Pulsatilla

Grundzug: das weibliche Prinzip

Homöopathen denken oft, Pulsatilla sei ein weitverbreiteter und leicht zu identifizierender Typ. Nach meiner Erfahrung stimmt beides nicht. Bei Erwachsenen ist Pulsatilla nicht nur ungewöhnlich, sondern wird auch leicht mit anderen Arzneimitteltypen verwechselt, besonders mit Silicea, Phosphor, Staphisagria, Lycopodium, Calcium und Natrium muriaticum. Alle diese Typen können emotional und passiv sein, aber Homöopathiestudenten bekommen meist den Eindruck vermittelt, Pulsatilla sei der emotionale, passive Typ, und deshalb wird das Mittel zu häufig verordnet.

Das Pulsatilla-Kind

Kein Typ ist in einem umfassenderen Sinne feminin als Pulsatilla. Es gibt einige wenige Pulsatilla-Männer, aber die meisten erwachsenen Pulsatillas sind Frauen. Auf die Gefahr hin, von feministischen Leserinnen Entrüstung zu ernten, wage ich zu sagen, daß Pulsatilla der weiblichste aller Typen ist, weil sie fast vollständig durch ihre Emotionen lebt und sie nicht unterdrückt. Sie hat zwar einen Intellekt, aber sie benutzt ihn ausschließlich im Dienst ihrer emotionalen Bedürfnisse und Wünsche. Deshalb können ihre Vorstellungen so schnell wechseln. Emotionen sind sehr veränderlich, besonders wenn sie sich frei entfalten können und nicht unterdrückt werden, und weil sich Pulsatillas Gedanken im allgemeinen um ihre emotionale Befriedigung drehen, sind sie meist flatterhaft und unberechenbar.

Kleine Kinder beiderlei Geschlechts sind konstitutionell oft Pulsatilla. Wenn sie größer werden, wechseln die meisten Pulsatilla-Kinder zu anderen Konstitutionstypen, so daß überraschend wenige erwachsene Pulsatillas übrigbleiben (deshalb bekommen so viele blonde Kinder dunklere Haare, wenn sie älter werden). Im Alter zwischen zwei und fünf Jahren reagieren Kinder fast ausschließlich emotional. (Vorher stehen die körperlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt, und danach wird der Intellekt immer beherrschender.) Genau in dieser Altersgruppe von Kindern findet man einen großen Anteil Pulsatilla. Wenn der Intellekt erst das Kommando übernommen hat und das emotionale Leben des Kindes dirigiert, ist das Pulsatilla-Stadium vorbei.

Pulsatilla-Kinder beiderlei Geschlechts sind hoch emotional. Sie sind im allgemeinen voller Hingabe, Zuneigung und Milde, vorausgesetzt, ihre emotionalen Bedürfnisse werden von den Eltern erfüllt, aber sie fordern meist eine sofortige Befriedigung, und wenn sie sich zurückgesetzt fühlen, weinen und quengeln sie, bis sie bekommen, was sie brauchen. Pulsatilla ist ein sehr natürlicher Typ. Wenn dem Pulsatilla-Kind etwas weh tut, weint es, ganz gleich ob der Schmerz emotionaler oder körperlicher Art ist. Das Kind versucht nicht, seinen Schmerz zu verbergen, und wenn er vorbei ist, ist er auch sofort wieder vergessen. Das ist ganz ähnlich wie beim Phosphor-Kind, das oft mit Pulsatilla verwechselt wird. Der Unterschied liegt im Grad der Emotionalität. Pulsatilla ist immer emotional (obwohl ihre Emotionen die meiste Zeit sanft und freundlich sein können) und deshalb sehr persönlich in ihren Interessen und Reaktionen, während Phosphor distanzierter und unpersönlicher ist. Phosphor-Kinder können zwar zeitweilig hochemotional sein, aber ihre Grundhaltung ist aktiver, neugieriger und abenteuerlustiger als bei Pulsatilla, der es weniger um Entdeckungen geht als darum, geliebt zu werden. Diese überwiegende Beschäftigung mit ihrer persönlichen emotionalen Befriedigung ist der Grundstein der Pulsatilla-Persönlichkeit, auf dem alle anderen Eigenschaften basieren.

Kleine Kinder sind oft sehr selbstsüchtig. Das gilt ganz besonders für Pulsatilla. Auf dem Spielplatz hütet sie vielleicht mit Argusaugen ihre Süßigkeiten (Kent: »Habgier«) und gibt höchstens ihrer besten Freundin etwas davon ab (als Belohnung und auch, um nett zu sein), wogegen das Phosphor-Kind seine Süßigkeiten freigebig mit seinen Spielgefährten teilt. Wie Natrium sucht Pulsatilla stets emotionale Sicherheit und fühlt sich sehr leicht zurückgewiesen (Kent: »Gefühl der Verlassenheit«), während andere sensible Kinder wie Silicea und Phosphor im Grunde emotional robuster sind. Auch sie brauchen vielleicht Anregung und Aufmerksamkeit ebenso wie ein vernünftiges Maß an Zuneigung, um glücklich zu sein, aber man muß ihnen nicht wie Pulsatilla und Ignatia ständig versichern, daß sie geliebt werden. Es ist die emotionale Unsicherheit, die Pulsatilla so selbstsüchtig macht. Sie neigt dazu, ihre eigenen emotionalen Bedürfnisse für wichtiger als alles andere zu halten, und sie kann bei Bedarf eine Szene machen, damit man sie zur Kenntnis nimmt und sich um sie kümmert. Wenn sie unglücklich ist, kann sie genausogut permanent jammern und quengeln, um sich auf diese Weise liebevoller Aufmerksamkeit zu versichern (Kent: »stöhnen, ächzen«). Sobald sie die Liebe bekommt, nach der sie verlangt hat, ist sie rundum glücklich, und solange diese Liebe weiterhin gewährt wird und spürbar bleibt, macht sie sich keine Sorgen, jedenfalls nicht für lange. Wie Calcium ist Pulsatilla in ihren Bedürfnissen sehr einfach. Alles, was sie will, ist Liebe, und solange sie die bekommt, ist sie sanft, mild und zufrieden. Sie wird sich dann befriedigt zurücklehnen und das Beste aus ihren angenehmen persönlichen Kontakten und ihren sinnlichen Gelüsten machen.

Erwartungsgemäß ist das Pulsatilla-Kind sehr abhängig von seinen Eltern. Das kleine Mädchen bekommt Angst, wenn die Eltern für länger als ein paar Momente nicht zu sehen sind, und in der Öffentlichkeit bleibt sie in ihrer Nähe. Oft hält sie die Hand der Mutter fest oder hängt sogar an deren Rockzipfel. Solange sie sich geliebt fühlt, geht sie vergnügt auf kleine Spiele ein und genießt die Kommunikation mit ihren Eltern, wobei sie besonderen Wert auf Körperkontakt legt. Alle Pulsatillas haben ein großes Bedürfnis nach körperlicher Wärme und Nähe, sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen. Sie schmiegen sich selig in die Arme eines liebevollen Vaters, völlig hingegeben und friedlich, und sie nutzen jede Gelegenheit zum Schmusen. Pulsatilla-Kinder genießen auch die Gegenwart von Lieblingstanten und -onkeln sehr, vor allem wenn diese sie verwöhnen und zärtlich zu ihnen sind. Wenn Pulsatilla sich glücklich und sicher fühlt, zeigt sie eine sehr charakteristische Schüchternheit, die ausgesprochen charmant ist und ihr viel Zuneigung sichert. Ihre großen unschuldigen Augen sind gleichzeitig scheu und verspielt, und sie lächelt verführerisch und zugleich selbstzufrieden, so als wolle sie sagen: »Sei nett zu mir – sieh doch nur, wie niedlich ich bin!« Erwachsene Pulsatillas verlieren nichts von diesem schüchternen Charme und wissen ihn zu ihrem Vorteil einzusetzen.

Außerhalb der eigenen vier Wände ist das Pulsatilla-Kind Fremden gegenüber ängstlich. Wie Silicea verhält sie sich zunächst zurückhaltend, während sie herauszufinden versucht, ob die unbekannten Leute ungefährlich und freundlich sind (Kent: »schüchtern, furchtsam«). Wenn sie feindselig wirken, bekommt Pulsatilla sehr leicht Angst und spricht dann überhaupt nicht mit ihnen, sondern versteckt sich hinter ihren Eltern. Hat sie jedoch festgestellt, daß der Fremde nett ist, gibt sie ihre Zurückhaltung sehr viel schneller auf als Silicea und beginnt bald, mit ihm zu flirten, zeigt ihm ihr Lieblingsspielzeug und erzählt ihm ihre größten Geheimnisse (beispielsweise wie der Junge in der Schule heißt, in den sie verliebt ist).

Obwohl sie gegenüber den Menschen, die sie liebt, sehr vertrauensselig ist, kann Pulsatilla Fremden gegenüber sehr argwöhnisch sein, und sie läßt sich nicht immer durch vordergründige Freundlichkeit gewinnen (Kent: »argwöhnisch«). Der Arzt, der beruhigende Worte murmelt, während er versucht, sein Otoskop in das Ohr der kleinen Pulsatilla einzuführen, erntet Protestgebrüll, längst bevor er sie berührt hat. Wen Pulsatilla mag und wen sie nicht mag, ist eine äußerst persönliche und sensible Angelegenheit, und wenn sie sich einmal entschieden hat, sind ihre Präferenzen sehr eindeutig, auch wenn sie vielleicht manchmal kurzlebig sein mögen. Obwohl sie den gräßlichen Doktor nicht leiden kann und bei seinem Anblick zurückschreckt, wird sie sich eines Tages plötzlich eines Besseren besinnen und ihm ein gewinnendes Lächeln schenken, ihr Zeichen der Anerkennung.

Abgesehen vom persönlichen Kontakt mit liebevollen Vertrauten gehört Pulsatillas nächste Liebe dem sinnlichen Vergnügen. Sie hat einen ausgeprägten Tastsinn, liebt den Anblick schöner Dinge und auch den Geschmack ihrer Lieblingsspeisen. Einmal mehr ist sie bezüglich ihrer Präferenzen sehr persönlich und pingelig, ganz gleich ob sie nun fünf oder fünfzig Jahre alt ist. Die junge Pulsatilla wird sich standhaft weigern, ein Kleid anzuziehen, dessen Farbe ihr nicht gefällt, und ihr Gaumen ist oft extrem launisch. Es ist dieser Hang zu extrem persönlichen und spezifischen Vorlieben, der dazu geführt hat, daß Pulsatilla in Kents Repertorium unter der Rubrik »penibel« aufgeführt wird. Dabei geht es ihr nicht wie Arsenicum und Natrium um Sauberkeit und Ordnung. Sie ist einfach wählerisch wie ein verwöhntes Kind, das immer seinen Willen bekommt. Und je mehr das Pulsatilla-Kind seine Eltern mit plötzlichen Gefühlsausbrüchen erfolgreich manipuliert, desto mehr wird es verwöhnt. Viele Natrium- und Ignatia-Kinder sind ähnlich heikel und bringen ihre Eltern auch dazu, sie zu verwöhnen. Diese drei Typen haben viel gemeinsam, aber Pulsatilla unterscheidet sich von den beiden anderen grundsätzlich dadurch, daß sie ihre Gefühle nicht unterdrückt. Wie Natrium und Ignatia kann Pulsatilla sehr eifersüchtig reagieren, wenn ihre Eltern ein anderes Kind vorziehen. Im Grunde wird sie eifersüchtig auf jeden, der die Zeit der Eltern oder ihrer besten Freundin in Anspruch nimmt (Kent: »Eifersucht«). In solchen Situationen kann sie sich sehr kindisch verhalten, und sowohl der Konkurrent als auch ihre Angehörigen bekommen dann ihre Bosheit zu spüren. Sie kann beispielsweise das neue Spielzeug ihres Bruders kaputtmachen, wenn sie meint, es sei schöner als ihr eigenes, und vielleicht verweigert sie ihr Mittagessen, wenn er an seinem Geburtstag im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.

Pulsatilla gehört zu den furchtsameren Typen. Vor allem Pulsatilla-Kinder neigen zu den verschiedensten Ängsten, besonders wenn sie sich unsicher fühlen, weil die Eltern ihnen nicht genug Aufmerksamkeit schenken oder weil sich die Verhältnisse verändern. Wie Calcium und Natrium fürchtet Pulsatilla Veränderungen und reagiert ängstlich auf relativ geringfügige Bedrohungen ihrer persönlichen Sicherheit. Die meisten Pulsatilla-Kinder haben bis zu einem gewissen Grad Angst vor der Dunkelheit. Gewöhnlich sagen sie, sie hätten Angst vor Gespenstern (Kent: »Angst vor Gespenstern bei Nacht«), wogegen die Hälfte der Natrium-Kinder, die Angst vor der Dunkelheit haben, sich wie die erwachsenen Natriums vor Menschen fürchten. Pulsatilla hat vor allem in der Kindheit Angst davor, allein zu sein. Selbst erwachsene Pulsatillas sind oft sehr abhängig von Gesellschaft.

Aggression empfindet Pulsatilla als besonders bedrohlich. Sie duckt sich und weint beim geringsten Zeichen von Aggressivität, sei sie nun verbal oder körperlich, und als Kind wird sie gewöhnlich schweigend nachgeben, statt sich dem Zorn der verärgerten Eltern zu stellen, während sie als Erwachsene oft die Rolle des Friedensstifters spielt. In dieser Rolle appelliert sie stärker an das Herz als an den Verstand. Disharmonie ist für Pulsatilla unerträglich, vor allem zwischen Menschen, die sie liebt, und sie wird sie bitten, wenigstens ihr zuliebe nett zueinander zu sein.

Die erwachsene Pulsatilla – Häuslichkeit

Pulsatilla ist in ihren Interessen persönlicher als jeder andere Typ. Sie kümmert sich vor allem um die Menschen, die sie liebt, und ihr Leben ist der Suche nach persönlicher Liebe und deren Pflege gewidmet. Pulsatilla hat fast immer jemanden, an dem sie voller Hingabe hängt. Als Kind sind das gewöhnlich ihre Eltern. Später überträgt sie diese Hingabe auf ihren Freund und schließlich auf ihren Mann und ihre Kinder. Solange sie mit diesen Menschen zusammen ist und sich von ihnen geliebt fühlt, ist sie glücklich und hat auch keinen besonderen Ehrgeiz. Feministinnen sehen bei Pulsatilla meist rot. Sie ist glücklich und zufrieden, wenn sie zu Hause bleibt und sich um Mann und Kinder kümmert. Im Grunde lebt sie genau dafür. Sie ist extrem fürsorglich und verwöhnt ihre Familie genauso gerne, wie sie sich selbst verwöhnen läßt. Politik, Philosophie oder Wirtschaftsfragen interessieren sie nicht im geringsten (Kent: »kümmert sich um häusliche Angelegenheiten«). Solange ihr häusliches Leben glatt läuft, begegnet sie den Dramen der Welt mit seliger Ignoranz. Darin gleicht sie Calcium (der sie auch körperlich so ähnlich sieht, daß man die beiden verwechseln kann). Aber selbst die häusliche Calcium-Frau ist meist stärker als Pulsatilla an Dingen interessiert, die nichts mit der Familie zu tun haben, wie beispielsweise eine Karriere oder ein kreatives Hobby. Pulsatilla richtet sich in ihren Freizeitaktivitäten meist nach den Interessen von Mann und Kindern. Wenn ihr Mann Schach spielt, wird sie es ebenfalls lernen. Wenn er einige Wochen verreist ist und die Kinder nicht mehr zu Hause sind, fühlt sie sich verlassen und sieht sich gezwungen, etwas alleine zu unternehmen.

Eine meiner Pulsatilla-Patientinnen, eine attraktive und kultivierte Dame von Ende Vierzig, hatte zu Hause ein zufriedenes Leben geführt, bis ihr Mann starb. Danach fühlte sie sich etwa ein Jahr lang völlig ratlos, denn bis dahin hatte sie alles mit ihm zusammen getan. Sie mußte erst lernen, wie sie ohne den Schutz ihres Mannes und ohne mit ihm beschäftigt zu sein ihr Leben gestalten konnte. Anfangs hatte sie große Angst, alleine neue Leute kennenzulernen, und praktische Aufgaben, wie etwa das Haus zu verkaufen, versetzten sie in Panik. Schließlich lernte sie einen neuen Beruf als Masseurin und Reflexzonentherapeutin und richtete sich auf diesem Gebiet ziemlich professionell ein. Um ihre Interessen und ihre Praxis zu erweitern, machte sie mit großer Ernsthaftigkeit und Hingabe noch eine zusätzliche Ausbildung als Ernährungsberaterin. Ebenso wie sie denken viele Pulsatilla-Frauen gar nicht daran, daß sie ein eigenes Individuum sind, bis sie plötzlich ohne ihre Familie dastehen. Dann fragen sie sich, wer sie sind und wozu sie leben, bis sie einen neuen Partner finden, dem sie sich widmen können, oder sich auf irgendeine Aktivität in der Welt einlassen, die ihrem Leben Richtung und Stabilität gibt.

Die Pubertät kann für Pulsatilla eine schwierige Zeit sein. Ihre üblichen emotionalen Launen werden durch Hormonschwankungen und durch den Druck der sich entwickelnden Sexualität verschärft. Das ist die Zeit, in der Pulsatilla sich von ihren Eltern bis zu einem gewissen Grad lösen muß, häufig bevor sie irgendeine stabile Beziehung hat, die diesen Platz einnehmen könnte. Pulsatilla hängt oft länger an ihren Eltern und verläßt sich mehr auf sie als die meisten anderen Jugendlichen. Wenn sie schließlich aus dem Haus geht, kann damit eine sehr labile und schwierige Lebensphase beginnen, wenn sie nicht schon eine feste Beziehung hat. Ich habe eine solche Pulsatilla-Frau von Anfang Zwanzig kennengelernt. Sie besuchte die Kunstschule und teilte sich die Wohnung mit einer Freundin, die ich ebenfalls kannte. Diese beklagte sich bei mir darüber, daß ihre Pulsatilla-Freundin sie ständig um Rat frage, den sie aber nicht befolge. Wenn dann etwas schiefging, jammerte sie der Freundin die Ohren voll. Insbesondere stolperte die Pulsatilla-Frau von einer romantischen oder sexuellen Beziehung in die nächste und beklagte sich dann bei ihrer Freundin darüber, wie elend sie sich ohne Partner fühle oder wie schlecht es ihr mit diesem oder jenem Freund gehe.

Viele Pulsatillas lassen sich impulsive auf Beziehungen ein, weil sie verzweifelt versuchen, die emotionale Sicherheit zu finden, nach der sie sich sehnen. Die erwähnte junge Frau (die Bezeichnung »Mädchen« scheint trotz des Alters passender) litt unter einem großen Gefühl der » Verlorenheit«, denn sie hatte keine starke Beziehung, die ihr Rückhalt gegeben hätte. Um Anerkennung zu finden, stürzte sie sich auf verschiedene modische Themen wie zum Beispiel Umweltschutz. Darüber diskutierte sie mit ihren Studienkollegen, ohne sich jedoch selbst wirklich dafür zu interessieren. Sie wirkte gewöhnlich ziemlich ungepflegt und wie ein Punk, was unter Kunststudenten gerade schick war, aber gleichzeitig auch ihre innere Verwirrung widerspiegelte. Pulsatillas, die das Glück haben, aus dem Elternhaus direkt in eine liebevolle, stabile Partnerschaft zu wechseln, werden mit dieser Übergangszeit besser fertig und leiden nicht so sehr unter Verwirrung und Heimweh wie die anderen.

Emotionale Labilität

Ich wollte gerade schreiben, daß Pulsatilla unter allen verbreiteten Konstitutionstypen nach Ignatia die emotional labilste ist, als ich darüber nachdachte, daß Pulsatilla eigentlich nicht sehr verbreitet ist. Ich habe wesentlich mehr Ignatias kennengelernt als erwachsene Pulsatillas, und Ignatia ist ebenfalls kein sehr verbreiteter Typ. Der grnndsätzliche Unterschied zwischen Ignatia und Pulsatilla ist der Grad ihrer emotionalen Intensität. Beide sind sehr launisch (Kent: »Stimmung wechselnd«), aber die Gefühle von Ignatia sind wesentlich intensiver, weil sie tiefer sind und sich auf die ätherische Macht der unterdrückten Emotionen stützen.

Wenn für Pulsatilla alles glatt läuft und sie in einer liebevollen und stabilen Partnerschaft lebt, treten ihre negativen Stimmungen nur relativ selten auf. Wenn sie doch kommen, steckt dahinter meist das Gefühl, ihre emotionale Sicherheit könne bedroht sein. Selbst in gesunden Beziehungen gibt es ein Auf und Ab, und Pulsatilla reagiert sehr sensibel darauf, wenn man ihr die Zuneigung entzieht. Wenn ihr Mann sich zurückhaltender als sonst benimmt, weil er nach der Arbeit müde ist, fürchtet sie vielleicht, daß er sie nicht mehr liebt, und in ihrer Sorge übertreibt sie seine Zurückhaltung über alle Maßen und versetzt sich dadurch in einen emotional geladenen Zustand. Wenn er dann beispielsweise sagt, daß ihm ihr neues Parfüm nicht gefällt, bricht sie in Tränen aus und rennt in ihr Schlafzimmer.

Pulsatilla kann in alle möglichen emotionalen Zustände geraten (Kent: »Stimmung – furchtsam, mürrisch, argwöhnisch, weinerlich, traurig, rastlos, obszön« etc.), wobei die meisten dadurch ausgelöst werden, daß sie sich in ihren persönlichen Beziehungen bedroht fühlt oder ihr eine liebevolle Partnerschaft fehlt. Solange sie sich geliebt fühlt, ist sie meist sanft und kooperativ, aber wenn sie sich erst einmal bedroht fühlt, verfügt sie nicht über die disziplinierten, automatischen Abwehrmechanismen von Natrium muriaticum. Statt ihre Traurigkeit zu unterdrücken, weint sie dann; statt ihren Ärger zu unterdrücken, schreit sie oder zerschlägt das Geschirr. Wenn die Sache nicht ganz so schlimm ist, es aber irgendeine Störung in der Beziehung gibt, kann Pulsatilla nervös und ständig gereizt sein (Kent: »unzufrieden mit allem«). In diesem Zustand sagt sie nicht, was mit ihr los ist, und vielleicht weiß sie es selbst nicht so genau, aber sie läßt ihre Frustration und Spannung an der Familie aus, klagt über dieses und weint über jenes (Kent: »grundloses Weinen«). Pulsatilla steht in Kents Repertorium in Fettdruck oder kursiv in nicht weniger als 15 Rubriken, die mit »weinen« beginnen. Tränen sind ihre häufigste Antwort auf emotionalen Schmerz. In den meisten Fällen weint sie eher leise, statt heftig zu schluchzen (Ignatia, Natrium muriaticum), und sie reagiert positiv auf Beruhigung und Zuneigung. Da Pulsatilla jedoch sehr an Menschen (und Haustieren) hängt, kann sie nach einem schmerzlichen Verlust oder einer Trennung in hysterisches Weinen verfallen und sich so fühlen, als müsse sie Selbstmord begehen (Kent: »Gram«, fettgedruckt, »Stimmung – hysterisch«, »untröstlich«).

Pulsatilla ist für positive Gefühle ebenso empfänglich wie für negative. Sie wird leicht aufgeregt, besonders wenn sie verliebt ist oder sich auf etwas freut, das sie zusammen mit einem geliebten Menschen vorhat. Ihre Aufregung kann dann so groß sein, daß sie völlig erschöpft ist und dann weint, ohne zu wissen, warum, oder Kopfschmerzen bekommt (Kent: »Beschwerden durch außergewöhnliche Freude«). Im allgemeinen ist sie für jeden Spaß zu haben und sehr gesellig. Wenn sie nicht gerade »herumalbert« oder mit attraktiven Männern flirtet (Pulsatilla ist eine große Flirterin, besonders wenn sie ungebunden ist), spricht sie in Gesellschaft meist über persönliche Angelegenheiten, oder sie interessiert sich für die persönliche Seite im Leben anderer Menschen, statt über theoretische oder globale Fragen zu diskutieren. Darin gleicht sie Calcium und auch vielen Natrium-Frauen. Sie mag sich zwar an einer intellektuellen Debatte beteiligen, aber sie vertritt dann meist die Ansichten ihres Mannes, und sie argumentiert emotional und ohne die Fakten zu berücksichtigen, es sei denn, sie war schon einmal gezwungen, eine Zeitlang alleine in der Welt zurechtzukommen. Ansonsten hat sie viele ihrer Ansichten wahrscheinlich von ihrem Partner oder ihren Eltern übernommen. Wenn ihr Mann ein Kommunist ist, wird sie auch eine Kommunistin. Wenn er Katholik ist, wird sie ohne Frage konvertieren, und da sie keine Fragen stellt, wird sie ihrer neuen Religion auch gläubig folgen. Dabei ist sie nicht etwa dumm. Es ist nur so, daß sie in erster Linie ihrem Herzen folgt und der Verstand erst sehr viel später kommt.

Wie andere vorwiegend weibliche Typen ist Pulsatilla sehr anfällig für hormonelle Störungen und die psychischen Probleme, die damit verbunden sind. Sie ist vor Beginn der Periode meist sehr labil, fühlt sich dann leicht beleidigt und weint bei jeder Kleinigkeit (Kent: »weinen vor den Menses«). Ebenso neigt sie in dieser Zeit zu Ärger und Reizbarkeit, obwohl die Neigung zum Weinen überwiegt. Klimakterische und nachgeburtliche Hormonschwankungen können das empfindliche emotionale Gleichgewicht von Pulsatilla auch durcheinanderbringen. In Kents Repertorium wird sie unter den Rubriken »Geisteskrankheit – menopausal« und »Geisteskrankheit – puerperal« aufgeführt, aber ich bin sicher, daß die emotionale Labilität in diesen Phasen bei Pulsatilla-Frauen verbreiteter ist als Geisteskrankheit.

Passivität, Schlichtheit und Sinnlichkeit

Pulsatilla ist kein sehr dynamischer Typ. Wie Calcium liebt sie ein stabiles, sinnliches, angenehmes Leben, dessen hauptsächliche Befriedigung darin besteht, daß sie ihre Familie liebt und für sie sorgt. Wie Calcium und Phosphor ist sie natürlich, unberührt von intellektuellen Winkelzügen. Sie fühlt nicht den Drang, ihr Haus peinlich sauberzuhalten oder in ihrer Freizeit etwas »Nützliches« zu tun. Wenn sie es sich leisten kann, ist sie gerne faul (Kent: »Indolenz«), es sei denn, ihr Partner fordert sie auf, produktiv zu sein. Aber selbst dann wird sie meist passiven Widerstand leisten und tun, was sie will, wenn er nicht da ist (es sein denn, er ist aggressiv genug, um sie in Angst zu versetzen, oder droht damit, sie zu verlassen). Wenn sie in ihrem Element ist, wirkt Pulsatilla wie ein Weinstock, gesegnet mit üppigen Trauben, träge, aber angefüllt mit der Vitalität der Erde, der großzügig, aber fast nonchalant die Umstehenden mit Saft versorgt. In ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau/Geliebte ist sie natürlich und spontan, aber statt wie Calcium eine solide und verläßliche Glucke zu sein, ist sie die Erdgöttin, leidenschaftlich und sinnlich mit ihrem Gefährten, freigebig und entspannt mit ihrem Nachwuchs. Im häuslichen Bereich ist der Unterschied zwischen Pulsatilla und Calcium eher graduell als prinzipiell. Calcium ist bodenständiger, sachlicher und pragmatischer, aber dabei immer noch sinnlich und träge. Pulsatilla ist im wesentlichen sinnlich, fürsorglich und zart in ihren Gefühlen, emotionaler als Calcium, weiblicher und weniger pragmatisch.

Es gibt zahllose Ähnlichkeiten zwischen Pulsatilla und Calcium, und ein Vergleich zwischen beiden Typen hilft, die jeweilige Art zu verdeutlichen, denn dabei zeigen sich die subtilen Unterschiede, die die verschiedenen Essenzen widerspiegeln. Die Essenz von Calcium, so könnte man sagen, ist Struktur, Trägheit und »Materialität«, Ihr geht es um das Dauerhafte, das Praktische und den gesunden Menschenverstand. Die Essenz der erwachsenen Pulsatilla ist Fruchtbarkeit, Sinnlichkeit und Fürsorge. Sie ist der Inbegriff all dessen, was rein weiblich ist. Gleichwohl enthält jeder Typ die Essenz des anderen als zweites »Lebensthema«. Calcium ist sinnlich und fürsorglich, und Pulsatilla beschäftigt sich mit häuslichen Angelegenheiten und ist gewöhnlich eine gute Köchin und Hausfrau, ebenso wie eine liebevolle Mutter und eine leidenschaftliche Geliebte.

Ein ausgezeichnetes (wenn auch etwas extremes) Beispiel einer Pulsatilla-Frau in ihrem Element ist die Gestalt der Emma Badgery in Peter Careys vergnüglichem Roman Illywhacker. Emma wird zunächst als schüchterne, ordentliche Lehrerin im australischen Hinterland beschrieben. Sie verliebt sich schnell in denjungen Charles Badgery, nachdem er ihr zu Hilfe geeilt ist und einen riesigen Waran (eine große Echse) entfernt hat, der eine Stunde lang auf ihrem Rücken gesessen hatte, während sie sich vor lauter Angst nicht zu rühren wagte. Das Paar zieht nach Sydney, wo sie eine Tierhandlung eröffnen und Emma, in echter Pulsatilla-Manier, ihr Leben ohne jede Frage ganz ihrem Mann widmet, glücklich mit ihm arbeitet, klaglos alle schmutzigen und niedrigen Tätigkeiten verrichtet und ihm abends eine leidenschaftliche Geliebte ist. Die beiden leben auf diese Weise in seliger Unschuld, bis Charles, ein Patriot und völlig unsensibler Sulfur, sich mitten im zweiten Weltkrieg, ohne seiner Frau etwas zu sagen, freiwillig zum Wehrdienst meldet. Erst als er fort ist, hört Emma, wo er ist und warum. In Panik eilt sie zu den Kasernen, aber es ist zu spät – er ist nicht mehr dort. Es stellt sich heraus, daß Charles aus medizinischen Gründen nicht kriegstauglich ist, aber die Tatsache, daß er Emma schweigend verlassen hat, hinterläßt in ihrer Beziehung eine bleibende Narbe. Emma wird zur Karikatur einer Pulsatilla.

Als Charles in die Tierhandlung zurückkommt, findet er sie zusammengekauert auf einem Strohlager in einem großen Käfig, ihr jüngstes Kind im Arm. Sie scheint halb wach zu sein, reagiert jedoch nicht auf Charles' inständige Bitten, aus dem Käfig herauszukommen, und winselt nur leise wie ein verletztes Tier (Kent: »Delirium mit Schläfrigkeit«, »Stöhnen im Schlaf«). Obwohl sie allmählich wieder zu einer Art normalem Bewußtsein zurückfindet und den Käfig oft verläßt, um mit ihren Kindern zu spielen oder mit ihrer Freundin Tee zu trinken, schläft sie doch jede Nacht darin. Charles stattet ihn mit Seidenkissen, teuren Vorhängen und einer Matratze aus. Er bedient sie wie ein unterwürfiger Sklave, bringt ihr das Essen und den Tee und fleht sie an, ihm zu vergeben. Sie spricht wenig mit ihm (Kent: »will nicht reden«) und straft ihn mit kindischem Schmollen, während sie gleichzeitig nach der Zuwendung schmachtet, die er ihr zeigt, und den Luxus genießt, der sie in ihrem kleinen, sicheren Käfig umgibt, wo sie an ihre zwei jüngsten Kinder gekuschelt schläft. Ich habe nie eine Pulsatilla-Frau erlebt, die sich so hysterisch benimmt, aber Emmas Hysterie paßt sehr gut zu Pulsatilla. Sie ist eine Reaktion auf den plötzlichen Liebesentzug (Kent: »Beschwerden durch Kränkung«), eine sehr passive Reaktion, die an die Art von Hysterie erinnert, die Pulsatilla in Kents Arzneimittellehre zugeschrieben wird (»puerperale Manie bei einer Frau von mildem, sanftem, tränenreichem Gehabe, die später traurig und schweigsam wurde und dann in ihrem Stuhl saß, den ganzen Tag nichts sagte oder nur mit Kopfbewegungen ein Ja oder Nein andeutete«).

Pulsatilla-Frauen (und auch -Kinder) strafen ihre Familie oft mit einer Art emotionaler Hysterie, die in der Regel auf magische Weise wieder verschwindet, wenn sie sich der Liebe ihrer Angehörigen sicher fühlen. Emmas Hysterie ist interessant, weil sie nicht nur den Ehemann mit größter Hingabe an sie bindet, sondern ihr auch ein kuscheliges Nest und die Art von sinnlichem Luxus verschafft, den Pulsatilla so genießt. Obwohl sie geistig nicht ganz in Ordnung ist, ist sie doch gesund genug, um sich normal mit ihrer Freundin zu unterhalten (solange ihr ungewöhnliches Verhalten nicht zur Sprache kommt) und ihre Kinder zu versorgen. Diese Art von ausgesprochen selektiver Hysterie ist charakteristisch für Pulsatilla. Wenn sie sich in ihrer Partnerschaft nicht sicher fühlt, kann sie sich zwar anderen gegenüber normal verhalten, verlangt jedoch von ihrem Partner absolute Hingabe und ist ständig in Tränen aufgelöst oder zieht sich schweigend zurück, wenn er zu diesem Opfer nicht bereit ist.

Pulsatilla ist ein launisches Geschöpf, das unter logischen Gesichtspunkten schwer zu ergründen ist, voller Widersprüche (so wie Männer sich eine typische Frau vorstellen). Vor allem ihre Einstellung zur Sexualität ist unberechenbar. Die alten Arzneimittellehren weisen immer wieder darauf hin, daß Pulsatilla eine Abneigung gegen Vertreter des anderen Geschlechts oder gegen Sex als solchen hat. Gleichwohl ist Pulsatilla ein sehr sinnlicher, leidenschaftlicher Typ, und sie hängt gewöhnlich sehr an ihrem Partner. Die Abneigung, auf die sich die alten Texte beziehen, hat wahrscheinlich mit einer Kombination von zwei Faktoren zu tun. Erstens reagiert Pulsatilla kindisch, wenn sie sich unsicher fühlt. Dann behauptet sie, diejenigen zu hassen, die sie eigentlich liebt, und verweigert sich sexuell, um ihren Partner zu strafen. Zweitens ist Pulsatilla leicht zu beeindrucken und nimmt die religiösen Lehren ihrer Erziehung sehr ernst und wörtlich, deshalb die Abneigung gegen Sexualität, die Homöopathen des vergangenen Jahrhunderts beschrieben haben, zu einer Zeit, als die Haltung der Kirchen zur Sexualität noch strenger war und stärker befolgt wurde als heute (Kent: »religiös begründete Abneigung gegen das andere Geschlecht«).

Pulsatilla ist ein sehr sensibler und verletzlicher Typ. Sie ist leidenschaftlich, aber es geht ihr mehr um Liebe als um Sex als solchen. Man kann sich leicht vorstellen, daß sie einen Widerwillen gegen Sexualität im allgemeinen entwickelt, sofern sie in ihrer Jugend unangenehme sexuelle Erfahrungen gemacht hat. Sie ist ein außerordentlich romantischer Mensch und kann durch die lüsternen Annäherungsversuche von sexhungrigen Durchschnittsmännern unsanft aus ihren Phantasien über den Traumprinzen erwachen. Andererseits steht Pulsatilla in Kents Repertorium auch unter den Rubriken »lasziv« und »Nyrnphomanie«. Emma Badgery gab sich in ihrem Käfig mit fremden Männern ab, während ihr Ehemann bei der Arbeit war, und ihr jüngster Sohn sah seinem Vater nicht ähnlich, sondern hatte orientalische Züge, über die niemand etwas zu sagen wagte. Mir ist die laszive Pulsatilla bisher nicht begegnet (Kent: »erotischer Wahnsinn«), wahrscheinlich weil dies ein Zug der Hysterie von Pulsatilla ist, der in der heutigen Zeit nicht mehr häufig auftritt.

Verwirrung und Voreingenommenheit

Weil Pulsatilla so emotional ist, sind ihre Gedanken häufig etwas verworren, unklar und ungenau. Pulsatilla-Frauen geben leicht auf, wenn eine rationale Analyse gefordert ist, auch wenn es dabei um praktische Aufgaben geht wie beispielsweise das Auswechseln eines elektrischen Steckers. Wenn sie es überhaupt versucht, wird sie die Drähte wahrscheinlich falsch anschließen. (Ein gutes Beispiel dafür ist die Pulsatilla-Gestalt der Eva in der amerikanischen Lustspiel-Serie Green Acres.) Daß der Stecker am Ende nicht funktioniert, bestätigt Pulsatilla, daß sie solche Aufgaben nicht bewältigen kann, und deshalb wird sie es in Zukunft gar nicht mehr versuchen. Dabei braucht sie im Grunde nur eine geduldige Anleitung, aber oft überläßt sie solche Sachen dann lieber den Männern, nicht nur, weil sie Angst hat, sie würde es nicht schaffen, sondern auch, weil sie sich für logische, rationale Dinge nicht besonders interessiert, ganz gleich ob sie nun praktischer oder theoretischer Art sind. Dabei ist ihr Verstand eher faul als unintelligent, und oft ist er ziemlich eingerostet, weil sie das Denken anderen überläßt. Wenn sie jedoch gezwungen ist zu lernen, entwickelt sie allmählich auch ihre intellektuellen Fähigkeiten.

Pulsatilla ist oft sehr unentschlossen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß sie auf ihre Gefühle hört, die auf jede Möglichkeit sowohl positiv als auch negativ reagieren. Wenn sie beispielsweise versucht, sich zwischen zwei Männern zu entscheiden, die mit ihr ausgehen wollen, dann können ihre Überlegungen so aussehen: »Harold sieht gut aus (leichtes Herzklopfen), ist aber ziemlich ungehobelt (sie stellt sich vor, er könnte sie unsanft behandeln), während Jimmy süß ist (das beruhigt sie, aber sie fürchtet, sich zu langweilen), aber seine Mutter ist so dominierend (deshalbfiirchtet sie sich vor ihr). Andererseits … « Sie denkt fast so wie ein vierjähriges Kind, das sehr voreingenommen ist und dem es an Objektivität mangelt. Genau wie bei diesem Kind dreht sich bei ihr alles um Vorlieben und Abneigungen. Ein deutlicheres Beispiel dafür, wie emotionale Präferenzen Entscheidungen beeinflussen, fand ich bei einer Pulsatilla-Frau, die mich wegen ihrer prämenstruellen Spannungen aufsuchte. Sie war verwitwet und beschäftigte sich gerade intensiv mit Meditationstechniken und esoterischen Philosophien, die sie faszinierend fand, als ihre zwei Schwestern, die beide »wiedergeborene« Christinnen waren, ihr vorwarfen, sie spiele mit dem Teufel, und beide drohten, sie wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, wenn sie auf diesem Weg weitermache. Sie fragte mich, ob ich solche Praktiken für böse halte, nachdem sie sich selbst schon mehr oder weniger davon überzeugt hatte, um so ihren Verzicht zu rechtfertigen und sich damit die Liebe ihrer Schwestern zu bewahren. Ich konnte förmlich spüren, wie ambivalent sie sich fühlte und daß sie gleichzeitig froh und verstört darüber war, als ich sagte, ich könne an ihren Interessen nichts Ungesundes finden. Sie war eine intelligente Frau, befand sich jedoch auf dem besten Weg, sich selbst untreu zu werden, um sich der Liebe zu versichern, die sie brauchte.

Wie andere stark emotionale Typen kann Pulsatilla nervös werden, wenn sie gekränkt ist. Wenn sie Streit mit ihrem Mann harte, kann sie nicht vernünftig denken und vergißt, was sie einkaufen wollte (Kent: »Gedanken verschwinden«), oder sie steigt in den falschen Bus, gerät in Panik und bricht dann in Tränen aus. Wie Phosphor löst sie in ihrer Aufregung sofort Sympathie aus und findet wahrscheinlich einen freundlichen Menschen, der sie nach Hause fährt, wo ihr Mann voller Zerknirschung wartet und auf Zehenspitzen um sie herumschleicht, bis sie wieder zu sich selbst gefunden hat. Hinter ihrer Verwirrung steckt keine Absicht, aber wenn sie aufgeregt ist, verfällt sie wieder in altvertraute Verhaltensmuster aus der Kindheit, indem sie beispielsweise so lange weint, bis sich jemand um sie kümmert und ihr hilft. Wenn keine Hilfe kommt, weint sie, bis sich ihre Erregung verbraucht hat, und anschließend kann sie ihre Gedanken wieder sammeln und überlegen, was zu tun ist.

Naivität

Gemeinsam mit Barium, Graphites und Phosphor gehört Pulsatilla zu den naivsten Konstitutionstypen. Wie ein Kind sagt sie meist ohne Hintergedanken, was sie fühlt und denkt. Ich habe eine Pulsatilla-Freundin, eine junge Frau, die sich große Sorgen über die Umwelt macht und entsetzt war, als sie hörte, daß die Wälder in ihrer Gegend abgeholzt werden sollten. Sie schrieb sofort an den Umweltminister, und der Brief, der in seiner kindlichen Offenheit rührend war, lautete etwa so: »Lieber Herr Minister, bitte stoppen Sie das Abholzen der Bäume, denn sonst sind bald keine mehr da, und die Tiere wissen nicht mehr, wo sie leben sollen.«

Die Pulsatilla-Ehefrau wird wahrscheinlich so naiv wie immer sein, wenn ihr Mann seinen Chef zum Essen nach Hause einlädt. Sie wird kein affektiertes Getue veranstalten, und wenn sie zur Toilette muß, kann es gut sein, daß sie unbefangen erklärt: »Ich geh mal grade Pipi machen«, so als sei nicht der Chef ihres Mannes, sondern ihre Schwester zu Besuch. Ob der Gast diese Naivität als charmant, albern oder unfreundlich empfindet, hängt von seiner Persönlichkeit ab. So können Ehemann und Chef spontan positivauf Pulsatillas naives Verhalten reagieren, oder aber sie erntet vom Chef Verachtung, während der Ehemann wütend wird, weil er sich ausrechnen kann, daß seine Aussichten auf Beförderung dahin sind.

Meine Pulsatilla-Freundin, die den Brief an den Umweltminister schrieb, hatte, was nicht überrascht, eine Pulsatilla-Mutter. Diese brachte ihre Tochter in der Öffentlichkeit ständig in Verlegenheit, indem sie stolz allen und jedem (einschließlich Fremden an der Bushaltestelle) erzählte, welche großartigen Leistungen ihre Tochter vollbrachte und daß sie ihre Ausbildung als Krankenschwester erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie war so stolz auf ihre Tochter, daß sie deren Verlegenheit angesichts solcher öffentlicher Lobpreisungen gar nicht verstehen konnte. Das ist ein anderes Beispiel für Pulsatillas Naivität und ihr geringes Interesse an den Normen des gesellschaftlichen Verhaltens.

Auch bei der erwachsenen Pulsatilla-Frau findet man jede Form von kindlich-unschuldigem Verhalten. Sie ist begeistert wie ein Kind, wenn ihr Partner sie mit einern Geschenk überrascht, Sie ist aufgeregt wie ein Kind bei der Aussicht auf eine Tagestour aufs Land (besonders wenn das nicht oft vorkommt). Und sie ist verstört wie ein Kind, wenn sie bestraft wird und nicht weiß, was sie falsch gemacht hat. Diese Naivität bei erwachsenen Menschen findet man auch bei Phosphor und Barium carbonicum. Letztere ist gewöhnlich ziemlich leicht von Pulsatilla zu unterscheiden, weil Barium typischerweise geistig zurückgeblieben wirkt, was für Pulsatilla nicht charakteristisch ist. Phosphor ist allein aufgrund der Geistessymptome schwieriger von Pulsatilla zu unterscheiden. Bei jedem dieser Typen hat die Naivität jedoch eine andere »Note«, ähnlich wie sich die Emotionalität von Pulsatilla und Ignatia in ihrer »Note« unterscheidet, Die Naivität von Phosphor hat etwas Lausbübisches, Ätherisches wie der Puck in Shakespeares Sommernachtstraum. Sie ist eine androgyne Eigenschaft, die an die Lebensfreude der Jugend erinnert, Die Naivität von Pulsatilla ist weiblicher und verletzlicher und erinnert an die Unschuld eines kleinen Kindes zwischen drei und fünf Jahren, Während die Naivität von Phosphor zu rufen scheint: »Ha, du kriegst mich nicht!«, singt die von Pulsatilla leise von Rosen und Schmetterlingen. Es ist der Unterschied zwischen Peter Pan und Alice im Wunderland. Beide sind liebevoll und sehr offen, aber Pulsatilla ist weicher, persönlicher und emotionaler.

Der Pulsatilla-Mann

Obwohl Pulsatilla als Konstitutionstyp bei kleinen Jungen häufig vorkommt, gibt es nur sehr wenige erwachsene Pulsatilla-Männer. Diejenigen, die ich kennengelernt habe, waren sehr weich, schüchtern gegenüber Fremden und innerhalb der Familie sehr liebevoll. Einer von ihnen klagte über Unentschlossenheit, Er quälte sich mit jeder Entscheidung ab, ganz gleich ob sie wichtig oder trivial war (Kent: »Unentschlossenheit«). Erwartungsgemäß fehlen dem Pulsatilla-Mann sowohl positive als auch negative männliche Eigenschaften, Er hat Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, und neigt dazu, wie Lycopodium und Staphisagria um des lieben Friedens willen nachzugeben. Er ist jedoch viel emotionaler und sensibler als Lycopodium und auch fürsorglicher. Er ist emotional nicht so ausweichend wie Staphisagria, sondern weiß, was er fühlt, und kann seine Gefühle auch ausdrücken, wenn er erst einmal Vertrauen gefaßt hat.

Es wäre nicht überraschend, wenn der Pulsatilla-Mann zu Hause bliebe, während seine Frau berufstätig ist. So feminin, wie Pulsatilla-Männer sind, ist ein gewisses Maß an Rollentausch fast unvermeidlich. Die Pulsatilla-Männer, die ich behandelt habe, waren alle verheiratet, und alle waren mehr mit ihrem Familienleben als mit ihrer Karriere beschäftigt (eine erfrischende Abweichung von der Norm). Einer sagte, er sei unsicher, und seine Frau müsse ihm oft sagen, daß sie ihn noch liebe, aber die anderen wirkten in ihrer Beziehung sicherer. Keiner war »verweiblicht« oder homosexuell. Im Grunde wirkten sie alle recht sachlich und männlich, bekannten sich jedoch auf Nachfrage schnell zu ihren zarteren Gefühlen.

Schüchternheit kann für den Pulsatilla-Mann ein größeres Problem sein, besonders gegenüber dem anderen Geschlecht. Da in unserer Gesellschaft im allgemeinen erwartet wird, daß der Mann der Werbende ist, haben Pulsatilla-Männer bei der Partnersuche mehr mit ihrer Schüchternheit zu kämpfen als die Frauen. Einer meiner männlichen Pulsatilla-Patienten hatte, bevor er seine Frau traf, jahrelang keine Freundin, weil er zu schüchtern war, um Mädchen kennenzulernen. Kent führt Pulsatilla in seinem Repertorium unter der Rubrik »Aversion gegen Frauen« auf. Ich vermute, daß diese Aversion in Wirklichkeit Furcht ist, die durch die Schüchternheit entsteht.

Den Pulsatilla-Mann kann man leicht mit Phosphor-Männern verwechseln, von denen es wesentlich mehr gibt. Beide sind sensibel, und Phosphor-Männer sind oft fürsorglich, aber Phosphor ist weniger schüchtern, beherzter und stärker extrovertiert.

Körperliche Erscheinung

Pulsatilla hat in den meisten Fällen ein charakteristisches Aussehen, zumindest unter Europäern. Das Haar ist gewöhnlich blond oder hellbraun, die Augen sind blau oder grün und die Wimpern nach außen gebogen. Das Gesicht ist eher rund (anders als bei Phosphor und Silicea), und die Haut ist blaß und hat, wie bei Calcium, oft einen blonden Flaum. Die Figur ist im allgemeinen voll, mit runden Hüften und gut entwickelten Brüsten; sie erinnert an Aphrodite, die Göttin der Liebe. Die Lippen sind meist voll und schön geschwungen als Ausdruck der Sinnlichkeit und Sensibilität.

Zusammenfassung

Erwachsene Pulsatillas gibt es nach meiner Erfahrung erstaunlich selten, gemessen an der Häufigkeit, mit der man Pulsatilla-Kindern begegnet. Die meisten Pulsatilla-Kinder wechseln später zu anderen Konstitutionstypen (überwiegend Natrium muriaticum). Nur einige wenige Mädchen werden zu Pulsatilla-Frauen, und noch weniger Jungen werden zu Pulsatilla-Männem. Pulsatilla verkörpert das »weibliche Prinzip« in reinerer Form als jeder andere Typ, und die Tatsache, daß erwachsene Pulsatillas relativ selten sind, spiegelt wahrscheinlich unsere patriarchale Gesellschaft, die das Weibliche unterbewertet und systematisch mißbraucht, bis es so unterdrückt und verdreht ist, daß die Frauen entweder versklavt oder vermännlicht werden. Es gibt eine starke Ähnlichkeit zwischen Pulsatilla und Natrium muriaticum, wobei erstere der natürlichere und letztere der künstlichere Typ ist, der meines Erachtens über Tausende von Jahren durch die Unterdrückung von Gefühlen entstanden ist. Homöopathen verordnen relativ offenen, ausdrucksstarken Natrium-Frauen oft Pulsatilla, was jedoch nicht wirkt. Der Unterschied zwischen einer Pulsatilla-Frau und einer relativ offenen Natrium-Frau scheint anfangs subtil, und der Homöopath muß sehr sensibel sein, um ihn zu erkennen. Grundsätzlich ist Pulsatilla immer sie selbst – reine Emotion, während Natrium lernt, sich selbst mit Hüllen von Effizienz, Rationalität und akzeptablen Ersatzgefühlen zu umgeben. Je mehr bei einer Natrium-Frau die künstlichen Verteidigungsmauern fallen, desto stärker erinnert sie an Pulsatilla. (Es ist jedoch wichtig, sich darüber klar zu sein, daß sie sich dadurch nicht in Pulsatilla verwandelt. Nach meiner Erfahrung ist es selten, daß jemand den Konstitutionstyp wechselt, während es häufig vorkommt, daß Menschen innerhalb ihres eigenen Typs gesündere Charakteristika ausprägen.)