KAPITEL 3
Das höhere Wohl

Etwa anderthalb Jahre, nachdem mein Onkel an die Spitze der Church gekommen war, wurde das Fountain Building, in dem wir lebten, durch ein Erdbeben schwer beschädigt und daraufhin für unbewohnbar erklärt. Meine Familie zog ins nahe gelegene Edgemont Building auf der Edgemont Street, wo die Wohnungen viel schöner waren. Jede hatte zwei Schlafzimmer, einen kleinen Essbereich, eine Küche und ein kleines Wohnzimmer. Doch obwohl die Wohnungen größer waren, wurde jede von zwei Familien oder zwei Paaren besetzt, daher war es auch hier sehr eng.

Wir teilten uns eine Wohnung mit Mike und Cathy Rinder, alten Freunden meiner Eltern, die ebenfalls überzeugte Mitglieder der Sea Org waren. Mom und Dad belegten ein Schlafzimmer, Cathy und Mike das andere. Justin und ich schliefen im Wohnzimmer in Stockbetten und auf dem Sofa, zusammen mit Mikes und Cathys Tochter Taryn und ihrem Sohn Benjamin James, der nur B. J. genannt wurde. Taryn war mit ihren zehn Jahren etwas jünger als Justin, B. J. hingegen ein paar Monate älter als ich. Wir beide waren damals also zu zweit.

Meine Mom hatte Cathy kennengelernt, als beide als Teenager auf der Apollo stationiert gewesen waren. Dort waren sie enge Freundinnen geworden. Zwar war es ein bisschen merkwürdig, plötzlich mit einer weiteren Familie zusammenzuleben, aber ich mochte Cathys ausgeprägten Sinn für Humor und den Umstand, dass sie alberne Comics zeichnete, in denen alle aussahen wie Schweinchen. Mike war ganz anders. Er war ein ruhiger Australier und, wie meine Eltern, nur selten in der Wohnung.

Wir konnten uns nicht beklagen, dass es in der Wohnung so eng war, denn es machte Spaß, mit so vielen Menschen und vor allem so vielen Kindern zusammenzuleben. Da das Fountain Building durch das Erdbeben nicht mehr genutzt werden konnte, mussten B. J. und ich zu einer großen Tagesstätte für Kinder von Sea Org-Mitgliedern, die auf der Bronson Avenue in der Nähe des sogenannten Celebrity Centers lag. Sie war so weit entfernt, dass wir mit einem kircheneigenen Bus fahren mussten. Etwa achtzig bis hundert Kinder gingen bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in diese Tagesstätte. Aufgeteilt waren wir in drei Gruppen, jedoch nicht nach unserem Alter, sondern nach dem Status unserer Eltern in der Kirche.

An den meisten Nachmittagen fuhr ich mit Justin oder Taryn, die auch in der ATA war, mit dem Bus nach Hause. Sie stiegen ein, wenn der Bus an der Apollo Training Academy hielt, um Schüler aufzunehmen. An manchen Tagen holte mein Bruder mich dann aus dem Bus, um mit mir zu Fuß zur Wohnung zurückzugehen und im George’s General Store gegenüber von der ATA Süßigkeiten zu kaufen. Zwar war Justin eigentlich noch zu jung, um auf mich aufzupassen, aber das Edgemont war ein Gebäude der Scientologen, und vielleicht trösteten sich meine Eltern mit dem Wissen, dass immer andere Scientologen in der Nähe waren und ihre eigene Arbeitsstelle direkt um die Ecke lag. Außerdem gab es rund um die Uhr eine Kinderfrau, die von Wohnung zu Wohnung ging, nach den Kindern sah und im Notfall immer erreichbar war.

Im Laufe der Monate wurden B. J. und ich wirklich gute Freunde, trotz seiner Leidenschaft für Insekten und Roboter und meiner für Barbie und Tierbabys. Er sprach nicht viel, trotzdem war ich fasziniert von ihm. Immer brachte er mir irgendwas über Insekten oder neue Zaubertricks bei. Wir unternahmen fast alles zusammen, und schon nach kurzer Zeit gehörte er, ebenso wie Taryn, zur Familie.

Schon bald, nachdem wir umgezogen waren, sahen wir Mom immer seltener. Da sie sich um die Vorbereitung der Freewinds kümmerte, musste sie oft nach Curaçao, eine der Karibischen Inseln, wo das Schiff stationiert werden sollte. Während der restlichen Zeit befand sie sich auf der International Base in Hemet. Zwar kam sie so oft wie möglich zu Besuch und brachte mir von ihren Reisen Geschenke mit, die mir auch gefielen, vor allem ein kleines, lackiertes Schmuckkästchen mit Spieldose, auf der sich eine winzige Ballerina drehte, doch ihre Abwesenheit wurde dadurch für mich nicht erträglicher. Am meisten vermisste ich sie zur Familienzeit. Normalerweise kamen für diese Stunde nur Dad und Cathy in die Wohnung. Dann badete Dad mich, las mir vor, und wir spielten zusammen.

So ging es ungefähr ein Jahr lang. Wir vier – Justin, Taryn, B. J. und ich – bildeten eine eigene provisorische Familie. Obwohl Justin und Taryn noch nicht mal Teenager waren, mussten sie auf B. J. und mich aufpassen. Wir hingen zusammen herum, teilten uns Snacks und spielten miteinander. Normalerweise passten sie auf uns auf, bis unsere Eltern zum Abendessen kamen oder einen Tag frei hatten. Aber all das änderte sich, als Cathy eines Tages Anfang 1988 zur Familienzeit nach Hause kam.

An diesem besonderen Abend sah ich sie unter vier Augen mit B. J. sprechen, der sehr aufgebracht wirkte. Von meinem Platz auf der Couch konnte ich hören, wie Cathy ihm erklärte, dass dies ihre letzte tägliche Familienzeit zusammen wäre. Von nun an würden sie und Mike ihn nur noch einmal die Woche besuchen können, und zwar am Sonntagmorgen, da sie den Rest der Woche an einen sehr geheimen Ort müssten, um wichtige Aufgaben für die Church zu erledigen.

Obwohl wir erst vier Jahre alt waren, kannten B. J. und ich schon die übliche scientologische Erklärung, mit der unsere Eltern begründeten, warum sie so viel arbeiten mussten. Es hieß immer, sie müssten vielen Menschen helfen und daher ihre Privatzeit für Scientology opfern. Wir nickten dann zum Zeichen, dass wir verstanden hatten, und taten so, als ob uns diese Erklärung über unseren Verlust hinwegtrösten würde.

Aber als ich jetzt B. J.s Gesicht sah, wusste ich, dass er diesmal nicht verbergen konnte, wie hart ihn das traf. Er sagte nicht viel, sondern hörte nur zu, wie seine Mutter ihm vorsichtig die Lage erklärte, und starrte zu Boden. Danach versuchte ich, ihn zu trösten, legte ihm den Arm um die Schultern und sagte ihm, wie leid es mir für ihn tue, konnte aber gleichzeitig nur daran denken, wie schlimm es für ihn sein musste, die geliebte Stunde mit seinen Eltern zu verlieren. Doch dann verkündete Cathy mir, dass auch meine Eltern nicht mehr zur Familienzeit heimkommen würden.

»Das glaube ich nicht«, sagte ich trotzig, aber als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich meine Eltern in den letzten Monaten immer seltener gesehen hatte. Während meine Mom auf Reisen war, hatte mein Vater unter der Woche immer seltener in unsere Wohnung kommen können. Und Cathy erklärte mir, dass diese Trennung nun offiziell war.

Wie sich herausstellte, waren meine Eltern bereits versetzt worden, ohne dass ich es bemerkt hatte. Die Verfügung einer Reihe neuer Verhaltensmaßregeln der Church beschnitt rigoros die Zeit, die Sea Org-Mitglieder mit ihrer Familie verbringen durften. So durften Sea Org-Ehepaare auch keine Kinder mehr bekommen. Wenn eine Frau in der Sea Org dennoch schwanger wurde, musste das Paar die Sea Org verlassen und in eine andere Mission gehen, was faktisch einer Degradierung gleichkam. Dort arbeiteten sie weiterhin für Scientology, doch erst wenn das Kind sechs Jahre alt war, konnten sie zurück zur Sea Org, und zwar nur mit einer neuen Bewerbung. Für Sea Org-Mitglieder, die bereits Kinder hatten, gab es auch Veränderungen. Ein Vorteil war, dass die Kinder jetzt in besseren Einrichtungen und Schulen untergebracht wurden, doch der Nachteil bestand darin, dass die abendliche Familienzeit praktisch gestrichen war und Kinder, die älter als sechs waren, in Internate kamen, die in der Nähe von Sea Org-Stützpunkten lagen.

Onkel Dave hatte sich diese Verhaltensmaßregeln zwar nicht ausgedacht, wusste aber ganz sicher davon. Ohne seine Billigung hätten sie niemals in Kraft treten können. Es ist schwer zu sagen, warum er sie zuließ. Eine Rolle spielte bestimmt, dass er selbst keine Kinder hatte; ich war immer überzeugt, dass er sich bewusst gegen Kinder entschieden hatte, da er Tante Shelly schon vor diesen Maßnahmen geheiratet hatte. Vielleicht sah er bei anderen Sea Org-Mitgliedern, wie viel Zeit, Arbeit und Energie Kinder in Anspruch nahmen. Höchstwahrscheinlich lag es jedoch daran, dass Kinder ihre Eltern nur ablenkten und diese somit weniger leistungsfähig und hingebungsvoll der Church dienen konnten.

Ich habe nie daran gezweifelt, dass meine Eltern mich liebten. Ich akzeptierte, dass die Zeit, die sie für mich hatten, extrem begrenzt war. Selbst jetzt, wenn ich im Rückblick ihre Hingabe für die Church betrachte, zweifle ich nicht daran, dass die scientologischen Lehren der Grund waren, warum sie stets ihre Familie zurückstellten. In vielerlei Hinsicht opferten sie ihre Familie für das, was die Church als das höhere Wohl bezeichnete. Bei Scientology hieß es: »Das größte Wohl für die größte Anzahl an Dynamiken«, was bedeutete: Wenn Scientologen Entscheidungen trafen, nutzten sie ein grundlegendes scientologisches Prinzip namens Dynamics of Existence – Dynamiken der Existenz –, um genau festzulegen, wem und was jede Entscheidung nutzen würde. Es gab acht angeblich gleich wichtige Dynamiken:

1. Das Selbst

2. Familie, Kinder und Sex

3. Gruppe

4. Menschheit

5. Pflanzen und Tiere

6. Universum: Energie, Materie, Raum und Zeit

7. Der Geist

8. Gott oder das höchste Wesen

Als meine Eltern wieder in die Sea Org eintraten, wussten sie, dass sich ihre Arbeit auf die Dynamiken drei, vier, sechs, sieben und acht konzentrieren würde. Sie glaubten, mit ihrer Arbeit jedem dieser Bereiche zu dienen. Hätten sie sich für ihre Familie entschieden, hätten sie nur der ersten und zweiten Dynamik genutzt. Folglich war es die richtige Entscheidung, der Sea Org beizutreten, denn das nutzte fünf Dynamiken, während die Familie nur zweien nutzte. Diese Entscheidung bot der größten Anzahl an Dynamiken das größte Wohl.

Tatsächlich bedeutete dieses System nur, dass Familien und Kinder normalerweise nie gegen das höhere Ziel der Kirche ankämpfen konnten. In den meisten Religionen sind Familien und Kinder ein zentraler Bestandteil, bei Scientology hingegen müssen sie geopfert werden. In ähnlicher Weise dienten die langen Arbeitstage und die niedrigen Löhne der Sea Org-Mitglieder dem höheren Wohl von Scientology, und das war richtig, solange man der größten Anzahl von Dynamiken diente, selbst wenn Kinder und Familien zu Kollateralschäden wurden.

Mit meinen vier Jahren wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass Mom und Dad nicht mehr mit uns zusammenwohnten. Sie waren bereits ins International Management Headquarter gezogen, das auch als Int, Int Base oder Gold Base bezeichnet wurde. Darüber wusste ich nur, dass Onkel Dave und Tante Shelly dort wohnten und arbeiteten. Es stand in Hemet, Kalifornien, etwa zweieinhalb Stunden von L. A. entfernt, und die genaue Lage war so geheim, dass nicht einmal Familienmitglieder wussten, wo es sich befand. Nur Personen, die einer besonderen Unbedenklichkeitsprüfung unterzogen worden waren, durften dorthin.

Die Church behauptete, mit diesen Sicherheits- und Geheimhaltungsmaßnahmen sollte die Int Base vor Außenstehenden geschützt werden, die Scientology schaden wollten. Sie meinte, diese Antisozialen Personen hassten es, dass wir anderen halfen, daher musste alles geheim bleiben. Ich denke, in Wahrheit ging es darum, den Eingeweihten ein Gefühl von Wichtigkeit zu geben. Außerdem gewann auch Scientology durch die Geheimhaltung die Aura von etwas Bedeutsamem.

Mom und Dad erzählten, sie wären unter der Woche in einer Wohnung in einem Apartmentkomplex in der Nähe der Base untergebracht. Samstagabend fuhren meine Eltern zurück nach L. A. Sie blieben aber nur bis elf Uhr am Sonntagmorgen, weil sie dann wieder nach Hemet aufbrechen mussten. Woche für Woche schmerzte es mich, sie wieder gehen zu lassen, aber ich versuchte, es nicht zu zeigen. Da Justin nie weinte, versuchte ich, es ihm nachzutun.

Meine Mutter nutzte ihre Stellung als Führungskraft, um eine regelmäßige Betreuung für mich zu organisieren. So fand sie Pat, die ebenfalls zur Sea Org gehörte. Viele Kinder, deren Eltern in der Int waren, blieben auch über Nacht in der Kindertagesstätte, aber weil ich Pat hatte, durfte ich in unserer Wohnung schlafen. Am Tag arbeitete Pat im Manor Hotel auf der Franklin Avenue, das zum Celebrity Center der Scientologen gehörte.

Da Mom, Dad, Cathy und Mike Rinder nicht mehr täglich nach Hause kamen, änderte sich unser Tagesablauf ein wenig. B. J. und ich fuhren immer noch mit dem Bus zur Kindertagesstätte, aber nachmittags gingen wir nicht mehr direkt in die Wohnung zurück. Stattdessen nahmen unsere Lehrer uns mit in eine Wohnung, die nicht weit von unserer entfernt lag und für die Nachmittagsbetreuung gedacht war. Auf dem Heimweg von der ATA holten uns dann mein Bruder oder Taryn ab und gingen mit uns nach Hause. Das mobile Kindermädchen war noch da, sodass immer ein Erwachsener in der Nähe war, falls wir etwas brauchten. Pat kam irgendwann nach sieben und blieb über Nacht bei uns. Da es nicht anders ging, wurde sie auch B. J.s Nanny.

Zwar vermisste ich Mom und Dad, aber ihre Abwesenheit war nicht immer schlimm. An manchen Tagen lud Taryn ihre Freundin Heather, deren Eltern ebenfalls in der Int waren, in unsere Wohnung ein. Ich liebte es, Prinzessin zu spielen. Dazu verkleideten mich die beiden Mädchen und machten mich schön, frisierten mich und gaben mir Krönchen und Zepter.

Justin lud auch gerne seine Freunde ein. Mike, der Sohn der Sekretärin unseres Vaters, und Teddy, dessen Mutter mit Mom zusammenarbeitete, waren zwei seiner Lieblingsgäste. Sie übten an B. J. und mir ihr Karate. Wir wehrten uns mit Kissenschlachten. Teddy und Justin fuhren gerne mit dem Skateboard und nahmen B. J. und mich mit, damit wir zusehen konnten.

Mein Vater kam an den meisten Samstagabenden nach L. A. Normalerweise versuchte er, die Wochenenden so besonders wie möglich zu gestalten, brachte mir kleine Geschenke mit oder machte am Sonntagmorgen etwas Lustiges mit mir. Manchmal ruhten wir uns einfach zu Hause aus, aber manchmal gingen wir auch in ein Café zum Frühstücken, besuchten den Griffith Park in der Nähe der Santa Monica Mountains oder bummelten in der Mall. Meine Mom konnte wegen ihrer Arbeit seltener kommen.

Aber eines Samstagabends rief sie mich an und erzählte, sie und Dad würden kommen und hätten eine Überraschung für mich. Ich versuchte, auf sie zu warten, aber als sie kamen, war ich schon eingeschlafen. Am nächsten Morgen rannte ich in ihr Zimmer. »Wo ist meine Überraschung?«, fragte ich aufgeregt. Mom griff unter das Bett und holte ein Kätzchen hervor, eine graue Tigerkatze, die unglaublich süß war, aber auch zu Tode erschrocken. Ich nannte sie Sarah Kitty. Zuerst hatten B. J. und ich Angst vor ihr, weil sie bösartig sein konnte, aber irgendwann freundeten wir uns mit ihr an.

Eines Nachmittags waren B. J. und ich in der Wohnung, als Kitty plötzlich aus dem Puppenhaus gesaust kam, um einen neuen Besucher zu begutachten. Es war ein Junge in Justins Alter, den ich schon früher auf der Base gesehen hatte. Kaum war er im Wohnzimmer, da flitzte Sarah Kitty schon auf ihn zu und kletterte an ihm hinauf wie an einem Baum. Er schrie, teils vor Furcht, teils vor Schmerzen, weil sie ihn kratzte. B. J. und ich rannten zu ihm und rissen sie weg. Als wir endlich aufhörten zu lachen, musterten wir den Jungen und fragten uns, wer er wohl sei.

Justin war zu Hause und stellte ihn uns vor. »Das ist Sterling«, sagte er zu mir. »Dein Bruder.« Ich wusste, dass Justin einen Freund namens Sterling hatte, aber nicht, dass er sogar sein Zwillingsbruder war. Er und seine Familie lebten schon seit ein paar Jahren in L. A. und waren ebenfalls Sea Org-Mitglieder.

Ich brauchte eine Weile, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich noch einen Bruder hatte. Zwar sahen Sterling und Justin sich nicht ähnlich, aber sie mochten beide Sport und verstanden sich ziemlich gut. Sterling fing sogar an, mich an manchen Abenden von der Tagesstätte abzuholen und zu bleiben, bis Pat kam.

Mom und Dad verließen L. A. meistens am Sonntagmorgen um elf Uhr. Justin und ich gingen häufig mit ihnen nach draußen, um ihnen nachzuwinken. Ich werde niemals jenen Sonntag vergessen, an dem meine Eltern gerade rückwärts aus der Garage fuhren und B. J. und ich rittlings auf dem Garagentor saßen. Als ich nach rechts rutschte, um den Wagen durchzulassen, klemmte ich mir mein Bein zwischen den Gitterstäben ein. Justin versuchte, mich freizubekommen, aber ich verstand das falsch und dachte, er wollte mich wie üblich ärgern. Es gab keine Schutzvorrichtung, daher wurde mein Bein zwischen dem Tor und der Mauer eingeklemmt, und ich saß fest. Vor lauter Schmerzen schrie ich laut auf.

Mein Dad sprang aus dem Wagen und zog mit bloßen Händen die Metallstäbe auseinander, um mein Bein zu befreien. Ich weinte hemmungslos, als er mich zum Aufzug trug und zurück in die Wohnung brachte. Meine Eltern riefen eine ansässige scientologische Ärztin an, die ihnen sagte, sie sollten mich auffordern zu laufen. Als es nicht ging, weil es zu wehtat, erklärte sie ihnen, leider sei mein Bein wahrscheinlich gebrochen und ich müsse am nächsten Morgen zum Röntgen.

Mom und Dad blieben, so lange es ging, bei mir, aber von der Int kamen so viele dringende Anrufe, dass sie nach dem Abendessen fahren mussten. Ein Vorgesetzter in der Int bestand darauf, dass sie zurückkamen, obwohl er wusste, dass ich ernsthaft verletzt war. Da Befehle befolgt werden mussten, gehorchten meine Eltern widerstrebend. Die Konsequenzen für Ungehorsam waren nicht zu unterschätzen und hingen davon ab, wie wichtig und zornig derjenige war, dem man nicht gehorcht hatte. Meine Eltern wollten ihren Vorgesetzten nicht verärgern und die Konsequenzen auf sich nehmen. Schließlich war es für das höhere Wohl.

Nachdem meine Eltern gefahren waren, blieb Pat bei mir und brachte mich am nächsten Morgen zum Röntgen in die Arztpraxis. Tatsächlich war mein Knie gebrochen. Aber der Arzt konnte es nur verbinden.

Zwei Tage später war ich wieder in der Kindertagesstätte. Mir tat das Bein so weh, dass ich nur humpeln konnte und bei unserem täglichen Spaziergang auf der Franklin Avenue zurückfiel. Die Kindergärtnerin ließ nicht die Gruppe langsamer gehen, sondern wurde wütend und befahl mir, schneller zu laufen. Offenbar glaubte sie, ich machte Theater. B. J. verteidigte mich und erzählte ihr, mein Knie sei gebrochen.

»Tja, wenn du zurückfällst, werden wir nicht auf dich warten«, sagte sie tadelnd. Sie befahl mir auch, ich müsste dafür sorgen, dass es funktionierte. Das spiegelte den scientologischen Glauben wider, nach dem der Geist über die Materie herrschte. Ich durfte nur nicht zulassen, dass der Schmerz meine Gedanken beherrschte, dann wäre es nicht so schlimm. Aber es vergingen ein paar Monate, bis mein Knie nicht mehr so wehtat.

Unmittelbar vor meinem fünften Geburtstag teilte Justin mir mit, dass er L. A. verlassen und an einem Ort namens Ranch wohnen würde. Ich wusste weder, was die Ranch war, noch wo sie sich befand, aber er sollte mich nicht allein lassen. Ich sah Mom und Dad schon so selten. Er meinte, es sei ganz in der Nähe ihrer Wohnung und er würde mich ab und zu besuchen, so wie sie. Noch schlimmer wurde es dadurch, dass Taryn auch ging. Ich wusste nicht, welche Reaktion man von mir erwartete, aber es gefiel mir nicht.

Da B. J. und ich jetzt von niemandem mehr abgeholt wurden, mussten wir in der Tagesstätte bleiben, bis Pat kam, normalerweise gegen acht Uhr abends – außer donnerstags, wenn sie oft bis nach Mitternacht arbeiten musste. Alle Kinder in der Tagesstätte aßen ihr Abendessen auf dem Küchenboden, duschten kurz, spielten ein bisschen und gingen dann zum Schlafen in eines der Bettchen, die an der Wand des Wohnzimmers aufgestellt waren. Dort lernte ich zum ersten Mal etwas über Touch Assists. Man stellte uns dazu paarweise auf und zeigte uns, wie man sein Gegenüber mit einem Finger am Arm berührte. Die Touch Assists waren von LRH erdacht worden, damit der Thetan in uns besser mit unserem Körper kommunizieren konnte, zum Beispiel, um Heilungsprozesse zu verbessern.

»Spürst du meinen Finger?«, sagte ich zu meinem Partner, und der musste dann sagen: »Ja.«

Dann sagte ich: »Gut«, und wiederholte die Übung am anderen Arm. Danach kamen die Finger, Zehen, Beine und das Gesicht des Partners an die Reihe. Ich verstand das Konzept zwar nicht genau, merkte aber, dass mir die Touch Assists beim Einschlafen halfen.

Viele Kinder blieben über Nacht, aber B. J. und ich wurden von Pat abgeholt und in unsere eigenen Betten oder das Bett unserer Eltern gesteckt, wo sie gemeinsam mit uns schlief. Sie war unglaublich nett, und ich liebte sie sehr. Sonntags holte sie uns in der Wohnung ab und brachte uns zur Tagesstätte, wenn meine Eltern zur Int Base aufgebrochen waren.

Alle paar Monate gingen Pat oder Rosemary mit mir zu einer internationalen Versammlung von Scientologen, die in der Regel im Shrine Auditorium abgehalten wurde, einer riesigen Veranstaltungshalle auf der West 32 Street. Hunderte Scientologen und Sea Org-Mitglieder, die teils aus Los Angeles, teils von der Int Base kamen, nahmen daran teil. Zu diesen Gelegenheiten zog mich Pat immer hübsch an und machte mir Locken. Dann saßen wir zusammen im Publikum und hörten den Vorträgen zu. Ich wusste nicht, wovon die Rede war, aber mein Vater war oft einer der Starredner. Wenn ich ihn auf dem Podium sah, wurde ich so aufgeregt, dass ich »Hi, Daddy! Ich bin hier drüben!« rief und wie wild winkte.

Auch wenn mein Onkel Dave sprach, geriet ich aus dem Häuschen und brüllte: »Hi, Onkel Dave! Hier bin ich! Jenna!«

Wenn wir uns anschließend hinter der Bühne trafen, erzählten sie, sie hätten mir zugezwinkert oder mit dem kleinen Finger gewunken, als niemand hinsah. Ich hatte keine Ahnung, wie wichtig diese Events waren, aber sie dauerten immer mehrere Stunden, es gab immer wieder Standing Ovations und lautes, lang anhaltendes Jubeln, und das Essen beim Empfang danach war großartig.

B. J. und ich hatten gut ein Jahr allein in L. A. gelebt, als Pat uns mitteilte, dass wir auf die Ranch ziehen würden, wo auch Justin und Taryn lebten. Wir waren beide begeistert, obwohl wir nicht wussten, warum wir L. A. verlassen sollten. Es stellte sich heraus, dass jemand direkt vor dem Edgemont Building erschossen worden war, daher bestanden meine Eltern darauf, dass ich sofort zur Ranch gebracht wurde. Und B. J. musste natürlich mitkommen.

Am darauffolgenden Morgen packten wir unsere Sachen zusammen und warteten darauf, von Dads Sekretärin Rosemary abgeholt zu werden. Als sie kam, stiegen B. J. und ich auf den Rücksitz und rechneten fest damit, dass Pat ebenfalls einsteigen würde. Aber sie blieb vor dem Wagen stehen.

»Warum steigst du nicht ein?«, fragte ich und musste erfahren, dass sie nicht mitkommen würde. Wir fingen beide an zu weinen. Zwei Jahre waren wir zusammen gewesen. Ich war am Boden zerstört. Obwohl ich wusste, dass ich auf der Ranch meine Eltern vielleicht häufiger sehen würde, war ich dennoch sehr traurig. Mit Pat hatte ich mehr Zeit verbracht als mit meinen eigenen Eltern. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, und versprach, sie oft zu besuchen. Nach einer letzten langen Umarmung stieg ich wieder ins Auto, und Rosemary fuhr los.