man überrascht sein, wie viele selbstbewußte, erfolgreiche Lycopodium-Typen antworten: »Daß ich mein Leben vergeude« oder »Daß ich keinen geschäftlichen Erfolg habe«. Solche Gedanken würden Nux vomica nie in den Sinn kommen.

Der durchschnittliche Lycopodium ist kein ausgemachter Romeo, aber er wird oft etwas von einem sexuellen Opportunisten haben. Dabei geht es vielleicht nur darum, mit Mädchen zu flirten oder sie in den Hintern zu kneifen. Auf der anderen Seite wird der verheiratete Lycopodium-Mann eher als andere den Versuchungen einer Affäre erliegen, wenn er seine Frau erst einmal als selbstverständlich betrachtet. Es ist nicht so, daß er sie nicht lieben würde. Auf die ihm eigene, freundliche und distanzierte Weise tut er das immer noch, aber der Nervenkitzel einer neuen Affäre erweist sich vielleicht als unwiderstehlich.

Beim Stichwort Romeo paßt es ganz gut, kurz auf die Sexualität von Lycopodium einzugehen. Lycopodium ist bei diesem Thema besonders empfindlich, weil es viel mit dem allgemeinen Problem der Unfähigkeit zu tun hat. Die meisten Lycopodium-Männer sind nicht impotent, aber viele haben Angst davor, was nur ein weiterer Aspekt der allgemeinen Versagensangst ist. Der durchschnittliche Lycopodium hat eine ziemlich starke Libido und schwelgt gerne in sexuellen Phantasien, wenn er gerade keine Partnerin hat (und auch wenn er eine hat). Die mehr körperlich orientierten Typen wie der körperliche Prahlhans und auch einige der Romeos genießen Sex am liebsten jede Nacht und können ihre Partnerin verlassen, wenn sie unbefriedigt sind. Die intellektueller orientierten Lycopodium-Typen haben eine eher durchschnittliche Libido, die aber immer noch recht stark ist. Wie auch andere Konstitutionstypen können Lycopodium-Männer während des Geschlechtsverkehrs Schwierigkeiten mit der emotionalen Intimität haben. Das ist nur eine weitere Version der »Vorliebe für die Leute im Nebenzimmer« – nah, aber nicht zu nah.

Die meisten Lycopodium-Männer überbewerten ihre sexuelle Kraft etwas, oder sie sind übermäßig besorgt darum. Vielleicht war ihre Libido in früheren Jahren sehr stark, und wenn sie dann etwas gemäßigter wird, interpretieren sie das als Zeichen nachlassender Manneskraft und machen sich Sorgen, wohin diese Entwicklung noch führen wird. Wenn sie tatsächlich Schwierigkeiten haben, eine Erektion zu halten, oder wenn es zur vorzeitigen Ejakulation kommt, was den meisten Männern irgendwann im Leben passiert, besonders wenn sie unter Streß stehen oder eine neue Partnerin haben, dann neigen Lycopodium-Männer zu Überreaktionen, und das kann zu einer quälenden Angst vor sexuellem Versagen führen, die langfristig die gefürchtete Situation herbeiführt (Kent: »sexuelle Leidenschaft verringert«). Als Folge davon beginnen solche Manner, in einem verzweifelten Versuch, ein weiteres Nachlassen der Sexualfunktionen zu verhindern, Aphrodisiaka zu benutzen, und vielleicht fragen sie den Homöopathen zögernd, ob das Mittel auch in dieser Hinsicht helfen wird.

Ich erinnere mich an einen alten Herrn von etwa 70 Jahren, der mich wegen einer homöopathischen Behandlung aufsuchte. Er war Witwer, traf sich aber gelegentlich mit einer befreundeten Dame. Seine einzige Beschwerde bestand darin, daß er bei der mehrfach täglich praktizierten Masturbation nicht mehr zum Höhepunkt kam. Über seine Qualitäten als Liebhaber machte er sich weniger Sorgen, obwohl er auch hier keinen Höhepunkt mehr erlebte. Es war interessant zu sehen, wie unbefangen er über dieses Thema sprach. Er beschrieb seine Beschwerden im Detail ohne Anzeichen von Verlegenheit und ohne sich bewußt zu sein, daß dies für einen Mann in seinem Alter eine ungewöhnliche Sorge war. Seine äußere Erscheinung und der Rest des Falls paßten zu Lycopodium, und nach einer Dosis 1M kam er wieder, um mir zu sagen, daß eine erhebliche Besserung eingetreten sei.

Ein anderer, wesentlich jüngerer Mann suchte mich wegen desselben Problems auf. Er war sehr schlank und hielt sich selbst für einen Experten in bezug auf Yoga und östliche Mystik. Mit großem Stolz erzählte er mir, er habe früher den Liebesakt über sechs oder acht Stunden ohne Unterbrechung ausgeübt, aber jetzt hatte er eine neue Partnerin und Schwierigkeiten, die Erektion zu halten. Ich war nicht überrascht, als er mir sagte, er habe untersuchen lassen, ob ein Durchblutungsproblem die Ursache seiner Impotenz sein könne. (Ein Durchblutungsproblem klingt irgendwie weniger nach persönlichem Versagen als andere Ursachen, die stärker mit persönlicher Verantwortung zusammenhängen könnten.) Sein Stolz, sowohl auf seine früheren sexuellen Kräfte als auch auf seine Yoga-Kenntnisse, war so offensichtlich und so übertrieben, daß mir die Mittelwahl keine Schwierigkeiten machte. Nach einer Dosis Lycopodium 10M war er deutlich weniger von sich überzeugt und machte sich auch deutlich weniger Sorgen über sein Problem, das sich mit dem Ende seiner Beziehung gewissermaßen von selbst erledigt hatte.

Der Intellektuelle

Trotz der Gefahr, die Leser/innen mit einer allzu gründlichen Unterteilung in Subtypen zu verwirren, muß ich nun doch genauer definieren, wie ich den pseudointellektuellen Lycopodium vom echten Lycopodium-Intellektuellen unterscheide. Der pseudointellektuelle Typ liegt irgendwo zwischen dem intellektuellen Prahlhans und dem echten Intellektuellen. Man kann ihn sich als eine Art intellektuellen Angeber vorstellen, der nicht genügend Selbstvertrauen hat, um seine Ideen mit besonderem Nachdruck anzupreisen, dessen Ideen aber – um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – meist etwas subtiler sind als die des intellektuellen Angebers. Der Pseudointellektuelle hat nicht die geistige Tiefe und den Scharfsinn des wahren Intellektuellen, aber sein analytischer Verstand ist die meiste Zeit damit beschäftigt, einen Gedanken nach dem anderen zu verschlingen, so wie ein Kind, das sich von jedem Dessert auf dem Büfett etwas nimmt. Mit dieser Art von intellektuellem Dilettantismus versuchen einige Lycopodium-Typen, das Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit zu stärken. Sie empfinden (in den meisten Fällen unterbewußt), daß sie um so bedeutender sind, je mehr sie wissen. Gewöhnlich sind sie zurückhaltender als der intellektuelle Angeber und sprechen über ihre Kenntnisse nur mit Freunden, von denen sie keine Zurückweisung befürchten müssen und die sie nicht auslachen.

Der Pseudointellektuelle besetzt oft ein Thema, wie sich die Biene auf eine Blume setzt, und grast es mehrere Wochen oder Monate ab, bevor er sich einem anderen Thema zuwendet. Während dieser Zeit widmet er der betreffenden Sache viel Aufmerksamkeit und liest ein Buch nach dem anderen darüber, um eine Art Experte zu werden. Ich habe einmal einen solchen Mann behandelt, dessen hauptsächliche Beschwerde ein empfindlicher Magen war. Er sagte mir, er sei gerade dabei, die Chaostheorie zu studieren. Er sagte das auf eine sehr gewichtige Art, als wolle er die Bedeutung seiner Studien betonen, und erklärte, er wolle ein Buch über das Thema schreiben. Als ich jedoch mehr von ihm über die Chaostheorie wissen wollte, wurden seine Auskünfte immer verschwommener, und er erklärte etwas zögernd, er interessiere sich dafür, wie »Ordnung aus dem Chaos entsteht, besonders im menschlichen Organismus«. Beruflich arbeitete er am Computer und abgesehen von dem Buch, das er gerade las, hatte er sich noch nie mit der Chaostheorie beschäftigt. Mir war bald klar, daß er sich für das Thema nur deshalb begeisterte, weil es eindrucksvoll klang und er dadurch hoffte, interessanter zu wirken. Er war ein einsamer Mann ohne enge Freunde, und er hatte Schwierigkeiten, Frauen kennenzulernen, weil er sich vor Zurückweisung fürchtete. Sehr zögernd und erst nachdem ich ihm viele Fragen gestellt hatte, gab er diese Probleme zu. Wie bei anderen pseudointellektuellen Lycopodium-Typen bestand sein hauptsächliches Lebensziel darin, interessant genug zu wirken, um Freunde und eine Partnerin zu finden und Respekt von anderen Menschen zu erlangen, und nur zu diesem Zweck sammelte er Fakten und versuchte, andere Menschen dafür zu interessieren.

Ich gab ihm Lycopodium 10M, und als ich ihn das nächste Mal sah, war ich sehr beeindruckt von den Wirkungen des Mittels. Zunächst hatte er sich ein oder zwei Tage lang ruhig und gedämpft gefühlt. Danach war ihm aufgefallen, daß seine Verdauungsstörungen verschwunden waren und seine Füße nicht mehr taub wurden, wenn er sich mit überkreuzten Beinen zur Meditation hinsetzte. Er schien mir entspannter zu sein und versuchte nicht mehr, mit seinen Studien Eindruck zu machen. Als ich ihn fragte, wie er mit seiner Untersuchung über die Chaostheorie weiterkomme, sagte er, er habe in letzter Zeit nicht viel darüber nachgedacht.

Der echte Lycopodium-Intellektuelle ist nicht so verbreitet wie der Pseudointellektuelle. Er ist wirklich fasziniert von den Themen, die er studiert, und will nicht primär andere Menschen beeindrucken. Er ist im allgemeinen ein Experte in einem bestimmten Bereich, ganz gleich ob das nun Quantenphysik, Linguistik oder Philosophie ist. Für den Lycopodium-Intellektuellen ist seine wissenschaftliche Arbeit häufig der Lebensmittelpunkt. Sie nimmt ihn während der meisten Zeit des Tages vollständig in Anspruch und gibt ihm ein Gefühl der Befriedigung und einen Lebenszweck. Er ist wahrscheinlich der trockenste Lycopodium, weil er sich so ausschließlich auf intellektuelle Fragen konzentiert. Da er sich die meiste Zeit seines Lebens in Büchern vergraben hat, ist er wahrscheinlich schüchtern, und obwohl er als Dozent kompetent sein mag, hat er nicht die Ausstrahlung eines Sulfur-Intellektuellen und auch nicht die Überzeugungskraft und Ausdrucksstärke eines Nux-Intellektuellen. Seinen Zuhörern gegenüber ist er jedoch geduldig und gewissenhaft, und er setzt sich mit seinem Thema gründlich auseinander. Der Lycopodium-Intellektuelle ist der Experte im weißen Kittel mit der hohen Stirn, der sein Leben im Labor verbringt, wo er eine hochspezifische wissenschaftliche Frage untersucht, die er immer wieder zerlegt und analysiert. Er ist weniger inspiriert als das Sulfur-Genie, aber er arbeitet voller Hingabe und empfindet dabei echte Befriedigung. Er ist eher ein Theoretiker als ein praktischer Wissenschaftler, seine Vorstellungen hat er wahrscheinlich im Rahmen einer üblichen Ausbildung entwickelt, anders als Sulfur-Intellektuelle, die ausgesprochen originell sind und mit Theorien aufwarten können, die sie aufgrund von scheinbar völlig unzusammenhängenden Beobachtungen entwickelt haben und mit Informationen aus einer Vielzahl von Disziplinen untermauern.

Wissenschaftliche Lehrer und Professoren sind sehr oft Lycopodium-Intellektuelle. Ich erinnere mich an meinen eigenen Physiklehrer, und wenn ich an seinen Unterricht zurückdenke, bin ich sicher, daß er Lycopodium war. Er war gründlich, aber entspannt (anders als Kalium oder Arsenicum, die höchstwahrscheinlich gründlich und bevormundend sein würden), und er war ein sehr bescheidener Mensch, der nie versuchte, Macht über seine Schüler auszuüben. Er war ein stiller Mann, der sein Wissen gerne mitteilte und manchmal vor Begeisterung strahlte, wenn er vom Lehrplan abschweifte und uns aufregende Dinge über schwarze Löcher und Relativität erzählte, aber meist war er sehr ruhig. Er war ein bißchen schüchtern und jedesmal sichtlich verlegen, wenn wir ihn freundlich auf den Arm nahmen.

Der Hippie

In den sechziger Jahren schlossen sich viele junge Leute bis zu einem gewissen Grad der Hippiebewegung an. Darunter waren zweifellos ganz verschiedene Konstitutionstypen. Ich habe jedoch festgestellt, daß die Mehrheit der Menschen, die immer noch an diesem Lebensstil festhalten, entweder eine Lycopodium- oder eine Natrium-Konstitution haben. Zum Hippielebensstil gehört, daß man aus den geltenden gesellschaftlichen Normen aussteigt, und während es zunächst so aussieht, als widerspreche das dem Konformitätsstreben von Lycopodium, entspricht es doch sehr stark seiner Tendenz, sich vor Verantwortung zu drücken. Die meisten Hippies der Gegenwart gehen keiner regelmäßigen Arbeit nach, und viele leben von der Sozialhilfe. Sie rechtfertigen das gewöhnlich, indem sie sagen, das System sei korrupt und dürfe deshalb auch mißbraucht werden, oder indem sie ihren Lebensstil als positives Beispiel für die Gesellschaft bezeichnen. Beide Rechtfertigungen machen deutlich, wie Lycopodium rationalisieren kann. Zum Hippielebensstil gehört auch die »freie Liebe«, was gewöhnlich Sex ohne emotionale Bindung bedeutet, und das ist für viele Lycopodium-Typen ebenfalls sehr attraktiv. Außerdem ist die Hippiegesellschaft für diejenigen, die dazugehören, ein Hort bedingungsloser Liebe und Bestätigung, was der durchschnittliche Lycopodium ebenfalls sehr zu schätzen weiß. Ich habe einmal ungefähr zehn Mitglieder einer Gemeinschaft behandelt, die Jünger des verstorbenen indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh waren. Rajneesh hatte einen sehr liberalen Ansatz und ermutigte seine Anhänger vor allem, das Leben zu genießen. Das führte innerhalb der Gemeinschaft zu einem sehr lockeren Sexualverhalten. Jeder dieser Patienten klagte über Verdauungsstörungen, und jeder von ihnen war konstitutionell Lycopodium. Es war irgendwie witzig – ich hielt das Lycopodium bereit und wartete auf den nächsten »Sannyasin« (Anhänger von Rajneesh). Ich tat mein Bestes, jeden neuen Fall unvoreingenommen zu prüfen, aber sie reagierten alle auf die Arznei.

Die Hippiegemeinschaft von heute ist stark von Marihuana abhängig, um das Leben angenehm zu machen, und das ist vielleicht ein Beispiel für die Fluchttendenzen von Lycopodium. Um Sorgen, Arbeit und das Gefühl von Unzulänglichkeit angesichts eines Konfliktes zu vermeiden, entwickeln viele Lycopodium-Typen eine spezifische Blindheit gegenüber Problemen. Diese beeinträchtigte Wahrnehmung wird durch den Gebrauch von Alkohol und Marihuana erleichtert, und das ermöglicht es vielen Lycopodium-Typen, einschließlich der meisten Hippies, in einer Art Narrenparadies zu leben. Ein eher konventionelles Beispiel finden wir in der Cartoon-Gestalt des Andy Capp. Wann immer seine seit langem leidende Ehefrau ihm Vorwürfe macht, weil er sein Geld verspielt, statt die Rechnungen zu bezahlen, lautet seine Antwort: »Mach dir nichts draus, Liebling, komm und trink was.«

Innerhalb einer Gemeinschaft, wie sie die Hippies bilden, fühlt sich Lycopodium akzeptiert und dazugehörig, und deshalb macht es nichts aus, wenn er im Hinblick auf den Rest der Gesellschaft gegen den Strom schwimmt, denn er verhält sich immer noch konform zu einer akzeptablen Norm. (Denken Sie an die außergewöhnliche Konformität der Hippiekultur mit ihren Blumenhernden, den langen Haaren, dem selbstgemachten Schmuck und dem Ethos von Frieden und Liebe.) Der relativ sichere Lycopodium kann mehr Individualität entwickeln, und dieser Prozeß wird oft durch eine Dosis Lycopodium 10M ausgelöst.

Sentimentalität und ein weiches Herz

Lycopodium hat meist ein weiches Herz. Selbst der körperliche Angeber wird seiner Mutter zum Muttertag wahrscheinlich Blumen schicken. Die meisten Lycopodium-Typen empfinden echte Menschenliebe, wenn sie auch eher freundlich-zurückhaltend und ziemlich unpersönlich sind. Sie haben ein weiches Herz und lassen sich gewöhnlich durch Berichte über Kummer und Elend bewegen. Lycopodium hat selbst so oft unter dem Gefühl der Unzulänglichkeit gelitten, daß seine Sympathien in der Regel dem Verlierer gehören, in den er sich bis zu einem gewissen Maß einfühlen kann. (Aber er bewundert auch den Erfolg in jeder Form und versucht, dem Gewinner nachzueifern.) Der durchschnittliche Lycopodium-Mann ist ein recht guter und aufmerksamer Partner und ein nachsichtiger Vater. Das gilt besonders gegenüber seinen Töchtern, während er mit seinen Söhnen etwas härter umgeht, weil er durch sie einen Teil seiner unerfüllten Träume ausleben will. Der Lycopodium-Familienvater setzt seine unbeschwerte Freundlichkeit und seinen Charme zu Hause mit gutem Erfolg ein, und weil er immer noch etwas von einem Kind hat, spielt er wahrscheinlich gerne mit seinen Kindern und wirkt oft mehr wie ein Kumpel als wie ein Vater. Er ist wahrscheinlich sehr stolz auf seine Kinder und genießt es, mit den Jungen viele »Männer-Sachen« zu unternehmen wie Angeln und Fußballspielen. Simpson-Anhänger werden hier Homer Simpson erkennen. Der Vater der weltberühmten Cartoon-Figur Bart Simpson ist eine wundervolle Karikatur des durchschnittlichen Lycopodium-Familienvaters. Er ist ein Feigling, der von Größe träumt, er ignoriert seine Familie die halbe Zeit, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, mit seinen Kumpels zu spielen, und die andere Hälfte der Zeit verwöhnt er seine Familie mit großer Sentimentalität. Obwohl Frau und Kinder sich oft über ihn beklagen, zweifeln sie doch nicht ernsthaft an seiner Liebe, und sie wissen, daß sie sich auf ihn verlassen können, wenn es darauf ankommt. Den Rest der Zeit improvisieren sie.

Weil Lycopodium nach Anerkennung sucht (und deshalb unterbewußt das Gefühl hat, nicht anerkannt zu sein), kann er eine charakteristische Art von Sentimentalität zur Schau tragen – die Tendenz zu weinen, wenn man ihm herzlich dankt (Kent: »weint, wenn man ihm dankt«). Wie der verlorene Sohn, der aus der Fremde zurückkehrt, wird er oft von Gefühlen überwältigt, wenn man ihm Liebe entgegenbringt, die er nicht verdient zu haben glaubt. Lycopodium-Männer weinen im allgemeinen viel leichter als Natrium-Männer, und sie weinen auch eher in der Öffentlichkeit. Obwohl einige ihre Partnerinnen und Söhne beschirnpfen, wissen die meisten Lycopodium-Männer sehr wohl, wie stark ihr Glück von der Familie abhängt, und sie können beim Abschied oder Wiedersehen ziemlich emotional werden, ebenso bei Gelegenheiten wie Hochzeitstagen oder wenn sie eine Rede halten sollen, und sie weinen dann wirklich aus Dankbarkeit für die Liebe ihrer Frau und ihrer Kinder.

Depression und Verzweiflung

Normalerweise denkt man bei einem depressiven Typ nicht an Lycopodium, und die Mehrheit der depressiven Patienten braucht andere Mittel. Aber jeder Konstitutionstyp kann unter widrigen Umständen depressiv werden, und Lycopodium bildet dabei keine Ausnahme.

Ich habe nicht viele depressive Lycopodium-Typen gesehen, und deshalb sind meine Anmerkungen hierzu nur kurz. Die depressiven Lycopodium-Menschen, die ich kennengelernt habe, hatten ein schwieriges Leben und hatten als Kinder wenig Bestätigung oder Liebe von ihren Eltern bekommen. Ihre depressiven Phasen waren ähnlich wie bei Natrium muriaticum, mit einigen zusätzlichen typischen Lycopodium-Zügen. So neigten sie dazu, sich bei Depressionen von anderen Menschen zurückzuziehen, fanden es jedoch angenehm, wenn jemand im Nebenzimmer war. Meist saßen sie da und brüteten über ihren Sorgen und über der Vergangenheit, und sie hatten sehr wenig Selbstrespekt. In diesem Stadium der Depression sind sie schwer von Sepia oder Natrium zu unterscheiden, und deshalb sollte man die Persönlichkeit vor der Erkrankung mit berücksichtigen. Gewöhnlich hat auch der depressive Lycopodium-Patient einige typische Lycopodium-Züge wie beispielsweise Erwartungsängste oder eine unrealistische Furcht zu versagen. Solche Ängste treten während einer depressiven Phase meist sogar verstärkt in Erscheinung. Meine depressiven Lycopodium-Patienten zeigten ein hohes Maß an Verzweiflung, als wären sie kurz davor, das Leben aufzugeben. Einige hatten Selbstmordgedanken, die sich im Zuge der Erstverschlimmerung nach der Arznei noch verstärkten (obwohl ich keinen Fall kenne, in dem sich ein depressiver Patient während der homöopathischen Erstverschlimmerung das Leben genommen hätte). Kent sagt über den depressiven Lycopodium-Patienten: »Möchte nicht angesprochen oder zum Denken angeregt werden und vermeidet jede Anstrengung; aber wenn er zu einer Tätigkeit gezwungen wird, findet er manchmal dadurch Erleichterung.« Unglücklicherweise passen solche Bemerkungen auf die meisten depressiven Patienten. Wenn man Lycopodium bei einem Fall von Depression in Erwägung zieht, muß man die gesamte Geschichte des Patienten mit berücksichtigen. Ein wichtiger Hinweis auf Lycopodium besteht darin, daß die Depression beim Erwachen meist am schlimmsten ist und sich im Laufe des Tages tendenziell bessert (Kent: »Selbstmordgedanken beim Erwachen«). Dem depressiven Natrium geht es auch besonders schlecht, wenn er aufwacht, aber sein Zustand bessert sich im Laufe des Tages nicht so sehr.

Senilität und Demenz

Lycopodium hat etwas Ähnlichkeit mit Barium in dem Sinne, daß der Typ durch eine gewisse Unreife gekennzeichnet ist, die sich in Fällen von Senilität verschärft. (Dasselbe kann man von Sulfur sagen.) Die wesentlichen Züge des dementen oder senilen Lycopodium sind eine Übertreibung der Charakteristika, die man beim jüngeren Lycopodium findet.

Vergeßlichkeit ist bei allen Fällen von Senilität verbreitet, aber es gibt eine für Lycopodium charakteristische Form von Vergeßlichkeit, die auch bei nichtsenilen Menschen auftritt, im Laufe der Jahre und bei nachlassenden Geisteskräften jedoch immer offensichtlicher wird. Es handelt sich um die Neigung von Lycopodium, Namen zu vergessen. Wenn er einen Bekannten trifft, kann Lycopodium in Angst und Verlegenheit geraten, weil ihm der Name nicht einfällt, obwohl sich die beiden vorher schon oft gesehen haben (Kent: »schlechtes Gedächtnis – Namen«). Der senile Lycopodium hat die Angewohnheit, bei nahezu jedem, auch bei Farnilienmitgliedern, den Namen durch »Wie heißt der doch gleich« zu ersetzen.

Mit zunehmendem Alter tendiert Lycopodium dazu, weniger nachgiebig und mehr streitsüchtig zu werden. (Kent: »wortkarg«, »streitsüchtig«, »Grobheit«.) Der ältere Lycopodium-Mann hat manchmal etwas von einem kleinen Tyrannen, wenn er die Leute herumscheucht, als seien sie Dienstboten (Kent: »überheblich«), Es ist so, als sei er am Ende mutig genug, die Schlachten zu schlagen, die er immer vermieden hat. Da er sich nun jedoch außerhalb des Schlachtfelds befindet, richtet er sein Feuer statt dessen auf seine Begleiter. Demente Lycopodium-Männer in Pflegeheimen haben die Angewohnheit, ihre Pflegerinnen anzugreifen, wenn sie ausgezogen oder gebadet werden sollen. Dann stoßen sie obszöne Verwünschungen aus und treten und beißen. Sie flirten auch ganz offen mit ihren Pflegerinnen oder machen sexuelle Annäherungsversuche und wirken dann wie eine komische Imitation des jüngeren Lycopodium-Romeo.

Die chronische Furchtsamkeit vieler Lycopodium-Typen kann sich im Alter in Argwohn verwandeln (Kent: »mißtrauisch, argwöhnisch und ständig auf der Suche nach Fehlern«). In echter Lycopodium-Manier wird der demente Lycopodium einen Satz auseinandernehmen, nach Anzeichen von Aggression darin suchen, um dann Einwendungen gegen einen Punkt nach dem anderen zu erheben und dabei zu predigen, als sei er die letzte Autorität für die Wahrheit. Diese Wortgefechte sind eine Übertreibung der Neigung des intellektuellen Angebers, zu predigen und zu widersprechen. (Die Demenz von Sulfur hat viele Ähnlichkeiten. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, daß Sulfur sich selbst für noch wichtiger hält als der demente Lycopodium – ein Beispiel für den klassischen Größenwahn von Sulfur. Sulfur kann auch endlos über irgendwelche sachlich korrekten Informationen faseln, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hat, weil sie ihn faszinierten.)

Die Lycopodium-Frau

Ich habe das Thema der Lycopodium-Frau nicht aus Chauvinismus bis zuletzt aufgespart, sondern eher, weil viel von dem, was ich schon geschrieben habe, für beide Geschlechter gilt. Nach meiner Erfahrung ist nur etwa ein Zehntel aller Lycopodium-Typen weiblich. Im Hinblick auf den hohen Anteil der Bevölkerung, der mit dieser Arznei in Resonanz steht, bedeutet das, daß es trotzdem ziemlich viele Lycopodium-Frauen gibt. Unter meinen Patientinnen sind sie ungefähr so häufig wie Sepia-Frauen und häufiger als Pulsatilla oder Silicea.

Lycopodium-Frauen sind im allgemeinen aufrichtiger als die Männer, weil sie nicht versuchen, ihre Unsicherheit hinter einer Maske von Prahlerei und intellektuellem Rationalisieren zu verbergen. Alle Lycopodium-Frauen, die ich behandelt habe, konnten sehr offen über ihre Ängste sprechen, die in den meisten Fällen beträchtlich waren und manchmal sogar lähmend wirkten. Es sind dieselben Versagensängste, die wir auch bei den Lycopodium-Männern finden. Bei Frauen entwickelt sich daraus oft die Furcht, als Frau und Mutter unzulänglich zu sein. Die erwerbstätigen Frauen machen sich oft große Sorgen über ihre Leistungen bei der Arbeit, besonders wenn sie vor größeren Gruppen von Menschen sprechen müssen. Eine Lycopodium-Frau suchte mich auf, um ihre nervösen Durchfälle behandeln zu lassen. Sie war leitende Angestellte und mußte von Zeit zu Zeit Vorträge halten. Ihre Erwartungsangst hatte sich allmählich so weit gesteigert, daß sie vor Beginn jeder Sitzung zur Toilette rennen mußte und dann noch einmal während der Sitzung, bevor sie selbst das Wort ergreifen sollte. Diese Art von Angst findet man in einem solchen Ausmaß bei Lycopodium-Männern nicht so häufig, weil sie über effektivere Mechanismen zur Angstvermeidung verfügen, indem sie ihr Ego entsprechend aufblähen. Die nervösen Durchfälle der Dame traten nach einigen Dosen Lycopodium 10M zusammen mit ihrer Erwartungsangst in den Hintergrund.

Die einzige Art von Ego-Inflation, zu der Lycopodium-Frauen nach meiner Erfahrung neigen, ist körperliche Fitneß, vor allem durch Gymnastik und Bodybuilding. Viele Gymnastiklehrerinnen, die ich kennengelernt habe, waren Lycopodium. (Allerdings sind auch viele weibliche Fitneßenthusiasten Natrium oder Tuberculinum.)

So wie sie offensichtlich nervöser sind als Männer, versuchen Lycopodium-Frauen insgesamt noch stärker, sich beliebt zu machen. Sie sind im allgemeinen ziemlich nachgiebig und furchtsam und bieten anderen rasch Lob und Unterstützung an. Ich erinnere mich an eine Lycopodium-Frau von etwa 20 Jahren, die aufgrund ihrer Furchtsamkeit viel jünger wirkte. Sie berichtete mir, sie sei als Mädchen in der High-School aufgefordert worden, mit einigen dreisteren Jungen »hinter den Schuppen« zu gehen. Schon monatelang hatte sie mit einer Mischung aus Horror und Faszination den Erzählungen der frühreifen Mädchen gelauscht, die regelmäßig mit den Jungen hinter den Schuppen gingen, und schließlich hatte sie gedacht, irgend etwas könne mit ihr nicht stimmen, weil sie noch nicht dazu aufgefordert worden war. Als es schließlich soweit war, fühlte sie sich in ihrer Entscheidungsfähigkeit gelähmt, hin und her gerissen zwischen ihrem Bedürfnis nach Beliebtheit und ihrer Angst vor den Jungen. Sie hatte diese Erfahrung nie ganz verkraftet und spielte sie in verschiedenen Verkleidungen immer wieder durch. Dieses charakteristische Bemühen um Beliebtheit findet man genauso häufig bei Natrium-, Pulsatilla- und Staphisagria-Frauen, und der Homöopath ist gut beraten, wenn er sich im Falle einer nachgiebigen Frau an diese vier erinnert.

Auf alle Lycopodium-Frauen, die ich kennengelernt habe, paßt der Ausdruck »Mädchen« besser als Frau. Das kann nicht nur mit ihrer Angst zusammenhängen oder mit ihrem Wunsch zu gefallen, denn ich habe Natrium-Frauen behandelt, die ähnlich furchtsam waren und auf ähnliche Weise zu gefallen versuchten, die aber mehr wie Frauen als wie Mädchen wirkten. Auf ähnliche Weise wirken viele Lycopodium-Männer irgendwie jungenhaft im Vergleich zu ihren Natrium-Altersgenossen. Ich vermute, daß dieser jugendliche Eindruck bei Lycopodium etwas mit dem Mangel an emotionaler Tiefe zu tun hat und mit der Tendenz, sich vor Verantwortung zu drücken, obwohl auch der charakteristische Mangel an Selbstvertrauen seinen Teil zu dieser Wirkung beiträgt.

Der mädchenhafte Eindruck bei den Lycopodium-Frauen ist nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Ich habe gehört, wie Lycopodium-Frauen sagten, sie seien sich ihrer »Fraulichkeit« nicht ganz sicher, genauso wie viele Männer an ihrer Männlichkeit zweifeln. Ich glaube, das ist in beiden Fällen das Ergebnis eines inneren Gefühls von Unfähigkeit. Was eine Frau als Fraulichkeit empfindet, hat ebensoviel mit persönlicher Kraft zu tun wie das Männlichkeitsgefühl eines Mannes, und genau daran fehlt es Lycopodium. Bei Frauen wird das oft durch ihre körperliche Erscheinung unterstrichen, die häufig knochig, flachbrüstig und deshalb ziemlich androgyn wirkt.

Wie der Lycopodium-Mann hat auch die Frau gewöhnlich gute analytische Fähigkeiten (wenn sie nicht gerade von Angst besessen ist). Sie hat auch eine Art abgeklärter Distanz zum Männlichen und wirkt dadurch weniger emotional als die durchschnittliche Natrium-Frau. Wenn sie nicht besorgt ist, wirkt sie locker und oft verspielt, fast wie Phosphor, wenn auch etwas weniger strahlend. Obwohl es ihr nicht an erotischem Charme fehlt, hat die Lycopodium-Frau mehr schwesterliche Eigenschaften, eine lockere und freundschaftliche Art. Sie ist ein »feiner Kerl«, der gerne spielt und auch gerne plaudert, wenn die anfängliche Schüchternheit erst einmal überwunden ist.

Als Mutter und Ehefrau hat Lycopodium viele Ähnlichkeiten mit Sepia. Beide haben eine gewisse Distanziertheit gegenüber ihren Angehörigen, obwohl sie gleichzeitig übermäßig um sie besorgt sind. Das ist in der Regel eine gesunde Haltung, denn sie kombiniert Liebe mit einem relativen Mangel an Anhänglichkeit und erlaubt es den Frauen, ein Gefühl von Unabhängigkeit und eigener Identität zu bewahren (etwas, das Natrium, Staphisagria und Pulsatilla oft fehlt). Diese Distanziertheit ist gewöhnlich geringer als bei Lycopodium-Männern, aber gelegentlich kann sie stark genug sein, um Probleme zu verursachen, wenn die Lycopodium-Frau ähnlich wie ihre Sepia-Schwester sich nicht genügend an ihre Familie gebunden fühlt (Kent: »indifferent gegenüber ihren Kindern«). In ihrer Mehrheit haben die Lycopodium-Frauen jedoch ein noch weicheres Herz als ihre männlichen Gegenstücke, und ihre Liebe gleicht einer stillen, aber stetigen Flamme.

Körperliche Erscheinung

Die klassische Lycopodium-Erscheinung ist mittelgroß und sehr dünn. Der »Schwächling« hat einen schlechtentwickelten Körperbau und meist gebeugte Schultern. Seine Brust ist oft bis zu einem gewissen Grad eingesunken. Aber auch viele weniger schwächliche Lycopodium-Typen sind schmal gebaut.

Das Gesicht von Lycopodium ist tendenziell knochig, was der klaren Rationalität des Typs entspricht. Die Augenbrauen sind aufgrund der ständigen Ängstlichkeit oft gerunzelt, die Haare sind gewöhnlich dunkel, glatt und dünn. Viele Lycopodium-Männer bekommen schon früh eine Glatze und machen sich darüber häufig Sorgen, weil sie damit einen Verlust an Männlichkeit verbinden. Sogar Lycopodium-Frauen haben oft nur spärliche Haare, die beim Bürsten leicht ausfallen.

Viele Lycopodium-Männer tragen charakteristischerweise einen Bart. Besonders typisch ist der Spitzbart, den man fast als spezifisch für Lycopodium bezeichnen kann. Auch Schnurrbärte tragen Lycopodium-Männer häufiger als jeder andere Typ, und ich vermute, daß sie dadurch männlicher wirken wollen. (So wie Schnurrbärte auch bei den Polizeikräften vieler Länder besonders verbreitet sind.)

Um beim Thema Männlichkeit, oder dem Mangel daran, zu bleiben, sei noch angemerkt, daß viele Lycopodium-Männer nur eine spärliche Körperbehaarung haben und der Bartwuchs bei ihnen paradoxerweise besonders lange braucht.

Die schwächlicher aussehenden Lycopodium-Männer (die gewöhnlich auch psychische Schwächlinge sind) wirken im Gesicht oft verhutzelt wie getrocknete Pflaumen. Schon als Babys sehen sie gewöhnlich wie alte Männer aus, und wenn sie älter werden, können ihre schmalen Gesichter mit den engstehenden Augen manchmal wie eine Wurzelknolle wirken.

Es gibt eine Variante von Lycopodium, die ein breites, quadratisches Gesicht hat und oft auch einen breiten, muskulösen Körper. Dieser Typ ist im allgemeinen besonders eingebildet und häufig ein Schürzenjäger. Entweder hat er ungewöhnlich viel echtes Selbstvertrauen, oder er ist ein Angeber, der so tut als ob.

Viele Lycopodium-Männer bewahren sich auch in fortgeschrittenem Alter ein jugendliches Aussehen und wirken jungenhaft, was eine Folge ihrer emotionalen Distanziertheit ist.

Lycopodium-Frauen sind ähnlich dünn wie die Männer und haben ebenfalls meist knochige Gesichtszüge und gerunzelte Augenbrauen. Der Brustkorb ist gewöhnlich schmal, und die Frauen wirken im allgemeinen mädchenhaft.

Obwohl Lycopodium konstitutionell dünn ist, gibt es doch eine ganze Reihe übergewichtiger Vertreter dieses Typs, die entweder zuviel Alkohol trinken oder zuviel Süßigkeiten essen. In diesen Fällen sind die Hüften und Beine charakteristischerweise dünn im Vergleich zu dem vergrößerten Bauch.