Sepia
Sepia ist ein vorwiegend weiblicher Typ, und wie Ignatia, Pulsatilla und Natrium muriaticum schafft er seinen eigenen, einzigartigen Frauencharakter. Man könnte sagen, jeder dieser Typen repräsentiert einen unterschiedlichen Archetyp des Weiblichen, und wenn man ihre gemeinsamen Essenzen und Eigenschaften kombiniert, entsteht daraus ein Gesamtbild des Weiblichen.
Sepias natürliche Unabhängigkeit unterscheidet sie von anderen Frauen. Sie versucht, sie selbst zu sein, ungeachtet dessen, was andere, und besonders Männer, von ihr erwarten. Darin unterscheidet sie sich von Natrium-Frauen, deren Unabhängigkeitsstreben im allgemeinen eine Reaktion auf den emotionalen Schmerz ist, den sie erlebt haben, eine Art Schutzmechanismus. Sepia ist von Natur aus unabhängig. Sie läuft nicht vor irgend etwas davon wie Natrium – sie ist einfach sie selbst und weigert sich, ihre Persönlichkeit von anderen Menschen manipulieren zu lassen. Diese Unabhängigkeit von Sepia läßt sie nach außen manchmal etwas maskulin wirken, weil wir erwarten, daß Männer unabhängiger sind als Frauen, aber Sepia ist im Grunde nicht vermännlicht. Das verhärtete Äußere einer defensiven Ignatia- oder Natrium-Frau ist maskulin – eine wirkungsvolle, aggressive Fassade als Schutzschild für die innere Empfindsamkeit. Die durchschnittliche Sepia-Frau braucht diese Fassade weniger, und ihre Unabhängigkeit entsteht dadurch, daß sie ihre eigene Einzigartigkeit und das Gefühl der Macht zelebriert, das sie aus ihrer Verbindung mit dem Körper und der Erde gewinnt. Dieses Machtgefühl ist weiblich, denn es hängt davon ab, wie jemand seinen Körper empfindet und darin zentriert ist, und es ist das Resultat einer natürlichen Weisheit, die nichts mit dem Intellekt zu tun hat. Männliche Macht ist im Gegensatz dazu stärker an Aggression, brutale Kraft und den Intellekt gebunden. Der Unterschied ist wie der zwischen Karate, das eine extrem offensive, aggressive Kampfkunst ist und dem Gegner erheblichen Schaden zufügen kann, und Aikido, der »weichen« Kampfkunst, die ganz und gar defensiv ist und nur von der Flexibilität und der Fähigkeit des Übenden abhängt, sich dem Fluß der Bewegungen seines Gegners anzupassen.
Ich habe fünf Untertypen ausgewählt, die verschiedene Eigenschaften der Sepia-Frau repräsentieren. Drei von ihnen sind, historisch gesehen, traditionelle Rollen unabhängiger Frauen. Die anderen beiden, die Abgestumpfte und die Xanthippe, zeigen, was mit Sepia passiert, wenn sie ihre Identität anderen unterordnet, besonders ihrer Familie.
Die Hexe
Die Hexe oder Weise Frau hat es immer gegeben, und normale Sterbliche sind ihr immer mit einer Mischung aus Furcht, Respekt und Faszination begegnet. Ob es die Hexe im Mittelalter war, die Kräutertränke mischte und Zaubersprüche kannte, oder die Priesterin im alten Griechenland oder Indien, die Neophyten in die Mysterien einweihte, die Weisen Frauen haben sich immer ihrem Handwerk und ihrer Weisheit gewidmet und nicht einem Ehemann oder einer Familie. Die meisten Hexen sind Sepia, und die meisten Sepia-Frauen haben etwas von einer Hexe in sich. Sie haben eine gewisse natürliche Hellsichtigkeit, und sie sind gewöhnlich von esoterischen und mystischen Ideen fasziniert. Außerdem haben sie einen gesunden, unabhängigen Verstand, der subtil ist und auch verborgene Mysterien, die sich der Logik nicht erschließen, leicht erfassen kann.
Sepia vertieft sich gerne in verborgene Mysterien, seien sie nun psychologischer oder mehr philosophischer Art (Kent: »theoretisiert«), und wie Phosphor und China hat sie die Sensibilität, in manchen Fällen intuitiv zu erfassen, was sie logisch nicht ableiten kann. Eine Sepia-Frau weiß beispielsweise in der Regel, wenn ihr Mann untreu ist, auch wenn es nicht den kleinsten erkennbaren Hinweis gibt. Sie spürt es einfach. Ganz ähnlich hat sie vielleicht das Gefühl, sie sollte sich von dem netten Kollegen bei der Arbeit fernhalten, und im nachhinein findet sie heraus, daß er ein gefährlicher Psychopath ist, der alle anderen mit seinem angenehmen, normalen Äußeren getäuscht hat. Anders als Phosphor hat sie gewöhnlich genügend innere Klarheit, um ihre Intuition von Ängsten und Wünschen zu trennen, obwohl diese Unterscheidungsfähigkeit nachläßt, wenn Sepia ängstlicher wird.
Sepia ist wie eine Kreuzung zwischen Phosphor und Natrium muriaticumso intuitiv und natürlich wie erstere und so tiefgründig wie letztere. In der Regel ist sie stärker geerdet als Phosphor, bodenständiger und vernünftiger, und deshalb kann sie mehr aus ihren intuitiven Fähigkeiten machen. Natrium ist manchmal auch sehr intuitiv, aber ihre Intuition vermischt sich leicht mit unbewußten persönlichen Ängsten und auch mit Wunschdenken. Sepia kann in bezug auf ihre Intuition unpersönlicher sein und leidet nicht wie Natrium unter dem Zwang, die Dinge entweder positiv oder dramatisch darstellen zu müssen. Sie ist eine natürliche Seherin, die nicht nur über Intuition verfügt, sondern auch in ihrem Körper verankert ist und die Dinge unpersönlich wahrnehmen kann. Im Gegensatz dazu läßt sich Phosphor oft von ihren Phantasien davontragen, und Natrium verquickt ihre Intuition mit höchst persönlichen Neigungen und benutzt sie, um als etwas Besonderes zu erscheinen. Wie wahre Weise Frauen schweigt Sepia meist über ihre intuitiven Fähigkeiten, nicht nur, um der Verachtung zu entgehen (und in der Vergangenheit auch der Verfolgung), sondern auch, weil sie im Hinblick auf ihre Fähigkeiten nicht selbstgefällig ist und ihre Weisheit ihr sagt, daß diejenigen, die ihre Hilfe brauchen, sie auch finden werden.
Hexen können sich entweder der Schwarzen oder der Weißen Magie verschreiben, und wie die Mehrheit der normalen Leute liegen die meisten irgendwo dazwischen. Die »durchschnittliche« Hexe setzt ihre intuitiven Fähigkeiten sowohl zu ihrem eigenen Nutzen als auch für andere ein. Ganz ähnlich ist die durchschnittliche Sepia-Frau weder eine Heilige noch ein Teufelsweib. Sie bevorzugt meist Leute, die sie mag, und ignoriert oder straft auch manchmal diejenigen, die sie nicht leiden kann.
Ich habe einmal eine Sepia-Frau kennengelernt, die gleich neben mir wohnte. Sie war sehr kultiviert und intelligent und außerordentlich selbstbeherrscht. Sie sprach mit einer natürlichen Autorität, die sowohl entspannt als auch frei von Stolz war. Sie studierte traditionelle chinesische Medizin, arbeitete als Shiatsu-Praktikerin und widmete sich dem kreativen Schreiben. Ihre Texte entstanden spontan, als werde sie von der Muse geküßt, und sie waren druckreif. Wie viele Sepia-Frauen umgab sie ein Hauch von Mysterium, nicht das verführerische Mysterium eines Ignatia- oder Natrium-Vamps, sondern etwas Stilleres, voll selbstbeherrschter Tiefe, das den Eindruck großer Weisheit vermittelte. Wir hatten uns zum Essen bei ihr verabredet, und am nächsten Tag rief ich sie an und sagte ab, weil ich einen anderen Termin am selben Abend vergessen hatte. Wochenlang hörte und sah ich nichts von ihr, und als wir uns schließlich wieder begegneten, erklärte sie mir sehr sachlich, sie sei so verärgert gewesen, weil ich ihr abgesagt hätte, nachdem sie das Essen schon vorbereitet hatte, daß sie mich mit einem Zauberspruch verhext hätte. Sie sagte das sehr ernsthaft, und im weiteren Verlauf des Gesprächs erfuhr ich, daß sie einmal eine Beziehung mit einem Magier (einem echten, nicht einem Bühnenzauberer) hatte und von ihm telepathisch belästigt worden war, nachdem sie ihn verlassen hatte. Wenn man Geschichten wie diese von einer beeindruckbaren Phosphor-Frau hört, nimmt man sie nicht ganz ernst. Dasselbe gilt bei einer emotional überschwenglichen Natrium-Frau, die das Rampenlicht sucht, aber diese Sepia-Frau war hochintelligent, sehr nüchtern und auf eine zurückhaltende Weise kraftvoll, so daß ich ihr ohne weiteres glaubte.
Weil Sepia ein natürliches Verhältnis sowohl zur geistigen als auch zur körperlichen Energie hat, werden viele Sepia-Frauen auf die eine oder andere Art zu Heilerinnen. Meine Hexennachbarin war nicht die einzige Sepia-Frau unter meinen Bekannten, die sich der Heilkunst verschrieben hatte. Ich habe mehrere solcher Sepia-Heilerinnen kennengelernt, und jede von ihnen hatte eine charakteristische Gelassenheit, war körperlich anmutig und völlig frei von Stolz. Die meisten Heilerinnen, die ich kennengelernt habe, waren Natrium-Frauen. Einige von ihnen waren relativ natürlich und unbefangen, aber selbst diese Natriums neigten dazu, ihre Kunst übermäßig zu intellektualisieren und eine Menge New-Age-Jargon zu benutzen, und sie bemühten sich außerdem, einen positiven Eindruck zu machen. Sepia dagegen tut einfach, was sie gut kann, und sie hat im allgemeinen nicht das Bedürfnis, irgendwelche intellektuellen Konstrukte zu errichten, um ihr Handeln zu rechtfertigen oder das Positive ausdrücklich zu betonen.
Sepia verkörpert weibliche Weisheit oder Intuition, während Pulsatilla die fürsorgliche und sinnliche Seite der Frau repräsentiert. Sie hat im allgemeinen einen scharfen Verstand, interessiert sich aber nicht für mechanisches oder trockenes, intellektuelles Wissen, was sie den Männern oder den maskulineren Frauen überläßt, Statt dessen konzentriert sie sich auf das Wissen, das direkt mit dem Leben zu tun hat (wie die gesunde Ignatia-Frau). Sepia-Frauen werden deshalb gerne Gärtnerinnen, Tierärztinnen, Ernährungsberaterinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern, aber nicht Geschäftsführer oder Statistiker. Ich habe viele Sepia-Frauen kennengelernt, die Krankenschwestern waren. Wie die Naturheilerinnen lieben sie das Leben und haben Mitgefühl mit den Menschen, aber ihr Intellekt ist im allgemeinen stärker als ihre Intuition, und deshalb wählen sie einen mehr konventionellen und praktischen Beruf.
In den alten Zeiten hatten viele Menschen Angst vor Hexen. Ignoranz und die Lehren der männlich beherrschten Kirche führten dazu, daß Hexen als Ausbund des Bösen galten. Sie wurden verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch heute fürchten sich die Männer noch vor der Kraft einer unabhängigen Sepia-Frau, deren Weisheit und subtiler Verstand die bloße Logik oft mehr als aufwiegt. Weil sie meist zu sich selbst steht und nicht versucht, sich anzupassen oder anderen zu gefallen (wie Pulsatilla und Natrium), ist Sepia oft ein Rätsel für Männer, die entweder von ihrem Mysterium fasziniert sind oder sich von ihr fernhalten. Gesunde Sepia-Frauen behaupten sich in unserer Gesellschaft gegenüber Männern, aber sie versuchen gewöhnlich nicht, mit ihnen zu konkurrieren wie Natrium- und Ignatia-Frauen, denn sie halten ihre weibliche Weisheit in Ehren und ergründen sie lieber in Ruhe. Sie mögen die Brutalität von Männern fürchten, aber sie lassen sich von ihrer Furcht nur selten dazu bewegen, sich an männliche Erwartungen anzupassen.
Diese Selbstbeherrschung und Unabhängigkeit von Männern, die für Sepia so charakteristisch ist, wird sehr schön in der Gestalt der Jenny dargestellt, der weiblichen Heldin in dem Roman Garp und wie er die Welt sah. Jenny hat eine extrem unabhängige Art und lehnt die konventionelle Moral ah, versucht aber nicht, sich als etwas Besseres darzustellen. Da sie sich ein Kind wünscht, aber nicht heiraten will, schläft sie mit einem sterbenden Soldaten, der aufgrund seiner Verletzungen fast bewußtlos ist, aber eine permanente Erektion hat. Sie handelt nicht schlecht oder pervers, sondern kümmert sich in ihrem Pragmatismus einfach nicht um die Konventionen, ohne irgend jemandem weh zu tun (im Buch heißt es, daß der Soldat die Situation sehr genoß).
Ohne große Probleme erzieht Jenny ihren Sohn Garp alleine, denn sie verfügt über alle irdischen Eigenschaften und die Autorität, die der Vater gewöhnlich verkörpert, und ist gleichzeitig ein fürsorglicher Mensch, was ihr auch bei ihrer Arbeit als Krankenschwester zustatten kommt. Als ihr Sohn erwachsen ist, schreibt sie ein Buch über die sexuelle Ausbeutung von Frauen, das zum Bestseller wird und es ihr ermöglicht, ein Rehabilitationszentrum für mißbrauchte Frauen zu gründen. Obwohl dieses Zentrum voll von Frauen ist, die alles Männliche hassen, behält Jenny selbst eine ausgewogene Sicht der Dinge, indem sie die Ausbeutung von Frauen durch Männer verurteilt, aber nichts gegen Männer als Individuen hat. Auch wenn sie mutig für die Rechte der Frauen eintritt, hat sie doch ein weiches Herz und ist durchaus fähig, Zugang zu allen Menschen in allen Lebenslagen zu finden. Wie andere Sepia-Frauen kann sie gegen die patriarchalen Führer der Gesellschaft aufbegehren und dabei weiterhin ihre tiefe Verbindung zur Natur und zum weiblichen Prinzip bewahren.
Die Tänzerin
Jeder Homöopath weiß, daß Sepia-Frauen gerne tanzen und sich durch lebhafte körperliche Bewegung im allgemeinen besser fühlen. Solche Details enthalten auch generellere Informationen über Sepia als Typ, namentlich, daß sie ein gutes Körperbewußtsein hat. Anders als die meisten Menschen heutzutage ist sich die gesunde Sepia-Frau der Energie in ihrem Körper immer noch bewußt, kennt ihren natürlichen Fluß und das Unbehagen, das bei Blockierungen dieser Energie entsteht. Die meisten Menschen haben sich von ihrem Körper in den Intellekt zurückgezogen und nehmen ihre körperliche Energie nicht mehr wahr. Kinder sind sich ihres Körpers bewußt, aber dieses Bewußtsein wird ihnen schnell ausgetrieben von einer überanalytischen Welt, die vergessen hat, wie man fühlt, nicht nur emotional, sondern auch körperlich. Die analytischen Typen wie Lycopodium, Kalium und Natrium haben den Kontakt zu ihrem Körper am stärksten verloren. Spontanere Typen wie Sepia, Phosphor und Medorrhinum behalten ihr Körperbewußtsein bis zu einem gewissen Grad, und das gilt besonders für Sepia, solange sie emotional gesund bleibt. (Den Körper wahrzunehmen, ist nicht gleichbedeutend mit Fitneß, sondern es geht um eine wesentlich subtilere Ebene. Ein Sportler kann eine ausgezeichnete Kondition haben, ohne dabei seine körperliche Energie wahrzunehmen, während eine zarte Silicea-Frau sich völlig im Einklang mit ihrem Körper befinden kann.)
Sepia tanzt nicht nur gerne, sondern fühlt sich auch zu Yoga, Tai Chi und anderen körperlichen Aktivitäten hingezogen, bei denen man physische Harmonie erleben kann. Das hängt damit zusammen, daß sie in solchen Situationen ihre körperliche Energie auf angenehme Weise spürt. Durch diese Aktivitäten behält sie den Kontakt zu ihrer Lebenskraft, und wenn sie sich körperlich nicht bewegt, beginnt sie, sich innerlich abgestorben zu fühlen. Das passiert allen Menschen, die sich wenig bewegen, aber Sepia spürt diese Wirkung am stärksten. Das liegt teilweise daran, daß sie diesen Zustand mit dem Gefühl der körperlichen Vitalität vergleichen kann, aber ich glaube, es hat auch damit zu tun, daß ihr Nervensystem feiner abgestimmt ist als bei den meisten Menschen und deshalb sensibler auf Blockaden reagiert, ganz gleich ob sie körperlicher Art sind oder ob es sich um die abstumpfenden Effekte von Monotonie und Inaktivität handelt. Ein Ackergaul nutzt jede Gelegenheit, faul zu sein, aber ein Rennpferd steht nicht gerne im Stall. Auf ähnliche Weise genießt Calcium es, sich nicht zu bewegen, während Sepia körperliche Aktivität, vor allem rhythmische, harmonische Aktivität, braucht, um sich lebendig zu fühlen.
Manche Leute haben einen natürlichen Rhythmus, und zu ihnen gehört Sepia. Auf dem Tanzboden kann man die Menschen mit natürlichem Rhythmus erkennen. Ihre Bewegungen sind von müheloser Grazie, ganz gleich ob sie einen langsamen Walzer oder einen wilden Beat tanzen. Kalium ist in der Regel der steifste von allen, während Phosphor und Sepia sich im allgemeinen »Iocker vom Hocker« bewegen. Natrium liegt dazwischen und ist zum Teil steif und zum Teil locker. Durch ihr natürliches Gefühl für Rhythmus ist Sepia nicht nur eine gute Tänzerin, sondern auch musikalisch (Kent: »sensibel für Musik«). Es gibt viele begabte Sepia-Musikerinnen und auch viele Sepia-Künstlerinnen. Sepia ist vielleicht nicht ganz so visionär wie Phosphor und Lachesis, aber im Hinblick auf ihre fünf Sinne ist sie oft sehr empfindlich (Kent: »sensibel für sinnliche Eindrücke«), was ihr ein natürliches Geschick nicht nur für Musik und Tanz verleiht, sondern auch für bildende Künste und manuelle Heilverfahren wie Massage und Shiatsu. Im allgemeinen ist ihre Kunst stiller und subtiler als die der stärker extrovertierten Typen wie Phosphor und Lachesis, abgesehen von Tanz und Musik, wo sie genauso wild und ausgelassen sein kann wie andere.
Sepia hat nicht nur eine natürliche Beziehung zu ihrem Körper, sondern steht oft auch im Einklang mit der Erde und ihren natürlichen Kreisläufen. In den alten Zeiten war es vermutlich vor allem Sepia, die tanzte, um die Ernte oder den beginnenden Frühling zu feiern, und bevor diese Tänze allmählich zu Ritualen wurden, könnten es spontane Darbietungen gewesen sein, die in den Körpern sensibler Sepia-Frauen aufwallten. Hexen hatten immer eine enge Beziehung zur Mutter Erde und ihren Kreisläufen und nutzten die Früchte der Erde, um Heiltränke, Aphrodisiaka und auch Gifte herzustellen. Die heutige Sepia-Frau übt ihr Handwerk vielleicht nicht aus, aber wie ihre hexenhaften Vorfahren hat sie ein Gespür für die Erde, ihre Schönheit und verborgene Weisheit, und sie verfällt leicht in eine meditative Haltung, wenn sie sich die Zeit nimmt, in die Natur hinauszugehen (es sei denn, sie hätte sich selbst verleugnet wie so viele Sepia-Frauen, wenn sie sich den Anforderungen der Gesellschaft unterwerfen und zur Abgestumpften oder zur Xanthippe werden).
Weil sie ein bodenständiger Mensch ist und Zugang zu ihrem Körper und zur Erde hat, verfügt Sepia meist über viel gesunden Menschenverstand. Solange sie nicht gerade emotionale Umwälzungen erlebt, ist sie meist praktisch veranlagt und auch handwerklich begabt, beispielsweise beim Weben oder Korbflechten. Darin erinnert sie an Arsenicum, die auch sehr stark in der materiellen Welt verankert ist. Zusammen mit ihrem scharfen Verstand verleiht Sepias Bodenständigkeit ihr häufig einen sarkastischen, untertreibenden Humor und die Fähigkeit, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Obwohl ihr der Wahnsinn unserer Konsumgesellschaft, der Vernichtung von Wäldern, der politischen Korruption und anderer Manifestationen einer außer Kontrolle geratenen patriarchalischen Kultur durchaus bewußt sein kann, neigt sie selten zu Utopien wie Phosphor und Natrium, die in ihrem Idealismus oft blind für die praktische Realität sind. Sepia steht eher auf dem Standpunkt, daß die Art, wie sie es persönlich mit ihrer Gesundheit, der Wahrheit und dem Dienst an anderen hält, für die Menschheit wichtiger ist als irgendwelches Trommelschlagen, für das sie ohnehin nicht geschaffen ist.
Das erinnert mich an eine reizende Sepia-Frau, die ich einmal behandelt habe. Sie war Ballettlehrerin und im Alter von etwa 50 Jahren immer noch zart und graziös. Ihr dunkler Teint, das ergrauende Haar, die hohen Wangenknochen und die dunklen, tiefliegenden Augen ließen sie nicht nur kultiviert, sondern auch subtil, seriös und weise aussehen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie eine Weile unter Darmkrebs gelitten, ehe sie zu einer neuen Entdeckungsreise ins Leben aufbrach. Sie reiste von Australien nach Kalifornien, wo sie sich in San Francisco in einer Missionskirche engagierte. Sie genoß ihre neue Aufgabe als Koordinatorin für soziale Dienste bei diesen Menschen, nicht nur, weil sie gerne helfen wollte, sondern auch, weil sie in ihrer selbstsicheren, unbürgerlichen Art Freude daran hatte, all die verschiedenen Straßendialekte zu lernen, schwarze Hände zu schütteln und Teil einer Kultur zu werden, die im Vergleich zum Mittelklasseamerika (oder -australien) so rauh und voller Leben war. Wie die Hausfrau in mittleren Jahren beim Tanzen auflebt, so lebte sie auf inmitten der betriebsamen Innenstadt von San Francisco.
Viele Sepia-Frauen haben einen ungezähmten Hang zum Unbürgerlichen, zur Boheme. Ich bin sicher, daß es unter Zigeunerinnen mit ihrer dunklen Haut, ihrer Hellsichtigkeit und ihrer Weigerung, sich anzupassen, viele Sepias gibt. Die Hexe und die Tänzerin verbinden sich zu einem gewissen Grad in dieser Frau. Sie ist absolut ferninin, aber weder unterwürfig noch passiv, und wenn sie bedroht oder schlecht behandelt wird, wehrt sie sich wie eine wilde Katze. Die mehr zur Boheme neigenden Sepia-Frauen, die ich kennengelernt habe, waren im allgemeinen emotional gesünder als die anderen, und ich glaube, das hat damit zu tun, daß Sepia von Natur aus ein Freigeist ist und keine angepaßte Hausfrau. Pulsatilla- und Natrium-Frauen können auch als Hausfrauen sie selbst sein, und viele von ihnen können ihre Erfüllung in der Rolle der Hausfrau und Mutter finden. Sepia braucht dagegen ein gewisses Maß an Freiheit und Unabhängigkeit, um glücklich zu sein, und deshalb werden so viele Sepia-Frauen entweder bitter oder deprimiert, wenn sie ihre Individualität im Dienst der Familie opfern.
Jeder Typ kann wie ein Bohemien wirken, aber einige sind das von Natur aus, während andere ihre Fahne nach dem Wind drehen und sie zu imitieren versuchen. Natrium und Phosphor sind gute Imitatoren, und vor allem Natrium spielt manchmal die Rolle der wilden, ungezähmten Frau. Das mag bei einigen bis zu einem gewissen Grad echt sein, ist aber oft nur ein Versuch, »cool« und dadurch begehrenswert zu wirken. Im Gegensatz dazu sind Sepia-Frauen, die als Bohemiens auftreten, gewöhnlich sie selbst und suchen nicht nach Anerkennung. Sie tragen lange Haare und lockere Kleidung, die oft selbstgemacht wirkt, weil das ihrem Freiheitsgefühl entspricht und nicht weil es modern ist.
Andere Typen, die von Natur aus Bohemiens sein können, sind Phosphor, Medorrhinum, Tuberculinum und Ignatia. Sie alle sind meist spontan und künstlerisch veranlagt, Eigenschaften, die integrale Bestandteile des Bohemientyps sind. Sie leben mehr aus der visionären rechten Seite ihres Gehirns als andere Typen und haben deshalb weniger konventionelle Standpunkte. Von all diesen Typen ist Sepia wahrscheinlich die Vernünftigste und diejenige, die am stärksten in ihrer Mitte ruht. Sie sucht nicht oder zumindest nicht vorrangig nach wilden Erlebnissen, sondern ihr geht es eher darum, die Mysterien ihrer eigenen Psyche, ihres Schicksals und der Erde zu erforschen. Sie mag Tänzerin und Künstlerin sein, aber als Bohemien ist sie subtil und bleibt sich selbst treu, während Tuberculinum und Medorrhinum eher wild sind. Weil Sepia nicht viel für Glanz, Nervenkitzel und utopische Ideale übrig hat, kommt sie in konventionellen Familien genauso gut zurecht wie unter gesellschaftlichen Außenseitern. Tuberculinum und Medorrhinum brauchen ihre Anregungen, um glücklich zu sein, und davon bekommen sie als Ehefrau und Mutter meist nicht genug. Sepias Bedürfnisse sind subtiler, und deshalb können sie leicht zugunsten der normalen, vernünftigen Erfordernisse des Hausfrauenalltags vernachlässigt werden.
Sepia muß sich unabhängig und kreativ fühlen, und deshalb wählt sie möglicherweise einen unkonventionellen Lebensstil a la boheme. Weil ihre Bedürfnisse andererseits innerlicher und selbständiger sind als bei anderen spontanen Typen, hat sie vielleicht das Gefühl, daß sie sich auch im Rahmen eines konventionellen Familienlebens den Raum für Meditation, Tanz und Schreiben schaffen kann. Vielen Sepias gelingt das, aber viele andere verlieren allmählich ihr Selbstbild bei dem Versuch, es Ehemann und Kindern recht zu machen.
Während gesunde Phosphor- und Tuberculinum-Typen im wesentlichen extrovertiert sind, ist die gesunde Sepia meist teils introvertiert und teils extrovertiert, wie Medorrhinum. Sie ist im allgemeinen gesellig und kann sich auf die verschiedensten Menschen einstellen, weil sie sie selbst ist. Andererseits braucht sie Zeit, um sich auf sich selbst zurückzuziehen und dann wieder nach außen zu gehen und kreativ zu sein. Sie ist nicht auf eine depressive Art introvertiert und beschäftigt sich nicht mit unangenehmen Gedanken und Gefühlen aus der Vergangenheit (obwohl die weniger gesunde Sepia genau das tun kann), sondern konzentriert sich eher auf ihre meditative Mitte, was durchaus lohnend und keineswegs deprimierend ist.
Die Kurtisane
Einige Leser/innen werden überrascht sein, wenn ich die Kurtisane als Sepia-Untertyp beschreibe, denn Homöopathen denken meist, Sepia habe keine sexuellen Interessen. Das hat damit zu tun, daß die homöopathische Literatur und Lehre sich fast ausschließlich auf die Pathologie von Sepia konzentrieren, die hauptsächlich dadurch entsteht, daß sie sich selbst für einen Mann aufgibt. Die emotional gesunde Sepia-Frau, die ihr eigenes unabhängiges Selbst ist, hat im allgemeinen einen hohen, aber gut kontrollierten Sexualtrieb, und solange sie sich selbst in ihren Beziehungen zu Männern nicht aufgibt und sich der Persönlichkeit des anderen nicht einfach unterordnet, erlebt sie ihre Sexualität als etwas sehr Angenehmes.
Entsprechend ihrer natürlichen Unabhängigkeit behält die gesunde Sepia-Frau gerne die Kontrolle über ihren Körper. Sie kann den Gedanken, der »sexuelle Spucknapf« eines Mannes zu sein, nicht ertragen, und deshalb wird sie entweder auf sexuelle Beziehungen verzichten, bis sie einen Mann findet, der keine Besitzansprüche stellt, oder sie wird sehr kurze, vorübergehende Affären haben. In der Zwischenzeit kann sie ihre sexuellen Bedürfnisse im allgemeinen besser als die meisten Frauen abstellen oder durch andere Aktivitäten wie soziale, künstlerische oder sportliche Betätigungen sublimieren.
Sepia-Frauen, die nicht verheiratet und auch keine Misanthropen sind, erweisen ihrem Körper dadurch Ehre, daß sie sich von Männern fernhalten, bis sie sich von einem besonders angezogen fühlen (dieser Zölibat kann moralisch oder religiös angehaucht sein, aber das kommt nicht häufig vor). Sehr oft fühlt sich Sepia sozusagen magnetisch von einem Mann angezogen. Dieser Magnetismus ist zum Teil sexuell und zum Teil übersinnlich oder spirituell, aber sie verliebt sich nicht so wie viele andere Leute. Sie spürt, daß die Chemie zwischen ihr und diesem Mann stimmt, der oft entweder über eine erhebliche persönliche Stärke verfügt oder ihre subtile Lebensanschauung teilt. Eigentlich wird Sepia häufiger von einer intellektuellen oder spirituellen Übereinstimmung angezogen als vom Gleichklang der Herzen. Sie ist zwar durchaus zur persönlichen Liebe fähig, aber das ist nicht der wichtigste Aspekt ihrer Beziehungsfähigkeit, die entweder körperlich, geistig oder spirituell, aber weniger emotional geprägt ist. Infolgedessen können Sepia-Frauen en im Vergleich zu wärmeren Typen ziemlich kalt und reserviert wirken (Kent: »gleichgültig gegenüber Angehörigen«).
Mit Sicherheit ist die emotional kranke Sepia-Xanthippe sehr kalt, und die apathische Sepia-Abgestumpfte hat überhaupt keine Gefühle mehr, aber selbst die gesunde Sepia-Frau hat eine gewisse Distanz zu anderen Menschen. Dabei geht es nicht um Selbstschutz wie bei Natrium, sondern Sepia ist eher wie die Arsenicum-Frau: Sie liebt freundlich, ohne sich zu unterwerfen und ohne ihre Unabhängigkeit aufzugeben, oder sie liebt im Augenblick leidenschaftlich und geht dann wieder ihrer Wege. (Ich kann mir keine Hexe vorstellen, die sich für einen Mann aufopfert, aber ich kann mir sehr wohl eine gleichrangige Partnerschaft zwischen einer Hexe und einem Magier vorstellen, die Zuneigung, Respekt und sexuelle Leidenschaft einschließt.)
Die Kurtisane ist vielleicht der extremste Ausdruck der sexuellen Unabhängigkeit von Sepia, aber sie paßt gleichwohl ins Bild. Anders als gewöhnliche Prostituierte genossen Kurtisanen in der Gesellschaft einen beachtlichen Respekt. Sie waren stolze Frauen, die nur mit den Edlen, den Reichen oder den Männern, die sie attraktiv fanden, schliefen. Ich habe einmal eine Sepia-Frau kennengelernt, die genau das tat. Sie war eine hochintelligente und kultivierte Künstlerin, die Japanisch studiert und eine Weile in Japan gelebt hatte. (Sepia-Frauen fühlen sich oft von japanischer Kunst angezogen, weil sie Gelassenheit, Subtilität und körperliche Harmonie ausdrückt.) Während sie in Japan studierte, ging ihr das Geld aus, und da sie immer schon ihre Sexualität intensiver hatte erforschen wollen, entschied sie sich, eine Prostitutierte von Rang zu werden. Sie schlief mit reichen Männern, verlangte viel Geld dafür und genoß das eine Weile. Als die Faszination nachließ, beendete sich die Sache. Sie erzählte mir das alles ohne ein Zeichen von Verlegenheit oder Scham. Sexualität war für sie etwas, das man wie alles andere erforschen konnte, und wenn sich damit auch noch Geld verdienen ließ, um so besser.
Nur wenige Sepia-Frauen werden Kurtisanen, aber viele haben die distanzierte, unmoralische Leidenschaft einer Kurtisane, eine Leidenschaft, die nicht zwanghaft ist wie bei Platina (außer im Moment), die aber in Gegenwart des richtigen Partners sofort aufflammen kann. Zu anderen Zeiten ruht sie eher, als daß sie unterdrückt würde. Viele Sepia-Frauen ertragen den Zölibat so mühelos, daß man annehmen könnte, sie hätten gar keinen Sexualtrieb, aber das stimmt nicht. Wenn sie gesund sind, ist ihr Leben ihre Leidenschaft, und das kann sexuelle Leidenschaft einschließen oder auch nicht, je nachdem mit wem sie zusammen sind.
Es gibt eine historische Verbindung zwischen der Kurtisane und der Weisen Frau. Sexualität wurde in okkulten Traditionen immer benutzt, um subtile Energien zum Fließen zu bringen und zu lenken. Hexen und Magier hatten im Mittelalter den Ruf, sie würden bei der Schwarzen Messe in Orgien schwelgen. Das hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun und war vermutlich eine Reaktion auf die damalige Unterdrückung der Sexualität durch die katholische Kirche (und wurde von der Kirche in ihrem eigenen Interesse zweifellos übertrieben). Gleichwohl kann man ein sexuelles Ritual dieser Art durchaus als eine Möglichkeit betrachten, die die Beteiligten ihre Kraft spüren ließ, wenn auch in einer degenerierten Form. Dabei wurde die Frau nicht von einem Mann erobert, sondern es war eher ein Zusammentreffen von Gleichberechtigten, charakterisiert durch Lust und möglicherweise auch durch einen bestimmten mystischen oder dionysischen Bewußtseinszustand, aber nicht durch liebevolle Zuneigung. In diesem Sinne entspricht es der sexuellen Praxis vieler Sepia-Frauen. Aber auch höhere Formen der sexuellen Magie wurden in der Vergangenheit und werden bis heute praktiziert. Im alten Griechenland und im alten Indien war die Priesterin höchstwahrscheinlich eine Sepia-Frau. Sie war eine Seherin, die niemandem außer Gott Rechenschaft schuldete. Zu ihren heiligen Pflichten gehörte die Initiation der Neophyten durch sexuelle Vereinigung. Sofern sie durch eine ausreichende Meditationspraxis vorbereitet waren, wurde diese Einweihung eher als mystisch denn als lustvoll empfunden, und sie eröffnete den Neophyten neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. Die Priesterin wußte, wann ein Neophyt für die Initiation bereit war, und traf ihre Wahl nicht aufgrund einer sexuellen Anziehung.
In den spirituellen Traditionen des Ostens wird Tantra auch heute noch praktiziert, und es gewinnt im Westen an Popularität. Wahres Tantra hat nicht das geringste mit Lust zu tun und kann nur von spirituell fortgeschrittenen Menschen erfolgreich praktiziert werden. Durch die sexuelle Vereinigung erhöhen die Tantra-Liebenden die Energie in ihrem Körper, bis sie ihren Geist erleuchtet und ein Zustand der Bewußtseinserweiterung eintritt. Diese und andere Formen der sexuellen Magie sind für Sepia besonders attraktiv, weil sie so ein subtiles Bewußtsein ihrer eigenen Körperenergie hat und dazu neigt, Sex entweder als eine natürliche Funktion wie Essen und Trinken zu betrachten, die weder moralisch noch unmoralisch ist, oder aber als eine heilige Handlung. Mehr als die meisten anderen Typen kann sie durch Tanz und Meditation meist genauso in Ekstase kommen wie durch Sex mit dem richtigen Partner.
Sepias Unabhängigkeit, sowohl sexuell als auch anderweitig, wird oft der männlichen Vorherrschaft geopfert, und wenn das geschieht, ist das Ergebnis die Bitterkeit der Xanthippe und die Apathie der Abgestumpften.
Die Xanthippe
Als meine Sepia-Nachbarin mich »verhexte«, benahm sie sich wie eine Xanthippe. Wenn ihr jemand, und besonders ein Mann, in die Quere kommt, kann Sepia sehr ärgerlich werden, und wenn sie oft genug enttäuscht oder aufs Kreuz gelegt worden ist, kann dieser Ärger chronisch werden und zur Bitterkeit führen. Nur wenige Sepia-Mädchen wachsen emotional wirklich gesund auf. Sie sind von Anfang an benachteiligt, weil die Familie ihr unabhängiges, meditatives Wesen oft nicht erkennt und sie deshalb auch nicht fördert oder sogar gezielt dagegen arbeitet, weil sie ein solches Verhalten bei Mädchen für unpassend hält. Wenn Sepia als Kind sie selbst sein darf, entwickelt sie genügend Selbstsicherheit, um später Lebensbedingungen und Beziehungen zu vermeiden, in denen sie schlecht behandelt wird, und sie hält ihre eigenen Interessen, die künstlerischer und/oder metaphysischer Art sind, in Ehren. Wenn ihr Vater jedoch von ihr erwartet, daß sie ihn respektiert, obwohl er sich respektlos oder albern benimmt, reagiert sie mutig, indem sie zunächst passiven Widerstand leistet und dann heftiger wird, sobald er versucht, ihre Rebellion zu unterdrücken.
Sepia-Jugendliche sind für ihre Launen bekannt, die heftig und explosiv sein können. Im allgemeinen geht man davon aus, daß sie sowohl mutig sind, was stimmt, als auch von Natur aus reizbar oder cholerisch. Sepia-Jugendliche werden jedoch nur reizbar, wenn sie sich unverstanden fühlen und nicht ihr unabhängiges und feinsinniges Selbst sein dürfen. Während andere Typen wie Natrium und Lycopodium sich vielleicht dem Druck der Eltern unterwerfen und »normal«, gehorsam und abhängig werden, leistet Sepia diesem Druck lange Zeit Widerstand mit Temperamentsausbrüchen und Tränenströmen, über die ihre wohlmeinenden Eltern völlig verwirrt sind. Schließlich werden ihr eigener Verstand und ihr Körper zum Schlachtfeld, wenn der Druck der Konditionierung ihr Selbstgefühl zu überwältigen droht und sie nicht mehr weiß, wer sie ist, was richtig ist und warum sie die meiste Zeit so empfindlich und reizbar ist. Von diesem Moment an reagiert sie übersensibel auf Kritik und Widerspruch jeder Art (Kent: »Ärger durch Widerspruch«, »leicht beleidigt«), besonders wenn sie von Männern kommen, die sie zu fürchten und abzuwehren gelernt hat, weil sie oft versuchen, sie zu zähmen. Die Spannung, zu der dieser Kampf zwischen Sepias unabhängiger, empfindsamer Natur und den unsensiblen Versuchen der Gesellschaft, sie zu verbiegen, führt, erreicht oft eine solche Intensität, daß sie am liebsten schreien (Kent: »hat das Gefühl, sie müßte schreien«) oder das Geschirr zerschlagen würde. (Wenn sie das wirklich tut, hilft es, die innere Spannung zu lösen und ihre Gesundheit wiederherzustellen.)
Oft heißt es, Sepia leide unter einem Verlust der Weiblichkeit, was sich durch Abneigung gegen Männer, Gleichgültigkeit gegenüber ihren Kindern und Aggressivität ausdrücke. All dies kommt vor, aber nicht so sehr, weil Sepia ihre Weiblichkeit verloren hätte, sondern eher, weil sie ihre Unabhängigkeit geopfert hat. Sepia ist von Natur aus sehr feminin, aber ihre Weiblichkeit ist von besonderer Art, intuitiv und sensibel für das Leben und den Körper. Sie repräsentiert den einen Pol des Frauseins, während Pulsatilla das andere, mehr fürsorgliche Extrem darstellt. Sepia wird aggressiv und entwickelt schließlich einen Haß auf Männer (Kent: »Abneigung gegen das andere Geschlecht«), wenn sie durch ihre Erziehung und die Gesellschaft gezwungen wird, ihre eigene Art der Weiblichkeit zu verleugnen.
Wie andere überwiegend weibliche Typen neigt Sepia zu hormonabhängigen Stimmungsschwankungen. Als Psychotherapeut habe ich festgestellt, daß solche hormonabhängigen Launen immer eine Folge der Unterdrückung von Ärger und Traurigkeit in der Kindheit sind, aber auch mit den aktuellen Lebensbedingungen zu tun haben, und sie verschwinden, wenn die Patientin Iernt, sich ihre unterdrückten Emotionen in ihrem ursprünglichen Zusammenhang (d. h. Ärger auf den Vater und nicht Ärger, der auf den Ehemann projiziert wird) wieder bewußtzumachen und voll zu erleben.
Manchmal kommt es bei Sepia tatsächlich zu pathologischen Hormonwerten, aber diese spiegeln nur die unterdrückten Emotionen, und sie verschwinden, wenn die Emotionen aufgelöst worden sind. (Vgl. Arthur Janov: Der neue Urschrei, wo nachgewiesen wird, daß die Auflösung unterdrückter Emotionen zur Normalisierung körperlicher Funktionen führt.) Häufiger sind Sepias Hormonwerte zwar normal, aber der rasche Wechsel im Hormonstatus, der vor der Menstruation, nach einer Geburt und im Klimakterium auftritt, führt zu einer emotionalen Labilität, weil er die normalen Unterdrückungsmechanismen destabilisiert, die unseren unterdrückten Schmerz zurückhalten (bei jedem von uns). Sepia neigt in diesen Zeiten besonders zu Ärger und Reizbarkeit, weil sie von Natur aus ein eigenwilliger, unabhängiger Typ ist. Natrium dagegen tendiert während dieser Phasen eher zu Traurigkeit, weil ihr Bedürfnis nach Liebe und ihre Empfindlichkeit gegenüber Liebesentzug größer sind als ihr Unabhängigkeitsbedürfnis.
Wenn Sepia gekränkt ist, reagiert sie entweder verärgert oder bricht in Tränen aus (Kent: »weinen – unfreiwillig«, »Stimmung – tränenreich«), und ihre Tränen fließen in den meisten Fällen sehr leicht, wenn sie nicht emotional ausgelaugt ist, wobei dann Apathie und emotionaler Stumpfsinn vorherrschen. Ihre Tränen sind gewöhnlich eher ein Ausdruck von Wut und Spannung als von Traurigkeit. Sie können durch jede Kleinigkeit ausgelöst werden, wenn sie vor der Periode oder generell angespannt ist, weil sie irgendwelche Probleme hat. Auch hier leiden wiederum die Sepias, die ihre natürliche Unabhängigkeit geopfert haben, am meisten unter den hormonbedingten Stimmungsschwankungen, denn sie mußten am stärksten ihren Ärger unterdrücken.
Verschiedene Konstitutionstypen neigen vor der Periode zu Ärger und Tränenausbrüchen. Dazu gehören Natrium, Sepia, Lachesis und Alumina. Wenn die Tränen unterdrückt werden, handelt es sich überwiegend um Natrium, während man an Sepia und Lachesis denken sollte, wenn die Tränen frei fließen und die Wutausbrüche plötzlich und heftig sind. Diese beiden Mittel kann man gewöhnlich leicht unterscheiden, weil Sepia frostig und Lachesis warmblütig ist. Es gibt jedoch auch viele Frauen, die irgendwo dazwischen liegen, manchmal weinen, manchmal gereizt sind, gelegentlich auch Wutanfälle haben, wo jedes der erwähnten Mittel oder ein anderes angezeigt sein kann und andere Symptome des Falles für die Arzneiwahl von größerer Bedeutung sind. Sepia wird oft benötigt, wenn die Frau darüber klagt, sie werde vor der Periode etwa eine Woche oder länger »ein anderer Mensch«, und während dieser Zeit sei sie ein wahrer Teufel, fahre jeden Menschen in ihrer Umgebung an, beklage sich über jede Kleinigkeit und zerschlage in der Küche die Gläser. Obwohl ihr Problem eine Folge von unterdrückter Wut ist, kann es durch eine Hochpotenz Sepia oft gelindert oder geheilt werden. (Wahrscheinlich löst das Mittel einen Teil der Spannung im Nervensystem, die durch die unterdrückte Wut entstanden ist, und es verringert auch das durch die Hormonschwankungen bedingte »Durchsickern« von Emotionen durch die Barriere zwischen Unterbewußtsein und Bewußtsein.)
Jeder Konstitutionstyp kann eine gewisse Bitterkeit entwickeln, aber charakteristisch ist sie nur für einige wenige, vor allem Arsenicum, Natrium muriaticum, Sepia und Nux. Sepia ist im Grunde weniger anfällig für Bitterkeit als Natrium, weil sie ihre Wut nicht so stark unterdrückt. Nach dem Wutausbruch ist die Spannung wieder gelöst. Sie ist häufiger einmal vorübergehend verärgert, was sich aber relativ schnell legt, nachdem sie explodiert ist, besonders wenn derjenige, über den sie sich geärgert hat, sich bei ihr entschuldigt. In vielen Fällen ist das ihr Ehemann oder Partner, der sie auf irgendeine Weise für allzu selbstverständlich genommen und so die permanente Spannung aktiviert hat, die damit zusammenhängt, daß sie ihr wahres Wesen verleugnet. Dagegen tendiert Natrium mehr dazu, ihre Wut lange Zeit zu unterdrücken, weil sie Angst hat, die Liebe ihres Partners zu verlieren, und wenn sie schließlich »ausflippt«, wird sie vielleicht monatelang wütend sein, und während dieser Zeit kann keine Entschuldigung sie beschwichtigen.
Im Hinblick auf Sepias Tendenz, gegen die männliche Vorherrschaft zu rebellieren, kann man damit rechnen, viele Sepias in der Frauenbewegung zu finden. Das ist tatsächlich der Fall, obwohl ihre Zahl deutlich von Natrium übertroffen wird, weil es einfach weiter verbreitet ist. Wie die Natrium-Feministin hat auch die Sepia-Feministin gewöhnlich einen scharfen Verstand, mit dem sie die Apologeten des patriarchalischen Systems aufs Kom nimmt. Dabei ist sie leidenschaftsloser als ihre Natrium-Schwestern, die eher zu Haßgefühlen neigen. (Natrium wird in Kents Repertorium kursiv unter der Rubrik »Haß« aufgeführt, während Sepia dort überhaupt nicht steht.) Wie Jenny, die Sepia-Heldin in Garp und wie er die Welt sah, konzentriert sich die Sepia-Feministin lieber darauf, die umfassenderen Themen der Frauenpolitik zu klären, während Natrium-Feministinnen mehr auf Rache aus sind. (Trotzdem gibt es auch eine Menge von Natrium-Ferninistinnen, die mit dem Thema vernünftig und leidenschaftslos umgehen.)
Die Abgestumpfte – Apathie und Unfähigkeit
Wenn Sepia ihr wahres Wesen erst einmal lange genug verleugnet hat, beginnt sie, ihren Mut zu verlieren. Wenn das passiert, stirbt ihr Lebenshunger allmählich ab. Sie handelt dann mehr und mehr wie ein Roboter und geht ihren gewohnten Aktivitäten ohne Begeisterung und ohne jede innere Motivation nach. Weil sie den Kontakt zu ihrer eigenen Lebenskraft verloren hat, fühlt sie sich körperlich und geistig träge (Kent: »Stumpfsinn, Trägheit«), und ihre Emotionen sind ebenfalls abgestumpft, so daß sie allem gegenüber gleichgültig wird. Besonders häufig passiert das der Sepia-Hausfrau, die außerhalb der Familie keine Interessen hat, die ihr Anregungen geben könnten. Als die Kinder kamen, hat sie ihren Sport aufgegeben und hatte auch keine Zeit mehr, Gedichte zu schreiben. Vielleicht hat sie allmählich auch die Inspiration verloren, als sie zunehmend darin aufging, Babys zu füttern, Windeln zu wechseln und das Essen zu kochen. Wenn sie sich selbst verliert, beginnt Sepia sich darüber Sorgen zu machen, daß sie immer weniger für ihren Mann und ihre Kinder empfindet (Kent: »Gleichgültigkeit gegenüber Angehörigen«), ganz abgesehen von ihrer Reizbarkeit. Sie verliert auch ihre frühere Freude an Geselligkeit, Essen, Trinken und Sex (Kent: »Gleichgültig gegenüber Vergnügungen«).
Wenn dieser Zustand weiter fortschreitet, empfindet die Sepia-Frau einen immer stärkeren Verlust an Energie, und es wird für sie immer schwieriger, den Alltag zu bewältigen (Kent: »Abneigung gegen Beschäftigung«). Sie steht morgens auf und denkt mit Schrecken an den vor ihr liegenden Tag, weil sie keine Energie und keine Motivation hat. (In diesem Stadium ist die Verbesserung durch Tanzen oder lebhafte sportliche Aktivitäten am stärksten spürbar.) Vielleicht hat sie auch keine Geduld mehr im Umgang mit den Kindern und brüllt sie wegen jeder Kleinigkeit an. Am Abend versucht sie, ihrem Mann gegenüber ein fröhliches Gesicht zu machen, aber das schafft sie nicht lange, weil sie dafür all ihre Energie braucht. Im Bett hat sie keine Lust auf Sex und schreckt oft zurück, wenn ihr Mann sie berührt (Kent: »fürchtet Berührung, Kontakt«). Wenn sie trotzdem mit ihrem Mann schläft, empfindet sie nichts, oder sie fühlt sich anschließend weinerlich und reizbar. Ihr Denken wird immer langsamer, bis sie schließlich bei den einfachsten Dingen Fehler macht (Kent: »geistige Erschöpfung«). Sie läßt das Essen anbrennen, gibt Bleichmittel statt des Weichspülers in die Wäsche und vergißt Verabredungen. Allmählich gerät sie in Panik, weil es mit ihr abwärtsgeht und sie spürt, daß sie mit der Situation nicht mehr fertig wird. Ohne Grund bricht sie in Tränen aus, und sie weint jedesmal, wenn sie jemandem erzählt, wie sie sich fühlt (Kent: »weint, wenn sie über ihre Symptome berichtet«). Schließlich wird sie immer ängstlicher, weil sie nicht mehr fähig ist, ihr Leben zu bewältigen.
Zunächst sind ihre Ängste realistisch: Im Prinzip fürchtet sie, daß sie nicht mehr fähig ist, ihren Alltag zu meistern. Wenn sie ihre täglichen Aufgaben nicht mehr erfüllen kann, nehmen die Ängste zu. Sie beginnt sich davor zu fürchten, daß etwas Schreckliches passieren könnte, daß sie eine tödliche Krankheit hat oder daß ihr Mann sie verlassen wird. Sie macht sich extreme Sorgen über finanzielle Angelegenheiten, und sie fürchtet, sie könnte geisteskrank werden (Kent: »Angst, wahnsinnig zu werden«). In ihrer Ängstlichkeit kann sie sehr ruhelos werden und hat vielleicht das Gefühl, sie müsse aus dem Haus gehen (wahrscheinlich weil die Hausarbeit und ihre Identität als Hausfrau sie ihrer selbst beraubt haben). Vielleicht entwickelt sie aber auch eine Agoraphobie und gerät in Panik, wenn sie nicht zu Hause ist. Das hat teilweise damit zu tun, daß sie sich vor Menschen fürchtet und nicht fähig ist, die sozialen Erwartungen zu erfüllen. Sogar zu Hause kann sie große Angst vor Besuchern haben, weil sie sich nicht mehr in der Lage fühlt, mit ihnen zu reden. Sie zieht sich mehr und mehr zurück, während gleichzeitig ihre Furcht wächst, wenn sie alleine ist. Sie möchte jemanden um sich haben, der sie beruhigt, aber sie möchte nicht sprechen müssen. Schließlich fühlt sie sich so hoffnungslos, daß sie an Selbstmord denkt, obwohl ihre Angst und ihre Depression in der Regel schon vorher mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln gedämpft werden. Diese helfen ihr zwar, den Alltag zu bewältigen, aber was sie eigentlich braucht, ist eine Möglichkeit, die Uhr zurückzudrehen und sich selbst wiederzufinden, um ihr Leben dann so zu organisieren, daß sie Zeit für sich findet.
Der geschilderte Ablauf kann von Fall zu Fall etwas variieren. Manchmal ist die Angst stärker als die Apathie, manchmal ist Weinen der hervorstechendste Zug, manchmal wird hauptsächlich über Stumpfsinn und Gleichgültigkeit geklagt. Es kann ziemlich schwierig sein, die depressive Sepia-Frau von einer depressiven Natrium zu unterscheiden. Im allgemeinen fließen die Tränen bei Sepia leicht, aber manchmal werden sie auch unterdrückt, und manchmal weint eine depressive Natrium sehr leicht. Außerdem sind manche depressiven Natriums sehr apathisch. Einige Sepia-Frauen verfallen in tiefe Depressionen, die von einer tiefen Natrium-Depression kaum zu unterscheiden sind: Sie ziehen sich zurück und brüten vor sich hin, klagen sich selbst an, sind voller Verzweiflung und neigen dazu, sich mit unangenehmen Ereignissen aus der Vergangenheit zu beschäftigen. In diesen Fällen helfen die Allgemein- und Körpersymptome und die Kenntnis der früheren Persönlichkeit bei der Unterscheidung. Man kann sich im allgemeinen darauf verlassen, daß Natrium-Menschen auch Natrium-Depressionen entwickeln und Sepias Sepia-Depressionen (d. h. Depressionen, die auf Sepia reagieren), obwohl es von dieser Regel gelegentlich Ausnahmen gibt. So kann eine Sepia-Frau beispielsweise nach einem schmerzlichen Verlust in einen Natrium-Zustand geraten, oder eine Natrium-Frau gerät während der Schwangerschaft in einen Sepia-Zustand (obwohl es wahrscheinlicher ist, daß sie während der Schwangerschaft Natrium-Syrnptome entwickelt). Auch in diesen Fällen helfen die allgemeinen und körperlichen Symptome bei der Auswahl der richtigen Arznei.
Furcht findet man bei Sepia-Frauen häufig, aber sie tritt überwiegend bei den Sepias auf, die ihre wirkliche Identität verloren haben. (Das kann schon in den ersten Lebensjahren geschehen.) Sepia-Frauen, die sich ihre Unabhängigkeit und Kreativität bewahren, seien sie nun verheiratet oder nicht, sind meist relativ furchtlos. Mir sind aber oft Sepia-Frauen begegnet, die irgendwo dazwischen lagen. Sie versuchten, ihre verlorene Unabhängigkeit wiederzufinden, und waren oft hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, sie selbst zu sein, und dem Wunsch, sich auf eine Beziehung einzulassen. Sepia kann beides miteinander vereinbaren, aber nur mit einem Mann, der nicht versucht, sie zu beherrschen. Er braucht weder ihre Interessen zu verstehen noch ihre subtile Sensibilität teilen, aber wenn er ihr nicht erlaubt, sie selbst zu sein, wird Sepia entweder untergehen oder ihn verlassen.
Viele Sepia-Frauen machen sich der emotionalen Sicherheit wegen von Männern abhängig, aber auch um praktische Hilfe und Unterstützung bei Entscheidungen zu bekommen. Diejenigen, denen klar wird, daß sie ihre verlorene Identität wiederfinden müssen, erleben meist Phasen großer Verwirrung, in denen sie nicht wissen, wer sie sind und was sie wollen, und in diesen Phasen können sie ziemlich ängstlich sein, weil sie versuchen, sich aus Abhängigkeiten zu befreien, die sie sowohl eingeschränkt als auch unterstützt haben. Insbesondere haben solche Frauen oft Angst vor Männern, speziell vor aggressiven Männern, weil sie versuchen, sich selbst ohne die gewohnte Unterstützung zu behaupten, bevor sie wieder ein Gespür für ihre eigene Kraft entwickelt haben.
Diese »Weder-noch-Sepias«, die weder unabhängig sind und Selbstvertrauen haben noch sich dem Konformitätsdruck völlig unterwerfen, wirken manchmal auf eine gewisse Art »zerstreut«, Sie sind emotional hin und her gerissen zwischen der Sicherheit, die es bedeutet, sich als Frau an die gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, und der Frustration, die damit verbunden ist. Dieser innere Kampf ist für viele Sepia-Frauen (und -Mädchen) so verwirrend, daß sie von Zeit zu Zeit etwas verstört wirken. Da sie oft sehr unbekümmerte Menschen sind, lachen sie vielleicht einfach, wenn sie etwas Falsches sagen oder etwas Unsinniges tun und beispielsweise ihrem Mann das Katzenfutter hinstellen, während Mieze die Pastete bekommt. Die Rollen, die die Schauspielerin Shirley MacLaine im Film spielt, demonstrieren oft diese Art von Zerstreutheit ebenso wie einen starken Zug zur Unabhängigkeit und häufig auch einen sarkastischen Humor. Phosphor ist ebenfalls oft zerstreut, und vielen Sepia-Frauen, besonders den mehr extrovertierten, temperamentvollen, wird fälschlicherweise Phosphor verordnet. Aber selbst eine zerstreute Sepia-Frau ist im allgemeinen geistig besser konzentriert als Phosphor, jedenfalls die meiste Zeit. Außerdem ist Sepia bei weitem nicht so verträumt wie Phosphor. Sie kann sich zwar manchmal sehr darüber aufregen, wie andere leiden, aber sie ist selten für lange Zeit von den Gefühlen anderer überwältigt oder betroffen, während Phosphor so mitfühlend sein kann, daß sie sich selbst völlig an einen anderen Menschen verliert.
Um die Situation für den Studenten und den unerfahrenen Homöopathen noch weiter zu verwirren, haben viele der »unentschiedenen« Sepias auch die Unschuld von Phosphor. Sie sind in bezug auf die Dinge der Welt oft ziemlich naiv, weil sie sich einerseits sehr stark auf den Schutz von Männern verlassen und sich andererseits nur wenig für Politik, finanzielle Angelegenheiten oder soziale Verhaltensregeln interessieren. Am liebsten würden sie nur ihren eigenen kreativen Beschäftigungen nachgehen, ihre Freundschaften pflegen und die Dinge der Welt den Männern überlassen. Das kann auch für die unabhängigere Sepia-Frau gelten, nicht weil sie unfähig wäre, politische und wirtschaftliche Probleme zu verstehen, sondern eher, weil sie weiß, daß sie ihre Seele verlieren wird, wenn sie versucht, sich in diese irgendwie unmenschliche Welt zu begeben.
Sepia-Frauen, die den Weg der Selbstentdeckung (oder Selbsterinnerung) bis ans Ende gehen, finden als Belohnung den Frieden und das Verständnis der Weisen Frau, die Freude der Tänzerin und die Befriedigung einer liebevollen Beziehung, in der die Partner nicht gebunden oder geschwächt sind. Sepia kann eine liebevolle Ehefrau und Mutter sein, ohne ihre Identität aufzugeben. Die gesunde Sepia-Mutter ist ihren Kindern gegenüber weniger sentimental und weniger besitzergreifend als die meisten anderen Mütter, aber sie ist nicht kalt. Ihre eigene geistige Stärke färbt oft auf die Kinder ab und macht diese unabhängiger und individualistischer als andere Kinder. Sie ist in ihrer Ehe eine gleichwertige Partnerin und übernimmt genauso viel Entscheidungen und Verantwortung wie ihr Mann, aber das bedeutet nicht, daß sie unweiblich wäre. Im Gegenteil, ihre Weisheit, ihre natürliche Verbindung mit ihrem Körper und ihre unterschätzte, etwas mysteriöse Sexualität sind in höchstem Maße weiblich, auf eine starke, kompromißlose Weise.
Der Sepia-Mann
Über Sepia-Männer kann ich nur sehr wenig sagen, weil ich nur zwei behandelt habe und deshalb glaube, daß sie sehr selten sind. Einer dieser Männer sah ähnlich aus wie Sepia-Frauen, schmal gebaut, knochig und mit einem sehr dunklen Teint. Er war ruhig und ziemlich introvertiert, dabei sensibel und nervös. leh weiß nicht mehr, über welche Beschwerden er klagte, aber ich kann mich erinnern, daß er nur sehr wenig Interesse an Sex hatte und angab, seine Libido sei immer nur schwach gewesen. Grundsätzlich glich er körperlich und psychisch anderen Sepias (die zufällig Frauen waren), und ich hatte keine Schwierigkeiten, das passende Mittel zu finden, das auch wirkte, obwohl ich vorher noch nie einen Sepia-Mann gesehen hatte.
Der andere Sepia-Mann, den ich behandelt habe, war jung und litt an chronischer Hepatitis. Er hatte mattbraunes Haar und viele Muttermale im Gesicht und am Körper. Er war still und schüchtern. Er fürchtete sich eindeutig vor seinem ziemlich unsensiblen Vater, der Metzger war, und sah den Vater häufig an, wenn er Fragen beantwortete. Soweit würde die Beschreibung auf Pulsatilla passen, und in der Tat weinte er auch leicht, wenn er sich nicht wohl fühlte. Dennoch war er nicht so emotional wie die anderen Pulsatilla-Männer, die ich behandelt habe. Er wirkte auf eine passive Weise schwul, was mich an die mehr weiblichen Typen denken ließ, und seine körperlichen Symptome paßten sehr gut zu Sepia. Seine Gesundheit verbesserte sich bemerkenswert schnell nach ein paar Dosen Sepia C200, und dasselbe galt für das passive Gefühl der Depression, das er häufig empfand. Er brauchte einige Monate lang jede Woche eine Dosis Sepia C200, um seine Hepatitis zu überwinden, woraus ich schloß, daß Sepia sein Konstitutionsmittel sein müsse und nicht nur die passende Arznei für eine akute Erkrankung.
Kent stellt fest, daß Sepias beiderlei Geschlechts eine Abneigung gegen das jeweils andere Geschlecht entwickeln. Ich habe das nicht oft beobachtet, aber ich vermute, daß sowohl männliche als auch weibliche Sepias infolge dieser Abneigung häufiger zur Homosexualität tendieren als die meisten anderen Typen.
Körperliche Erscheinung
Die meisten Sepia-Frauen haben ein sehr charakteristisches Aussehen. Wie Hexen in der traditionellen Darstellung sind sie häufig sehr mager und knochig mit dünnen Gliedmaßen, Fingern und Zehen und einem langen Hals. Das Gesicht ist hager und eckig, die Nase gewöhnlich lang und dünn und oft eine Art Hakennase. Der Teint ist charakteristischerweise gelblich und das Haar gewöhnlich glatt und schwarz (manchmal auch rötlich oder mattbraun) und wird in der Regel lang getragen. Häufig findet man Muttermale sowohl im Gesicht als auch am Körper, und die Frauen sind dort auch meist stark behaart. Die tiefen Augenhöhlen geben dem Gesicht einen starken, mysteriösen Ausdruck. Taille und Hüften sind oft sehr schlank, obwohl es auch viele Sepia-Frauen gibt, die an die biblische Eva erinnern (oder zumindest an mittelalterliche Bilder von ihr) mit kleinen Brüsten, einer schmalen Taille, vollen Hüften und einem rundlichen, weichen Bauch. Viele Sepia-Frauen, die ihre wahre Identität nicht gefunden haben, werden mit der Zeit übergewichtig, weil sie sich zu wenig bewegen und Essen als Ersatzbefriedigung mißbrauchen.