KAPITEL 22
L. A.
Ich weinte den halben Flug über und hatte bei meiner Ankunft in Los Angeles ganz verquollene Augen. Auch wenn ich meine Eltern in den letzten vier Jahren kaum gesehen hatte, war ich diese dreitausend Meilen schon häufiger geflogen. So geärgert hatte ich mich über die Strecke aber noch nie.
Eine Frau, die mir vage bekannt vorkam, holte mich am Flughafen ab. Schon auf der Fahrt in die Stadt zog mich die aufregende Atmosphäre von Los Angeles in ihren Bann. Während wir im morgendlichen Berufsverkehr feststeckten, sah ich überall riesige Werbetafeln mit Modeartikeln, in der Ferne erhoben sich Hügel, und Menschen eilten die Straße entlang oder standen in Trauben zusammen und unterhielten sich. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt.
Ich ging davon aus, dass wir in L. A. sofort Richtung Osten abbiegen würden, um auf der Route 60 die zwei Stunden bis zur Int zu fahren, und machte es mir gemütlich. Stattdessen fuhr der Wagen jedoch auf einen Parkplatz, dessen Tor sich automatisch hinter uns schloss. Wir überquerten die Straße und betraten ein großes, mir unbekanntes Gebäude, das Hollywood Guaranty Building. Die Wände der Eingangshalle waren mit Marmor verkleidet, und um die hohe Decke verlief ein Wandgemälde. Ich wusste noch immer nicht, was wir hier wollten, stellte aber keine Fragen, da die Frau vermutlich nur die Fahrerin war. Andere Sea Org-Mitglieder, denen wir hier begegneten, sahen irgendwie anders aus. Sie trugen noch das alte Sea Org-Blau, das wir schon eine Weile nicht mehr benutzten. Die neue Uniform hob sich stärker vom Navy-Stil ab, und Hemd sowie Tuch besaßen eine andere Farbe. Auf den Rest der Sea Org-Welt wirkte jeder im veraltete Sea Org-Blau so seltsam, dass ich mich wie auf einer Zeitreise zurückversetzt fühlte.
Der Sicherheitsangestellte am Eingang grüßte meine Begleiterin und ließ uns passieren. Wir nahmen den Fahrstuhl in den zwölften Stock und gingen in einen mit grünem Teppichboden ausgelegten Konferenzraum. Um einen großen, rötlich schimmernden Holztisch standen einige Stühle. Ich sah aus dem Fenster, dachte über meine Situation nach und kam mir vor, als würde ich in einem schlechten Traum auf eine fremde Welt hinabblicken. Vor zwölf Stunden hatte ich mich zwar noch mit Mr. Anne Rathbun auseinandersetzen müssen, aber zumindest hatte ich gewusst, wo ich mich befand und wer die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung waren. Jetzt hatte ich keine Ahnung, was als Nächstes geschehen würde.
»Setz dich«, wies die Fahrerin mich an. »Es wird sich gleich jemand um dich kümmern.« Ich wartete ungeduldig. Meine Händen waren eiskalt, dennoch schwitzte ich an den Innenflächen. Ich war übernächtigt und erschöpft, zugleich versetzte mich die Sorge, was eigentlich los war, in Anspannung.
Dreißig Minuten später trat Marty ein, der Ehemann von Anne Rathbun, in Begleitung von unserem früheren Mitbewohner Mike Rinder, dem Vater von B. J., der inzwischen das Office of Special Affairs leitete. Ich war völlig überrascht, sie hier zu treffen, andererseits erfolgten solche abrupten Wendungen in meinem Leben nicht zum ersten Mal. Sie lächelten mir zu und fragten, ob ich einen Wunsch hätte. Ich verneinte.
Mr. Rathbun machte den Anfang. »Weißt du, Jenna, ich denke, das Beste wird sein, es dir gleich ganz offen zu sagen. Ronnie und Bitty« – womit er meine Eltern meinte – »sind nicht mehr länger in der Sea Org.«
Seine Stimme klang nüchtern und ausdruckslos. Er wartete auf meine Reaktion. Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was er gesagt hatte. Dann bemühte ich mich darum, meine Gefühle nicht offen zu zeigen.
»Was ist passiert?«, fragte ich ruhig.
»Ich kann an dieser Stelle nicht in die Einzelheiten gehen«, erwiderte er.
Er begann zu schildern, was nun geschehen würde, und zwei Dinge wurden bei seinen Worten klar. Zum einen begriff ich, dass alles, was ich durchgemacht hatte – die Monate voller Security-Checks, Toilettenschrubben, die CMO EPF-Uniform und die Zwangstrennung von Martino und meinen Freunden –, nicht die Folge von etwas war, das ich getan hatte, sondern an dem Entschluss meiner Eltern lag, die Sea Org zu verlassen. Ich war überrascht und stinksauer. Also hatte ich all die Zeit im Prinzip eingesperrt im Klo verbracht und mir das Hirn zermartert, mit welchem Vergehen ich eine solche Strafe verdiente, obwohl ich nicht einmal dafür verantwortlich war. Zum anderen verstand ich, dass es nur einen einzigen Grund dafür geben konnte, mich dieser ganzen Prozedur zu unterziehen: Ich wurde weggeschickt, wurde gezwungen, meinen Eltern zu folgen, wohin sie auch immer gegangen sein mochten. Man hatte mir einen abschließenden Security-Check erteilt, den alle Mitglieder vor ihrem Ausscheiden absolvieren mussten, und ich hatte es nicht einmal gemerkt. Dienen sollte ein solcher Leaving Staff Security Check offiziell dazu, die jeweilige Person vor dem Weggang von all ihren Overts und Withholds zu entlasten. Viel wahrscheinlicher allerdings war es, dass damit persönliche Informationen gesammelt wurden, die nützlich sein konnten, wenn sich die Betreffenden kritisch zur Kirche äußern sollten.
Ich wartete, bis Mr. Rathbun fertig war, und fragte dann geradeheraus: »Und jetzt wird von mir erwartet, mit ihnen zu gehen?«
Mr. Rathbun machte eine zerknirschte Miene und bestätigte meinen Verdacht rasch mit einem kurzen Nicken. »Du wirst zu ihnen müssen. Geplant ist, dass du online Scientology-Kurse besuchst, und sobald du achtzehn bist, kannst du gerne zurückkommen, wenn du möchtest.«
So viel stürzte mit einem Schlag auf mich ein, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Ich hatte gerade erst eine albtraumhafte Phase hinter mir, aber jetzt sollte ich alles verlassen, was ich jemals gekannt hatte, alle meine Freunde, mein ganzes Leben, und das nur, um bei meinen Eltern zu sein, die ich jahrelang kaum gesehen, mit denen ich nur sporadisch gesprochen hatte und die nichts von mir zu wissen schienen. Und alles nur, weil sie beschlossen hatten, die Sea Org zu verlassen. Sie stellten mein gesamtes Leben auf den Kopf, ausgerechnet in einem Moment, in dem ich mich zurechtzufinden begann.
Mr. Rathbun und Mr. Rinder zeigten sich sehr rücksichtsvoll und gaben mir Zeit zum Nachdenken. So liebenswürdig ihre Haltung auch sein mochte, sie machte mich nervös. Denn in all dem verwirrenden Chaos blieb eine Sache glasklar: Normal war diese Situation nicht. In aller Regel verhielten sich Sea Org-Mitglieder gegenüber Verwandten abtrünniger Mitglieder nicht derart nachsichtig. Die Schuldfrage spielte dabei keine Rolle, ein Ausscheiden erregte grundsätzlich Missfallen. Höchstwahrscheinlich würden meine Eltern zu SPs erklärt werden, daher beschloss ich, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Wenn ich gehe, dann sitze ich doch mit ihnen im selben Boot, oder?«, fragte ich.
Mr. Rathbun lächelte über meine rasche Auffassungsgabe und erklärte, ich könne mit achtzehn zurückkehren. Aber wir wussten beide, dass das eine Lüge war, um mich zu besänftigen. Er warf einen kurzen Blick zu Mike Rinder, der unsicher wirkte, und meinte dann: »Nun, um ganz ehrlich zu sein, ja.«
Ich sah zur Seite und dachte weiter darüber nach. Ich dachte an Martino und daran, dass Anne Rathbun mir gesagt hatte, wir könnten da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Die Hoffnung darauf hatte ich noch nicht aufgegeben. Ich dachte an meine Großmutter Loretta. Ich dachte daran, wie alles ein paar Monate zuvor gewesen war, bevor Anne Rathbun mich in ihr Büro gerufen hatte, vor den Security-Checks, als ich nach langem Warten endlich ein eigenes Leben hatte führen können. Ich dachte daran, wie ernst mir der Wunsch war, anderen zu helfen, und wie fest ich an meine Berufung glaubte, durch Scientology in diesem Sinne wirken zu können. Ich dachte, dass Mr. Anne Rathbun das alles womöglich bereits gewusst hatte und mir dennoch nicht erlaubt hatte, mich von meinen Freunden zu verabschieden, die ich jetzt niemals wiedersehen würde. Ich hasste sie dafür, aber die Church machte ich für keine ihrer Handlungen verantwortlich. Ich verurteilte nur sie persönlich und ihre eigene Art, die Regeln der Church anzuwenden.
Dann dachte ich über den Schritt meiner Eltern nach. Mein Ärger darüber wuchs, wie selbstsüchtig sie sich verhielten. Sie schienen völlig zu vergessen oder sich nicht dafür zu interessieren, dass ich inzwischen mein eigenes Leben führte, ein Leben, zu dem sie mich mit ihren Entscheidungen gezwungen hatten. Ich stellte mir vor, das alles hinter mir zu lassen. Ich würde eine öffentliche Schule besuchen, wo man mich für dumm erklären und hänseln würde, weil ich so weit hinterher war. Ich dachte daran, wie sehr ich bereits daran gewöhnt war, allein zu sein.
Ich wusste, mir blieb nur ein kurzer Moment, um auszusprechen, was ich zu sagen hatte, bevor diese beiden Männer das Reden für mich übernehmen würden. Ich musste rasch einen Entschluss fassen, und ich folgte meinem Bauchgefühl. Ich sah ihnen offen in die Augen und erklärte: »Ich will nicht gehen.«
Tonskala Stufe 40. Ein Nein als Antwort kam nicht in Frage.
Sie tauschten erstaunte Blicke aus. Endlich sprach Mr. Rathbun: »Was meinst du damit, Jenna?«
»Ich will nicht gehen«, wiederholte ich und fügte bekräftigend hinzu: »Lieber ins RPF als fortgehen.« Das war zugegebenermaßen etwas übertrieben, da ich ganz sicher nicht ins RPF wollte. Ich versuchte nur, ihnen auf diese Weise verständlich zu machen, wie ernst es mir war. Mein Entschluss sollte unumkehrbar klingen.
Schockiert und belustigt zugleich sahen sie einander an. »Mit dir wird die Kirche eines Tages eine enorme Verstärkung haben«, sagte Mr. Rinder dann mit strahlendem Lächeln.
Die beiden mussten nun darüber nachdenken, was das bedeutete und ob eine solche Möglichkeit überhaupt bestand. Sie baten mich zu warten, während sie sich draußen besprachen. Etwa eine Stunde später kam Mr. Rathbun zurück und schenkte mir einen väterlichen Blick. Er sagte mir, sie müssten sich noch um andere Kirchenangelegenheiten kümmern und würden mir empfehlen, in der Zwischenzeit Volume Zero zu studieren. Mit seinen unzähligen Strategiebeschreibungen, Vorschriften und Anordnungen bildete dieses dicke Verwaltungsregelwerk der Church meinen unbeliebtesten Kurs.
Die nächsten Stunden tat ich, als würde ich darin lesen, starrte in Wahrheit aber nur die grünen Buchstaben an, während ich über meine Zukunft nachdachte. Ich fragte mich, ob ich bleiben durfte, und stellte mir vor, wie es, wenn sie meine Bitte ablehnen würden, in einer öffentlichen Schule sein würde. Mindestens acht Stunden vergingen, bis Mr. Rathbun endlich zurückkam. Eine Frau begleitete ihn, und er wirkte nervös. Bedauernd erklärte er, man sei von anderen Dingen aufgehalten worden, habe nicht gemerkt, wie die Zeit verging, und ganz vergessen, dass ich noch hier saß. »Da es jetzt schon eins ist, werden wir dich erst einmal gehen lassen«, sagte er. »Morgen werden wir uns dann um die Sache kümmern.«
Er setzte ein bemühtes Lächeln auf, als ich nur »okay« erwiderte. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.
Dann stellte er mich Linda vor, der Frau neben ihm. Sie trug einen Sweater zu ihrem Sea Org-Blau und machte einen ganz netten Eindruck. Mr. Rathbun erklärte, sie würde mich zu einer Übernachtungsmöglichkeit bringen. Sie lächelte, und ich folgte ihr durch die Tür. »Bis morgen früh!«, rief Mr. Rathbun und winkte uns beiden hinterher.
Wir fuhren zu demselben Gebäudekomplex auf der PAC-Base, in dem ich mit meiner Familie gewohnt hatte, als sie vor vierzehn Jahren in die Sea Org eingetreten war. Es hatte sich nichts verändert, auch wenn ich mich nicht mehr genau daran erinnerte, wo was war. Die Sea Org-Mitglieder, die um diese Uhrzeit noch unterwegs waren, musterten uns – vor allem mich – mit unverhohlener Neugier. Wir nahmen den Aufzug in den dritten Stock, wo zwei nur in Badetücher gehüllte Frauen aus dem Duschraum kamen und Linda im Vorbeigehen mit »Hi, Sir« grüßten.
Mein Zimmer lag am Ende des Flurs. Linda führte mich hinein. »Oh, prima. Das Zimmer hat eine eigene Dusche«, sagte sie. »Ich treff dich dann morgen früh um neun vor dem Haus.« Dann verschwand sie, während ich vor dem Spiegel stand und mich fragte, warum mir bloß ständig so viele verrückte Dinge passierten.
Was an einer eigenen Dusche so besonders war, wusste ich nicht, meine jedenfalls hatte weder Seife noch Handtücher, also war ich selbst anscheinend nicht besonders genug. Ich wusch Körper und Gesicht mit dem Shampoo, das ich mitgebracht hatte, und trocknete mich mit einem Hemd aus meinem Gepäck ab. Als ich das Badezimmer verließ, sah ich eine riesige Kakerlake über den Boden krabbeln. Statt sie zu beseitigen, zog ich lieber die Tür hinter mir zu und ignorierte sie.
Ich setzte mich auf das Bett. An meinen Füßen klebte der Dreck vom Fußboden, nebenan dröhnte Musik, und vor meiner Tür hörte ich laute Stimmen. Ich wollte absperren, doch es war nicht möglich. Die Tür hatte kein Schloss. Und selbst wenn, der Sicherheitsdienst und ein Haufen anderer Leute hätten sicher einen Universalschlüssel gehabt, der auf alle Schlösser passte, also machte es auch keinen Unterschied. Ich öffnete die Tür und sah ein paar Teenager, die mich wie ein Wesen von einem anderen Stern anstarrten. Ich schlug die Tür so abrupt zu, wie ich sie geöffnet hatte.
Unaufhörlich klapperte das Fenster in meinem Zimmer. Das grelle Licht der Scientology-Leuchtschrift auf dem Dach fiel hinein, aber es gab keinen Vorhang, den ich hätte zuziehen können. Als ich endlich im Bett lag, fürchtete ich mich so sehr, dass ich das Licht brennen ließ. Ich stellte den Wecker, starrte an die Decke und konnte nicht einschlafen. Es waren nicht Zweifel an meiner Entscheidung oder der Church, die mich beschäftigten, sondern die Vorstellung, wie mein Leben draußen wohl aussehen würde. Ich malte mir aus, ein eigenes Zimmer und keine Verpflichtungen durch irgendwelche Ämter zu haben und nicht arbeiten zu müssen.
Trotz dieser Bilder sah ich mich am Ende stets in einer öffentlichen Schule, wo ich dauernd mein fehlendes Wissen eingestehen musste und für meine Dummheit gehänselt wurde. Ich erinnerte mich an Filme, in denen immer jemand nach vorne gerufen wurde, der dann vor der gesamten Klasse Fragen beantworten musste, und wie peinlich es für mich sein würde, dort zu versagen. Ich stellte mir vor, zum Schulpsychologen geschickt zu werden.
Schließlich weinte ich, bis das Licht in meinem Zimmer zu verschwimmen begann und ich einschlief.
Morgens brauchte ich einige Minuten, um den Rückweg in die Lobby zu finden, wo Linda bereits auf mich wartete. Wir fuhren zum Hollywood Guaranty Building zurück und gingen in denselben Konferenzraum wie am Tag zuvor. Mr. Rathbun kam so schwungvoll hereingestürzt, als wäre er schon Stunden wach. »Hi, Jenna!«, sagte er freundlich. »Gut geschlafen?«
»Ja, Sir«, log ich.
»Schön, das dürftest du heute auch brauchen können«, murmelte er mit einem Lächeln. Ich lächelte vorsichtig zurück in der Hoffnung, dass er damit nicht auf eine weitere Sitzung anspielte.
Mr. Rathbun erzählte, dass Ronnie und Bitty auf meinen Wunsch, in der Church bleiben zu wollen, nicht besonders erfreut reagiert hätten. Mr. Rathbun und Mr. Rinder hatten sie zu überzeugen versucht, aber die Sache sah nicht gut aus. Er sagte, insbesondere mein Vater habe begonnen Drohungen zu formulieren, und ich müsse verstehen, dass ihre Möglichkeiten, mir zu helfen, begrenzt sind.
Ich sagte, dass ich Verständnis dafür hätte, zeigte mich aber auch verwundert darüber, dass meine Eltern glaubten, irgendeine Art von Anrecht auf mich geltend machen zu können, nachdem sie mein bisheriges Leben weitestgehend verpasst hatten. Natürlich hatte ich mich vor allem in den ersten Jahren in Notfällen an sie gewandt, auch kürzlich noch, als ich sie nach meiner ersten EPF-Bestrafung angerufen hatte, weil mir sonst niemand eingefallen war. Aber selbst da hatten sie mir kaum helfen können. Außerdem waren diese Ausnahmesituationen über die vergangenen vier Jahre hinweg an einer Hand abzuzählen.
Erst ließen sie mich jahrelang allein, zogen sich aus meinem Leben zurück und verlangten, dass ich mich selbst durchschlug, und jetzt auf einmal glaubten sie, Entscheidungen für mich treffen zu können. Jetzt auf einmal wollten sie Anteil an meinem Leben nehmen. Jetzt, da ich sechzehn war und mich endlich mit meiner Rolle in der Church anzufreunden begann. Jetzt wollten sie weggehen und mich einfach mitnehmen. Ganze vier Mal waren wir uns seit meinem zwölften Lebensjahr begegnet. Sie waren keine Fremden, aber in mancher Hinsicht hätten sie es genauso gut sein können.
»Ich kann versuchen, selbst mit ihnen zu sprechen, wenn das hilft«, bot ich an. Vielleicht dachten meine Eltern, die Church würde mich gegen meinen Willen festhalten, und ich könnte den Irrtum aufklären.
Mr. Rathbun verließ den Raum und kehrte ein paar Minuten später zurück. »Du darfst mit ihnen sprechen«, erklärte er. »Keine Angst, ich höre an dem anderen Apparat mit.«
Ich hatte keine Angst, merkte aber, als ich Moms Stimme hörte, dass dafür durchaus Anlass bestand. Sie kochte vor Wut, und im Hintergrund konnte ich Dad hören, der ganz ähnlich klang – gefasst, aber eindeutig stinksauer.
»Jenna«, hob meine Mutter an, »was ist los? Uns wurde versprochen, dass du mit uns kommen würdest. Was ist passiert?«
Bevor ich noch antworten konnte, fuhr meine Mom fort: »Mir wurde gesagt, dass sie dich inzwischen sogar gegen deinen Willen wegschicken würden. Das zeigt doch, wie gleichgültig ihnen du und deine Gefühle sind.«
Bei ihren Worten geriet ich erneut ins Grübeln. Sie hätte viele andere Argumente vorbringen können, um mich vom Weggehen zu überzeugen, dieses war eine zu offensichtliche Lüge. Warum hätten Marty und Mike vor einem Gespräch mit mir meinen Eltern schon zusichern sollen, dass ich auf jeden Fall gehen würde, nur um mir dann später zu erklären, dass sie sich für mein Bleiben einsetzen würden?
In diesem Moment begann sie bereits, meine Frage mit ihren eigenen Mutmaßungen zu beantworten: »Marty und Mike haben dich reingelegt. Sie haben so getan, als würdest du zurück auf die Int kommen, um deine Erwartungen hochzuschrauben. In Wahrheit sollte dich dadurch aber nur die Nachricht noch mehr umhauen, dass du rausgeschmissen wirst. Sie spielen bloß ihre Psychospielchen mit dir.«
Diese Bemerkung ärgerte mich. Wie konnte Mom sich einbilden, irgendetwas von meinen Gedanken und Gefühlen zu verstehen. Schon ihre Annahme, ich würde mir eine Rückkehr auf die Int wünschen, bewies doch, wie wenig Ahnung sie von meinem Leben hatte. Ich wollte nicht auf die Int, ich wollte auf der Flag bleiben. In meinen Augen versuchte sie, Mr. Rathbun und Mr. Rinder mit manipulativen Tricks und Tatsachenverdrehungen feindselige Absichten zu unterstellen, obwohl doch in Wirklichkeit sie und Dad es waren, die mich zum Weggehen zwingen wollten. Als ich endlich die Chance bekam zu antworten, blieb ich standhaft.
»Keine Ahnung, Mom, vielleicht bist du hier ja auch diejenige, die paranoid reagiert und ständig annimmt, dass alle gegen sie sind.« Ich erklärte ihr, dass ihre Generalisierungen nicht zutreffend seien, ein Vorwurf, der in dieser Form üblicherweise SPs gemacht wurde.
Ich spürte sofort, wie sehr meine Worte Mom verletzt hatten, was mir wiederum leidtat. Ihre Antwort klang gekränkt und sogar ein wenig verzweifelt.
In gewisser Weise hätte mein Wunsch, in der Sea Org zu bleiben, meine Mutter eigentlich nicht überraschen sollen. Schließlich hatten ihre Eltern, wie ich nun zum ersten Mal erfuhr, sie in etwa demselben Alter ebenfalls vergeblich beschworen, die Sea Org zu verlassen. Mir wurde bei dieser Schilderung klar, wie wenig ich von meiner Mutter wusste. Jetzt wiederholte sich ihre Geschichte in meinem Leben, und diesmal war sie der Erwachsene, der gehen wollte.
»Weißt du, Jenna, Menschen wie ich, die von der Sea Org weggehen … wir sind keine … wir sind deshalb kein wertloser Haufen Fleisch.«
»Das weiß ich, Mom«, sagte ich leise. Meine Eltern glücklich zu machen, war mir immer wichtig gewesen. So sehr ich es ihnen auch verübelte, dass sie mir meine Freunde und meine Welt nehmen wollten, es verursachte mir dennoch Gewissensbisse, sie so aufzubringen. »Es tut mir leid, aber mein Leben ist hier, und ich möchte bleiben.«
Wir schwiegen alle drei einen Moment, bis ich die Stille durchbrach.
»Was ist das für Musik im Hintergrund?«, fragte ich.
Während unseres Gesprächs waren die ganze Zeit Fetzen von merkwürdiger, mexikanisch klingender Musik zu hören gewesen.
»Wir wohnen in Cabo San Lucas, in Mexiko«, sagte sie. Ich war baff, obwohl ich mir rasch zusammenreimte, dass die Church sie mit diesem Schritt erst einmal von der Bildfläche verschwinden lassen wollte. Immerhin verließ hier der Bruder des Scientology-Führers die Church, und diese Nachricht sollte kein PR-Problem werden.
Nachdem sich der angriffslustige Ton zwischen uns ein wenig gelegt hatte, sprach ich noch mit meinem Vater. Er schlug in die gleiche Kerbe wie Mom, äußerte seine Bedenken, ließ mir jedoch auch Gelegenheit zu erklären, warum ich bleiben wollte. Er war sehr vorsichtig mit seinen Äußerungen über Marty und Mike, in erster Linie wohl, weil er mich nicht verstimmen wollte. Außerdem wusste er vermutlich, dass sie mithörten. Am Ende waren Mom und Dad von der Ernsthaftigkeit meines Wunsches überzeugt und erklärten beide, keine gerichtlichen Schritte zu unternehmen, um meinen Austritt zu erzwingen. Erleichtert atmete ich auf.
Beim Abschied erklärten wir, einander zu lieben, aber die eine Sache, die jedem durch den Kopf ging, sprach keiner aus: Wann würden wir uns wiedersehen? Uns allen war klar, dass dieser Zeitpunkt lange, lange auf sich warten lassen würde. Von den Grundregeln her war ein Treffen nun sogar ausgeschlossen, da sie die Church verlassen hatten.
Als ich auflegte, empfand ich eine Mischung aus Erleichterung und Schuld. Erleichtert war ich darüber, mich durchgesetzt zu haben, aber ich hatte meinen Eltern wehgetan.
Mr. Rathbun schien froh, dass nun alles geklärt war, obwohl ihm der Vorwurf meiner Eltern, mich mit Tricks zum Bleiben gedrängt zu haben, gar nicht gefiel.
»Also gut, und wie geht’s jetzt weiter?«, rief er. Es war eher eine Zusammenfassung der aktuellen Lage als eine wirkliche Frage.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich und hoffte bloß, er hätte vergessen, was ich am Vortag über meine Bereitschaft zu RPF-Diensten gesagt hatte. Ich wurde in den Konferenzraum zurückgeschickt, wo ich einige Stunden wartete, bis Mr. Rathbun mich abholte und erklärte, wir würden ein E-Meter-Interview durchführen.
Er nahm die einschüchternde Haltung eines harten Sec-Checkers an, was in mir stets den gegenteiligen Effekt auslöste. Ich ließ mich nicht leicht einschüchtern. Es folgte das übliche Trommelfeuer an Sitzungsfragen: Ob ich etwas verbarg. Was meine wahren Beweggründe waren, nicht mitzugehen. Was ich für meine Familie empfand. Was für meinen Onkel. Mindestens drei Stunden ging es so weiter. Am Ende war ihm klar, dass ich blieb, weil ich ein Sea Org-Mitglied sein wollte. Allerdings entdeckte er auch, dass ich seiner Frau, Mr. Anne Rathbun, gegenüber gelogen hatte. Ich hatte mein Piercing nicht, wie behauptet, entfernt. Es war noch immer da.