KAPITEL 15
Mom

Es war frustrierend, dass ich jetzt doch in Clearwater bleiben musste, doch viel schlimmer fand ich, dass ich in den folgenden Tagen meine Mutter einfach nicht erreichen konnte. Jeden Abend verschaffte ich mir mit dem Hauptschlüssel Zutritt zu Toms und Jennys Wohnung und rief im RTC an, doch dort sagte mir jeder, der sich meldete, meine Mom wäre nicht zu sprechen. Auf meine Frage, wie ich sie denn erreichen könnte, erhielt ich nur vage Antworten und Ausflüchte. Schließlich rief mich mein Vater an und erklärte, ich dürfe nicht mehr im RTC anrufen, um mit Mom zu sprechen. Als ich ihn nach dem Grund fragte, meinte er, sie habe ein Sonderprojekt, mit dem sie Tag und Nacht beschäftigt sei. Doch auch er wollte mir nicht sagen, was genau sie eigentlich tat.

Langsam machte ich mir Sorgen und befürchtete, die ganze Geheimniskrämerei sei ein Zeichen dafür, dass sie in die RPF geschickt worden war. Die Rehabilitation Project Force war die schlimmste Bestrafung durch die Kirche, ein Programm, mit dem Abweichler auf Spur gebracht werden sollten. Oft mussten sie dann in einen von der Öffentlichkeit isolierten Bereich auf der Base, und zwar normalerweise für mindestens zwei Jahre, aber das hing davon ab, wie schnell sie ihr Rehabilitationsprogramm absolvierten. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wieso man sie in die RPF hätte schicken sollen. Schließlich hatte sie Onkel Dave erst kurz zuvor zum Lieutenant Commander befördert und am Sea Org Day vor dem gesamten Publikum gelobt. Andererseits war sie noch nie so unerreichbar gewesen. Angestrengt suchte ich nach einem anderen Grund für ihr Verschwinden.

Einen Tag nach meinem Telefonat mit Dad rief mich eine RTC-Abgeordnete namens Sophia Townsend aus meinem Kursraum. Besuch aus dem RTC war fast nie ein gutes Zeichen. Der Religious Technology Center war die ranghöchste Organisation der Church und hatte wesentlichen Anteil an der Durchsetzung der Regeln und der genauen Umsetzung von LRHs Prinzipien. Mr. Townsend ging mit mir hoch in ein Zimmer, um, wie sie sagte, eine ›kurze Sitzung‹ mit mir abzuhalten. Als ich fragte, was sie damit meinte, antwortete sie schroff, das würde ich schon sehen.

Sie begann mit der üblichen Prozedur, fragte mich, ob ich müde oder hungrig sei und ob irgendwelche Gründe dagegen sprächen, mit der Sitzung zu beginnen. Ich antwortete auf diese Fragen mit ›nein‹.

»Das ist die Sitzung!«, rief sie daraufhin laut und starrte mich an.

Sie stellte mir weitere Standardfragen und wollte wissen, ob ich aufgebracht oder mit den Gedanken woanders sei. Nach einer kurzen Besprechung dessen, was mir im Kopf herumging – hauptsächlich das, was mit meiner Mutter zu tun hatte –, kam sie zum eigentlichen Grund unserer Sitzung.

»Ist ein Geheimnis übersehen worden?«, fragte sie. Sie versuchte herauszufinden, ob ich ein Vergehen begangen hatte, das ich geheim halten wollte. Nachdem sie den E-Meter kurz getestet hatte, starrte sie mich erwartungsvoll an.

»Nein«, sagte ich, wie ich fand, berechtigterweise.

Mr. Townsend gefiel diese Antwort nicht. Ich überlegte, ob es hier um kleinere Geheimnisse ging wie die Tatsache, dass ich ungefragt Toms Telefon benutzt hatte, um zu Hause anzurufen. Aber das wollte ich nicht preisgeben, denn dann hätte sie es Tom gesagt, und es wäre vorbei gewesen mit den Anrufen.

»Nein«, wiederholte ich. Offensichtlich zeigte die Nadel an, dass ich log. Ein drittes Mal fragte mich Mr. Townsend nach »übersehenen Geheimnissen«, und wieder lautete meine Antwort: »Nein.« Ich merkte, dass sie langsam richtig wütend wurde.

»Ist gut«, sagte sie. »Hast du eine Bank ausgeraubt?«

»Was?«, rief ich ungläubig. »Nein! Wieso sollte ich das tun?«

»Ist gut. Hast du jemanden umgebracht?«

Die Fragen waren absurd. »Soll das Ihr Ernst sein?«, fragte ich.

»Allerdings«, erwiderte sie in ärgerlichem Ton, der auch in ihrer nächsten Frage mitschwang: »Hattest du Sex mit deinem Vater?«

»Was soll das denn?«, brüllte ich zurück.

»Nun, dann lass uns doch noch mal überlegen, denn ich sehe hier etwas am E-Meter.«

»Nein, habe ich nicht«, sagte ich mit Nachdruck und fügte hinzu, ich könne nicht glauben, dass sie mir so etwas überhaupt zutraue.

Aber Mr. Townsend war noch nicht fertig. »Dann wiederhole ich die Frage: Ist ein Geheimnis übersehen worden?«, sagte sie roboterhaft.

So ging das stundenlang weiter, wie ein Verhör, nur dass ich nicht wusste, weshalb ich angeklagt war. Ich begriff nicht, was das sollte und worum es eigentlich ging. Hatte es etwas mit meiner Mom zu tun? Was genau hatte ich falsch gemacht? Als schließlich klar war, dass das Ganze zu nichts führen würde, weigerte ich mich einfach, noch etwas zu sagen. Also beendete sie die Sitzung mit der Bemerkung, sie würde mich ans Ethik-Department überstellen, weil ich Antworten verweigert hätte, bei denen der E-Meter anzeigte, dass ich sie wüsste.

»Schön«, sagte ich, erleichtert, endlich entkommen zu können, obwohl ich wusste, dass ich in großen Schwierigkeiten steckte. Als Nächstes ging ich, wie es nach jeder Sitzung vorgeschrieben war, zum Prüfer.

»Danke sehr, die Nadel schlägt regelmäßig aus«, erklärte er wie immer. Wenn die Nadel regelmäßig ausschlug, hieß das, man war glücklich und erleichtert, aber nichts hätte unzutreffender sein können: Noch nie war ich so beunruhigt gewesen. Mr. Townsend befahl mir, im Auditing-Zimmer zu warten, bis mich jemand vom Ethik-Department abholen würde.

Kurz darauf wurde ich zum WB eskortiert und bekam unterwegs eine Strafpredigt für meine mangelnde Kooperation mit Mr. Townsend. Schon bald erreichten wir das WB, wo ein paar Minuten später Anne Rathbun, eine andere hochrangige RTC-Abgeordnete, zu mir kam. Ich kannte sie, weil sie mehrere Jahre in Onkel Daves Büro gearbeitet hatte und mit Marty Rathbun, Onkel Daves wichtigstem Lieutenant verheiratet war. Sie erklärte mir, Mr. Townsends Sitzung sei zu hart gewesen, daher würde ich noch eine Sitzung mit einem anderen Auditor bekommen.

Der nächste Auditor, Mr. Angie Trent vom RTC, war viel freundlicher. Sie stellte eine Reihe Fragen von einer vorbereiteten Liste, und wenn der E-Meter anschlug, sah sie mich an. Diese Sitzung verlief wesentlich besser. Danach versprach sie mir, dabei zu helfen, etwas über den Verbleib meiner Mutter zu erfahren.

Ich versuchte, mich wieder auf meine Kurse zu konzentrieren, so schwer es auch war. Tröstlich war nur der Umstand, dass mir jemand zur Seite stand, den ich kannte. Claire Headley war einer meiner Supervisoren gewesen, als Justin und ich als Zwillinge auf der Int einen Kurs absolviert hatten, und obwohl ich meine Schwierigkeiten gehabt hatte, war sie immer optimistisch und ermutigend gewesen. Sie war älter als ich, trotzdem waren wir gute Freunde geworden. Seitdem war sie befördert worden, hatte eine Stelle beim RTC bekommen, half jetzt bei der Umsetzung des Goldenen Zeitalters der Technologie und musste mit Mr. Headley angesprochen werden. Obwohl wir befreundet waren, musste ich sie mit »Sir« anreden, denn jetzt war sie eine RTC-Abgeordnete, die man zu respektieren und zu fürchten hatte.

Trotzdem half sie mir, mich zu beruhigen und mich wieder auf mein Studium konzentrieren zu können. Wochen vergingen, ohne dass ich etwas von meiner Mom hörte, aber Mr. Headley versicherte mir immer wieder, sie versuche, Informationen für mich zu bekommen. Eines Samstagmorgens, während wir unsere Wohnungen auf Hochglanz bringen mussten, kam Mr. Headley zu mir und erklärte, wir würden am nächsten Morgen zusammen zur Int fliegen, um herauszufinden, was mit meiner Mutter geschehen war. Ich war geschockt, aber glücklich. Mr. Headley freute sich ebenfalls, weil sie auf der Int ihren Mann sehen konnte, von dem sie sich trennen musste, als sie zum RTC auf der Flag geschickt worden war.

Wir flogen nach L. A. und fuhren zum Stützpunkt. Mr. Headley brachte mich zur Wohnung meiner Eltern und verschwand, sobald Dad kam, um uns etwas Privatsphäre zu geben.

»Wie geht es dir?«, fragte er und streckte die Arme nach mir aus.

Ich versuchte, die Fassung zu bewahren, doch als ich den Mund öffnete, um zu antworten, spürte ich schon, wie mir die Tränen kamen. Gedanken und Gefühle sprudelten unsortiert aus mir heraus, als ich ihm sagte, wie sehr ich mich um Mom sorgte, weil ich sie einfach nicht hatte erreichen können. Ich erzählte ihm auch von meiner schrecklichen Sitzung mit Mr. Townsend.

»Das tut mir leid«, sagte er und sah mir in die Augen. »Aber in einer Lage wie dieser gehört eine Sitzung wie die mit Mr. Townsend zur Standardprozedur. Das ist zwar unangenehm, aber notwendig.«

Ich wich zurück, verärgert, dass er für sie Partei ergriff, aber auch verwirrt: Was meinte er mit Standardprozedur? Doch noch bevor ich ihn fragen konnte, lieferte er mir schon die Antwort.

»Deine Mom hat einen Out 2D«, sagte er sachlich. Im Klartext hieß das, dass sie eine Affäre hatte. Obwohl mich das schockierte, erkannte ich im selben Moment, dass ich genau das die ganze Zeit geahnt hatte. Deshalb hatte ich befürchtet, sie müsste in die RPF, deshalb hatte es mich so aufgebracht, nicht mit ihr reden zu können. Deshalb hatte Mr. Townsend geprüft, ob ich Geheimnisse für mich behielt – um sicherzustellen, dass ich nichts von Moms Affäre gewusst hatte.

»Mit wem?«, fragte ich.

»Was glaubst du denn?«

»Wahrscheinlich mit Don.«

»Ganz genau«, sagte Dad. »Wusstest du davon?« Sein Tonfall legte nahe, dass er mir unterstellen wollte, ich hätte mich mit Mom verschworen. Ich dachte wieder an meine Sitzung mit Mr. Townsend und ihre intensive Suche nach irgendwelchen Geheimnissen. »Nein«, antwortete ich, »aber sie waren ziemlich gut befreundet, daher lag die Antwort nahe.«

Selbst für mich war offensichtlich gewesen, dass sie nicht nur freundschaftliche Gefühle füreinander hegten, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so weit gegangen waren.

Ich geriet in Panik, weil ich an die Folgen für Mom dachte. Jemand mit Out 2D wurde als das Allerletzte behandelt. Ich hatte immer zu meiner Mutter aufgeblickt. Trotz allem, was andere zweifellos jetzt von ihr hielten, wusste ich, dass sie viel Gutes für die Church bewirkt hatte und immer noch eine sehr fähige Mitarbeiterin war. Das würde ich nie vergessen. Aber das Wissen, dass sie etwas so strikt Verbotenes getan hatte wie ein Out 2D, erschwerte es mir sehr, rational zu bleiben.

Ich verdrängte meine Gefühle, so gut es ging. Ich versuchte, mich von meinen Emotionen abzuspalten, mich rein logisch zu verhalten, nicht nur zu reagieren, sondern das zu tun, was richtig und notwendig war. Das war genau die Situation, in der sich meine Trainingsroutine mit Provokationen als besonders nützlich erweisen konnte. Ich hatte es gelernt, meine Gefühle zu unterdrücken und nicht emotional, sondern rational zu reagieren. Ich musste meinen Verstand von meinen Gefühlen abtrennen. Selbst in ganz normalen Situationen, die wesentlich unwichtiger waren als die Eröffnung, dass die eigene Mutter eine Affäre hatte, bekam man den Rat, man solle seine TRs wiederholen, sobald man impulsiv oder aufgebracht war, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Also nutzte ich nun meine TRs, um mich innerlich abzuspalten, die Technik war in diesem Augenblick sehr hilfreich.

Aber während ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, verlor Dad die Kontrolle über seine und brach in Tränen aus. Er erzählte mir, er habe das Gefühl, die letzten beiden Jahre ihrer Ehe seien eine einzige Lüge gewesen. Onkel Dave sei so nett gewesen, ihn beiseitezunehmen und ihn persönlich von der Affäre seiner Frau in Kenntnis zu setzen. Ich umarmte ihn mitfühlend, weil mir das als das einzige Richtige erschien.

»Wo ist Mom?«, fragte ich dann, obwohl ich wusste, dass man laut der Regel mit Out 2D sofort ›von Bord‹ musste. Die Regel war noch auf der Apollo verfasst worden und hatte damals vorgesehen, dass der Missetäter am Strand ausgesetzt wurde. Jetzt kam er zur Strafe normalerweise in die RPF.

Dad bestätigte das. »Sie ist in der RPF, wo sie hingehört«, sagte er kalt.

»Geht es ihr denn gut?« Dad schien die Frage zu schockieren, so als wäre das unwichtig.

»Ich glaube schon, aber mich interessiert es momentan kaum, ob es ihr gut geht. Sie hat mich verraten«, erwiderte er. »Aber keine Angst. In der RPF bekommt jeder was zu essen und einen Platz zum Schlafen, also geht es ihr sicher gut.«

Ich hatte immer mit den anderen mitgefühlt und ein Herz für jeden, der in Schwierigkeiten geriet, auch wenn sie selbst verschuldet waren. Bei der Vorstellung, dass meine Mom, ganz gleich, wo sie jetzt war, sehr schlecht behandelt wurde und auf all ihre üblichen Privilegien verzichten musste, empfand ich nur noch mehr Mitgefühl. Aber Dad schien, vielleicht verständlicherweise, zu denken, dass sie bekam, was sie verdiente. Offenbar hatte er schon vergessen, dass sie beide selbst ein Out 2D begangen hatten, bevor sie verheiratet gewesen waren.

Dad sagte, er wäre gerade dabei, Moms Sachen durchzugehen und für die Einlagerung zusammenzupacken. Er fragte mich, ob ich ihm helfen wollte. Wenn jemand in die RPF kam, blieb er normalerweise jahrelang dort. Zwei Jahre wurden schon als kurz betrachtet. Als wir anfingen, ihre Garderobe durchzusehen, hielt er immer wieder ein Kleidungsstück in die Höhe und sagte: »Willst du das? Sie wird das nie wieder brauchen.« Ich wusste nicht, wie ich auf all das reagieren sollte. Wenn ich strikt den scientologischen Prinzipien gefolgt wäre, hätte ich sie auf der Stelle hassen müssen, und zwar nicht, weil sie unsere Familie gefährdet, sondern weil sie die Regeln gebrochen hatte. Aber zu meiner Beunruhigung stellte ich fest, dass ich sie nicht hasste. Natürlich war ich wütend auf sie, aber ich hasste sie nicht. Im Gegenteil, ich liebte sie immer noch. Ich wusste, es war nicht richtig, so zu empfinden, daher behielt ich es für mich.

Mein Schweigen hielt Dad nicht davon ab, mich zu fragen, wieso ich eigentlich nicht weinte. Er sagte, Onkel Dave hätte ihn gefragt, wie ich wohl auf die Nachricht reagieren würde, und er hätte ihm geantwortet, ich würde ausflippen. Es ärgerte mich, dass er meinte, mich gut genug zu kennen, um solche Aussagen zu machen. Außerdem war ich wütend, dass er mich Onkel Dave gegenüber so kindisch dargestellt hatte, wo ich doch jetzt ein vollwertiges Sea Org-Mitglied war, genau wie er.

Nachdem wir eine Stunde lang Moms persönliche Sachen zusammengepackt hatten, musste Dad zur Arbeit zurück. Mr. Headley kam, umarmte mich und erklärte, wie leid es ihr tue. Erst ihr Mitgefühl trieb mir die Tränen in die Augen, denn ich spürte, dass es aufrichtig war.

Ein paar Minuten später traf Tante Shelly ein.

»Hey, ich habe gehört, du hast es wie eine Erwachsene aufgenommen«, sagte sie. »Sehr schön!« Sie umarmte mich, dann machten wir einen kleinen Spaziergang, um uns zu unterhalten.

»Deiner Mom geht es jetzt gut, und es wird ihr auch weiterhin gut gehen«, erklärte Tante Shelly mir. »Sie hat immer behauptet, die stärkste Frau auf dem gesamten Stützpunkt zu sein, deshalb wird sie die MEST-Arbeit in der RPF schon nicht umbringen.«

Allerdings wurde sie wesentlich kühler, als ich ihr sagte, ich machte mir Sorgen um Mom und wolle nicht, dass sie traurig wäre.

»Wusstest du«, fragte sie daraufhin, »dass deine Mom dich nur für die Auditing-Kurse zur Flag zurückgeschickt hat, um einen Vorwand zu haben, mit Don in Kontakt zu bleiben?« Das tat weh. Ich wusste nicht, ob das die Wahrheit war oder ob Tante Shelly übertrieb. Während ich ihre Worte noch verdaute, versuchte Tante Shelly mir zu erklären, warum die RPF genau der richtige Ort für meine Mom war: Schließlich sei es nicht der erste Vorfall dieser Art, und ein solches Benehmen sei mehr als verwerflich.

Dann sprachen sie und ich über meine Zukunft. Sie sagte, sie habe sich sehr über meine Beförderung zum Messenger gefreut, weil sie wolle, dass ich meine Ausbildung absolvierte und dann zurück zur Int käme, um dort zu arbeiten. Dieser Zukunftsplan, den sie für mich entworfen hatte, gefiel mir sehr. Genau das war doch auch immer mein Traum gewesen. Wir unterhielten uns ein, zwei Stunden. Sie erzählte mir Geschichten aus ihrem Leben, von ihrer Arbeit für LRH, und wie viel es ihr bedeutet hatte, schon mit neun Jahren einer seiner Messenger gewesen zu sein. Am Ende des Gesprächs umarmten und verabschiedeten wir uns.

Die nächsten Tage verbrachte ich viel Zeit mit Mr. Headley. Sie führte mich auf der Int Base herum und zeigte mir alle Veränderungen, die sich seit meiner Abreise ergeben hatten. Der gesamte Stützpunkt erstreckte sich über fünfhundert Hektar. Bevor die Church den Besitz 1978 gekauft hatte, war er ein Resort gewesen und hatte jetzt immer noch einen riesigen künstlichen See, ein Schloss und ein Bewässerungssystem, mit dem trotz des kalifornischen Wüstenklimas alles üppig grün gehalten wurde. Das gesamte Grundstück war mit Stacheldraht und vielen Hundert, zum Teil versteckten, meist aber deutlich sichtbaren Überwachungskameras geschützt. Jetzt zeigte mir Mr. Headley ein neues Gebäude, ein Herrenhaus namens Bonne View. Es war bereits bezugsbereit und für den Tag gedacht, an dem LRH zurückkehren würde. »Kommt er in einem anderen Körper?«, fragte ich und überlegte, wie und wann er wohl zurückkehren würde.

»Wahrscheinlich«, antwortete Mr. Headley, die sich über die Einzelheiten ebenfalls nicht sicher zu sein schien.

Stacy Moxon, ein Mitglied des Hauspersonals von Bonne View, führte uns durch das Gebäude. Eine kleine Gruppe der CMO war eigens dafür abgestellt worden, sich sofort um LRHs persönliche Bedürfnisse zu kümmern, sobald er zurückkam. Das Haus war ein prächtiges Backsteingebäude mit mehreren Kaminen, das in einem wunderschönen Park lag. Es war bei weitem das schönste Anwesen auf dem gesamten Stützpunkt.

Für mich war es eine echte Offenbarung, das ganze Gelände der Int zu entdecken, aber da ich ständig an den Fehltritt meiner Mutter und den Kummer meines Vaters erinnert wurde, sehnte ich mich ziemlich schnell fort. Noch wenige Tage zuvor hatte ich mir nichts mehr gewünscht, als der Flag zu entfliehen; aber jetzt, nach allem, was geschehen war, war ich sehr erleichtert, als Mr. Headley und ich nach Clearwater zurückmussten. Es war ganz gleich, was mich in Clearwater erwartete und welche Schwierigkeiten ich bei der CMO hatte, ich wollte nur weg von der Int und alle Probleme hinter mir lassen.

Trotzdem bestand Dad darauf, dass ich zu Weihnachten nach Kalifornien zurückkommen würde. Ich gehorchte widerwillig, blieb aber einen Großteil der Feiertage auf der Ranch. Zuerst ärgerte ich mich, dass ich in der Cadet Org bleiben musste, schließlich war ich doch jetzt ein Sea Org-Mitglied, obwohl mein Dad das anders sah. Aber nach einer Weile sehnte ich mich in die Zeit vor der CMO zurück, weil ich die Freundschaft mit den anderen auf der Ranch genoss. Hier waren die Menschen, die mich wirklich kannten. Sie waren mit mir zusammen aufgewachsen und verstanden mich auch ohne große Worte.

Bei der alljährlichen Bier-und-Käse-Weihnachtsparty stand ich gerade mit ein paar Freunden von der Ranch zusammen, als Dad zu mir kam und mich beiseite nahm.

»Onkel Dave will dich sehen«, sagte er mit drängender Stimme. »Er ist im Billardzimmer.«

Nervös bahnte ich mir einen Weg durch den Speisesaal bis zu Onkel Daves Privaträumen. Als ich dort eintrat, fragte er mich, wie es mir ergangen war, schien aber kaum auf meine Antwort zu achten. Nach ein paar Minuten entschuldigte er sich.

»Verzeih mir, Jenny, dass ich so abgelenkt bin. Aber ich wollte etwas Wichtiges mit dir besprechen.« Er legte eine Pause ein, als wollte er sehen, wie ich auf seine Eröffnung reagieren würde. Dann fuhr er fort: »Deine Mutter hat mich gebeten, dich sehen zu können.«

Das überraschte mich ein wenig, da ich seit Monaten nichts mehr von ihr gehört hatte. Doch als mein Dad gesagt hatte, dass Onkel Dave mich sprechen wollte, hatte ich mir schon so etwas gedacht. Onkel Dave schien der Einzige zu sein, der Kontakt zu ihr hatte. Zwar war ich nicht wütend auf sie, aber ich fürchtete mich vor peinlichen Geständnissen über ihre Affäre mit Don, falls ich sie sehen sollte.

Als ich über Onkel Daves Eröffnung nachdachte, musste ich mir eingestehen, dass ich sie eigentlich nicht sehen wollte. Und zwar nicht, weil ich wusste, was Onkel Dave hören wollte, sondern weil ich selbst einfach nichts mehr mit der ganzen Angelegenheit zu tun haben wollte. Ich hatte keine Lust darauf, mit ihr zusammenzusitzen und alles noch einmal durchzukauen, und vor allem hatte ich keine Lust auf all die verwirrenden Gefühle, die bei diesem Gespräch unweigerlich aufkommen würden. Ich war nicht wütend auf sie, ich wollte nur – so wie es mir beigebracht worden war – die Emotionalität der Situation vermeiden. Es sollte einfach alles normal sein.

»Ehrlich gesagt, möchte ich sie nicht sehen«, bekannte ich. »Ich hoffe, es geht ihr gut, und wünsche mir, dass sie das Programm erfolgreich durchläuft. Wenn sie damit fertig ist, können wir die ganze unschöne Angelegenheit hinter uns lassen. Und keiner von uns muss noch einen Gedanken daran verschwenden.«

»Du hast Recht, Jenny«, sagte Onkel Dave erleichtert. »Sie muss einfach das Programm absolvieren – das wird das Beste für sie sein. Vielleicht verleiht es ihr zusätzlich Motivation, wenn sie hört, was du dazu denkst. Bis jetzt war sie nicht besonders kooperativ.«

Das überraschte mich nicht. Einerseits war sie eine hochrangige Führungskraft, die sich hochgearbeitet hatte und wusste, dass der leichteste Weg zum Erfolg Gehorsam war; andererseits war sie eine starke, oft eigensinnige Frau. Die Frage war nur, wie weit sie in ihrem Widerstand gehen würde. Sie wusste so gut wie jeder andere, dass ihr kaum eine andere Wahl blieb. Entweder sie ging in die RPF, oder verließ die Sea Org für immer.

»Ich möchte, dass du ihr einen Brief schreibst«, sagte Onkel Dave, »damit sie weiß, dass es dein Wunsch ist, sie nicht zu sehen, und nicht meiner.«

Er gab mir mehrere Bögen Papier, und ich begann mit »Liebe Mom …«, aber dann wusste ich nicht weiter. Onkel Dave machte zwar ein paar Vorschläge, wollte aber nicht, dass der Brief so klang, als käme er von ihm. Also fasste ich mich kurz und schrieb nur, dass ich sie zwar noch liebte, aber nur wollte, dass sie einfach das Programm durchlief, weil es das Beste für uns beide wäre.

»Danke, Jenny«, sagte Onkel Dave lächelnd, als ich fertig war. »Ich sorge dafür, dass sie diesen Brief bekommt.«

Am Tag vor Weihnachten wurde ich schwer krank und musste Weihnachten im Bett verbringen. Ich hatte hohes Fieber, geschwollene Lymphknoten und Schwindelgefühle. Dad kam mich besuchen und brachte mir Vitamin C und Hustenbonbons mit. Er hatte sogar ein Klistier mitgebracht, im Auftrag von Tante Shelly, die das für eine gute Idee hielt. Aber ich fand das ekelhaft und sagte ihm das auch.

Am Tag nach Weihnachten verkündete Dad, dass für mich ein Rückflug nach Clearwater gebucht sei. Er wollte, dass ich zur Base mitkam, um mich von Onkel Dave und Tante Shelly zu verabschieden, obwohl ich krank war. Wir warteten eine Ewigkeit im Empfangsbereich vor ihren Büros, bis sie endlich zu uns herauskamen. Da Onkel Dave nichts von meiner Krankheit gewusst hatte, gab es einen kleinen Aufruhr, weil man fürchtete, er könnte sich anstecken. Daher eilte er sofort wieder zurück in sein Büro, und nur Tante Shelly verabschiedete sich von mir. Allerdings bestand sie darauf, dass mein Flug um einige Tage verlegt wurde, damit ich mich vorher erholen konnte.