KAPITEL 11
Zurück zur Arbeit
Nach meinem Abschluss blieb ich noch ein paar Wochen in Clearwater und flog dann mit meiner Mutter nach Kalifornien zurück. Sie hatte auf der Int zu tun, und ich ging zurück zur Ranch. Da ich Monate weg gewesen war, fühlte es sich sehr seltsam an, wieder dort zu sein. Am schwersten war es, nach meiner Freiheit auf der Flag zur alltäglichen Plackerei mit den Decks und allem anderen zurückzukehren. Aber wegen meiner Erinnerungen blies ich nicht Trübsal, sondern richtete alle meine Hoffnungen auf die Zukunft.
Natürlich sorgten auch meine Freunde auf der Ranch dafür, dass meine Stimmung nicht sank. Wenn ich mit ihnen zusammen war, dachte ich nur selten an meine Familie. Naomi, eine meiner besten Freundinnen, war ziemlich rebellisch. Sie hörte im Radio immer Punk-Musik, obwohl die Church viele Punkbands für zu anzüglich hielt, vor allem die Sex Pistols. LRH hatte einmal sogar ausdrücklich gesagt, dass diese Band einen schlechten Einfluss auf Kinder hätte.
Ich war auch mit Eva und Caitlin, zwei Schwestern, befreundet. Eva schminkte sich gerne und war ein richtiges Mädchen, genau wie ich übrigens, obwohl ich mir alle Mühe gab, als Wildfang zu gelten, weil das zu der Zeit cool war. Ich ging während der Mahlzeiten oder der Toilettenpausen in der Decks-Zeit gerne mit Eva in ihr Zimmer und sah mir die tollen Sachen in ihrer untersten Schublade an. Eva, Caitlin und Naomi wirkten auf mich menschlicher und weniger roboterhaft als die anderen Kinder der Ranch. Deshalb fühlte ich mich zu ihnen wohl am meisten hingezogen.
Da unsere Uniformen jeden Abend gewaschen wurden, durften wir für uns für den scientologischen Unterricht normal anziehen. Caitlin, Eva und ich tauschten gerne Klamotten. Wir mochten auch die gleiche Musik und schenkten uns zu Weihnachten etwas.
Wenn ich mit Caitlin und Eva zusammen war, konnte ich kaum noch ignorieren, dass wir wie alle anderen um uns herum älter wurden. Obwohl es von den Erwachsenen auf der Ranch gar nicht gern gesehen wurde, sprachen alle Mädchen plötzlich über Jungs und Flirten. Das war zwar noch ziemlich harmlos, aber kurz darauf sah ich, welche Konsequenzen sich daraus ergeben konnten.
Nicht lange nach meiner Rückkehr fing ich mit dem Life Orientation Course – kurz LOC – an, der sich direkt an den Key to Life-Kurs anschloss. Dieses Mal sollte Justin mein Zwilling sein. Weil die Supervisoren auf der Ranch für diesen Kurs nicht qualifiziert genug waren, mussten wir abends zur Int Base, statt auf der Ranch unseren scientologischen Studien nachzugehen.
Im LOC lernten wir etwas über die zwölf Ethik-Zustände des Menschen und die Schritte, die man unternehmen musste, um seinen Zustand zu verbessern. Außerdem erfuhr man noch mehr über die anderen Bereiche scientologischer Ethik. Es war ziemlich frustrierend, Justin als Zwilling zu haben. Wir lagen acht Jahre auseinander und hatten große Reibungsverluste. Wie im Key to Life mussten wir Texte laut vorlesen, ohne zu stocken oder uns zu versprechen. Wenn ich einen Fehler machte, musste ich innehalten und das Wort nachschlagen, das ich scheinbar nicht verstanden hatte. Justin stoppte mich schon beim kleinsten Versprecher, was natürlich seine Aufgabe war, aber ich leugnete meine Fehler. Er hatte kein Erbarmen und wurde noch ärgerlicher, weil ich ihn anlog. Ehrlich gesagt, begriff ich eigentlich kaum, um was es in dem verflixten Buch ging, aber das konnte ich ihm gegenüber nicht zugeben. Also hoben wir ständig die Hand, damit unser Supervisor als Schlichter eingriff. Mein reizbarer und herrschsüchtiger Bruder machte sich ständig über mich lustig, und dann brach ich in Tränen aus.
Schließlich teilte Justin dem Lehrkörper auf der Ranch mit, dass ich überfordert sei und den LOC nicht absolvieren könne. Außerdem erklärte er, ich hätte nichts aus dem Key to Life-Kurs in Erinnerung behalten. Er fing an, mir vor Mr. Parker und Mr. Bell stichprobenartig Fragen zu stellen, zum Beispiel: »Was ist der Konjunktiv?« Und dann zeigte sich, dass Justin Recht hatte. Sooft ich die Antworten in den letzten drei Monaten auch wiederholt hatte, sie waren bei mir nicht hängen geblieben.
Wenn man bei Scientology etwas vergisst, wird das so angesehen, als ob man es nicht verstanden hätte. Es gilt als Symptom für ein missverstandenes Wort. Durch meine Vergesslichkeit gab ich im Grunde zu, dass ich über Wörter hinweggegangen war, die ich nicht verstanden hatte. Das wurde gleichzeitig auch als gefälschte Beglaubigung eines Kurses angesehen, und das wiederum war ein Vergehen. Daher wurde ich in den niedrigen Ethik-Zustand ›Zweifel‹ zurückgestuft und musste mehrere Wochen Wiedergutmachung leisten, um wieder in die Gruppe aufgenommen zu werden.
Außerdem musste ich den größten Teil des Key to Life-Kurses wiederholen. Dazu fuhr ich morgens zur Int Base, um mit einer Frau, die mir als Zwilling zugewiesen war, zu arbeiten. Ich fuhr mit dem Essenslieferanten hin, und wieder zurück, wenn das Mittagessen gebracht wurde. Glücklicherweise war der Key to Life-Kurs beim zweiten Mal nicht mehr so schwer.
Da ich wegen des Kurses die Decks verpasste, musste ich sie nachmittags nachholen. Aber das war nicht so schlimm, weil ich mit Teddy, einem Freund meines Bruders, zusammen arbeitete. Er gehörte mittlerweile zum Personal der Ranch und wurde Mr. Blackman genannt. Unsere Projekte waren technischer Natur, zum Beispiel reparierten wir den Brunnen auf dem Grundstück. Ich fuhr mit ihm auf dem Motorrad zur Baustelle, saß neben ihm und reichte ihm das Werkzeug. Es war viel entspannter als die normalen Decks, bei denen man ständig unter Druck stand, sich schnell zu bewegen und Leistung zu erbringen. Das hier konnte man eigentlich kaum Arbeit nennen.
Es gefiel mir, mit Teddy zusammen zu sein. Er stellte mir Fragen zu Florida, wo er geboren worden war. Dann erzählte er mir, dass er sehnsüchtig auf seinen Abschluss bei der Cadet Org wartete, um endlich eine Freundin haben zu dürfen. Manchmal kletterten wir auf die Berge am Fluss, um den Sonnenuntergang zu sehen, oder wanderten zu einem herrlichen Wasserfall. Bis dahin hatte ich nicht gewusst, wie schön das Land der Ranch war, da ich nie Zeit gehabt hatte, es mir wirklich anzusehen. Teddy wurde mein Freund, obwohl er mich als Freund meines Bruders wohl eher als lästige kleine Schwester hätte betrachten können.
Meine Freundin Eva fing an, Bemerkungen darüber zu machen, wie nett Teddy zu mir war. Sie schien eifersüchtig zu sein. Ich fand das seltsam, weil sie, so weit ich wusste, nichts mit Teddy zu tun hatte. Die meisten Mädchen auf der Ranch schwärmten etwas für Teddy. Als ich noch jünger war, tat ich das auch, aber eigentlich war er viel zu alt für mich und eher so etwas wie ein Bruder. Ehrlich gesagt, mochte ich einen anderen Jungen in meinem Alter, Corwin, mehr. Er mochte mich ebenfalls und kam manchmal abends in meinen Schlafsaal, um sich mit mir zu unterhalten. Wir saßen in der Kurszeit einander gegenüber, und manchmal waren wir während der Mahlzeiten zusammen. Wenn er auf der Rampe vor dem Big House Skateboard fuhr, sah ich ihm zu und flirtete ein wenig mit ihm.
Ein paar Monate hatten Teddy und ich zusammen Decks-Projekte, aber eines Tages sah ich, wie er beim Appell abgeführt wurde. Das sah nach Ärger aus. Davor hatte ich gesehen, wie Eva in Zivilkleidung von einem Erwachsenen zum Cottage geführt worden war. Es war nie ein gutes Zeichen, an einem Wochentag in Zivil gesehen zu werden. Als Nächstes beobachtete ich, wie Teddy, auch in Zivil, zu einem anderen Gebäude gebracht wurde, und zwar von Rosemarys Sohn Mike, der mittlerweile ebenfalls auf der Ranch arbeitete. Ich wusste nicht, was passiert war, aber es sah so aus, als hätten sie gemeinsam etwas verbrochen. Erst später beim Decks-Appell hörte ich wieder davon, als die Leiterin der Abteilung Inspections and Reports der CMO International auf der Ranch auftauchte. Sie war für die Disziplin zuständig und hatte großen Einfluss. Beim Appell verkündete sie in sehr ernstem Ton, dass Eva und Teddy eines Vergehens bezichtigt wurden, das als Out 2D bezeichnet wurde, wobei 2D die Kurzform für die zweite Dynamik war. Out 2D, oder Vergehen in der Zweiten Dynamik, waren alle körperlichen Beziehungen, die über Küssen hinausgingen. Das war ein sehr schwerer Vorwurf.
Diese Anklage ging zurück auf die acht Dynamiken, die man bei Entscheidungen berücksichtigen sollte. Da die zweite Dynamik die Familie, private Beziehungen, Sex und Kinder umfasste, hieß 2D, dass Eva und Teddy etwas sexuell Unethisches getan hatten, was gegen den Kodex der Gruppe verstieß.
Ich hatte Angst um sie, denn sie würden wahrscheinlich schwer bestraft werden. Während ich mich noch fragte, was sie wohl erwartete, verkündete die Leiterin der Inspections noch weitere schockierende Neuigkeiten: Justin hatte von der Beziehung gewusst, sie aber nicht gemeldet. Das bedeutete, dass er dieselbe Strafe wie Eva und Teddy bekommen würde. Justin behauptete zwar steif und fest, nichts davon gewusst zu haben, aber sie glaubte ihm nicht und warf ihn aus der Versammlung.
Die nächsten Tage waren die reinste Hexenverfolgung, bei der jeder Angst hatte, er würde als Nächster an die Reihe kommen. Die Inspekteurin der Int blieb auf der Ranch, führte Meter-Checks durch und konfrontierte uns mit Berichten über unethisches Verhalten. Sie zwang viele, Berichte über jede 2D-Aktivität zu verfassen – inklusive Flirten –, die sie selbst unternommen oder mit angesehen hatten. Wir waren so jung, dass wir kaum wussten, was Flirten eigentlich bedeutete, daher war es für uns schon fragwürdig und unakzeptabel, für jemanden zu schwärmen oder Zeit mit ihm zu verbringen.
Ich wurde ebenfalls mit ein paar Berichten konfrontiert, in denen ich beschuldigt wurde, mit Corwin geflirtet zu haben. Obwohl ich wusste, dass alle Kontakte zwischen Mädchen und Jungen von nun an höchst misstrauisch beobachtet wurden, hätte ich weiterhin Zeit mit Corwin verbracht, wenn er nicht gleichzeitig mit meiner alten Freundin und Fluchtgefährtin Rebecca geflirtet hätte. Er kam sogar zu mir und fragte mich, warum ich ihn ignorierte. Ich war ziemlich gemein und teilte ihm nur mit, dass ich nicht mehr mit ihm flirten würde. Ich sah, dass er ein bisschen verletzt war, aber das war ich auch.
Eva und Teddy bekamen großen Ärger, durften aber auf der Ranch bleiben und wurden nicht zur Rehabilitation Project Force, kurz RPF, geschickt, was eigentlich die Standardstrafe für einen solchen Verstoß war. Diese Strafabteilung war für alle gedacht, die großen Mist gebaut hatten. Sie durften dort nur Schwarz tragen und niemals gehen, nur rennen, bei den Decks und bei allem anderen. Sie durften nur sprechen, wenn sie von Crew-Mitgliedern angesprochen wurden, und bekamen nur den halben Lohn und höchstens fünfzehn Minuten Pause für die Mahlzeiten. Wenn sie widersprachen oder nicht gehorchten, mussten sie Runden rennen. Ihre Tage teilten sich in schwere körperliche Arbeiten und Auditing-Sitzungen auf, wo sie alle ihre bösen Absichten offenlegen und mit Hilfe scientologischer Techniken loswerden mussten. Für ein Mitglied der Sea Org gab es nichts Schlimmeres als die RPF. Als ich auf der Ranch ankam, war das RPF-Programm noch dort untergebracht gewesen.
Teddy wurde stattdessen geächtet. Vom coolsten Jungen der Ranch wurde er herabgestuft zum Paria, mit dem niemand sprach.
»Früher fand ich ihn so cool«, sagte einmal eine Freundin zu mir, »aber jetzt finde ich, er ist ein Loser.«
Sie war nicht die Einzige, die so dachte. Er war in der Achtung der meisten auf die unterste Stufe gesunken. Später erfuhr ich von Teddys Mutter, dass er nach dem Out 2D mit Eva doch zur RPF verdonnert worden war, dass mein Onkel Dave es aber rückgängig gemacht hatte. Den Grund dafür fand ich nicht heraus, aber ich nahm an, es lag daran, dass Teddy jung und offiziell noch Kadett war, also kein vollwertiges Sea Org-Mitglied.
Ich persönlich konnte Teddy gegenüber nicht solche Verachtung entgegenbringen wie die anderen. Vor allem tat er mir leid. Ich sah in ihm niemanden, der der Gruppe geschadet oder sich gegen Scientology aufgelehnt hatte, sondern nur den Freund meines Bruders, der immer nett zu mir gewesen war.
Zu seiner Rehabilitierung gehörte, dass er LRHs Grundsatzschreiben über Ethik las, die wir in demselben Gebäude wie die Vitamine aufbewahrten. Er rechnete bestimmt damit, dass ich ihn wie alle anderen schnitt, aber wenn niemand hinsah, versuchte ich zumindest, ihn zu grüßen. Wenn ich ihn bei der Arbeit für meinen Posten sah, fragte ich ihn, wie es ihm ging. Teddy war dankbar für jede Freundlichkeit, und ein paarmal sah ich ihn sogar in Tränen ausbrechen.
Eva schien es nicht so viel auszumachen wie Teddy. Ich redete immer noch heimlich mit ihr, obwohl ich Ärger bekam, wenn ich dabei erwischt wurde. Einmal wurde ich gewarnt, wenn ich weiterhin mit ihr sprechen würde, würde ich dieselbe Strafe wie sie bekommen. Aber das hielt mich nicht davon ab, schließlich war sie meine Freundin.
Inzwischen wurde ich wegen einer Beziehung in die Mangel genommen, die Justin mit Tiffany hatte, einem Mädchen von der Ranch. Ich wusste nur, dass Tiffany mir einmal gestanden hatte, sie sei unsterblich in ihn verliebt, doch das hatte ich niemandem erzählt. Während der Befragungen sagte ich dummerweise »Ich werde nichts über meinen Bruder preisgeben!«, was die Sache natürlich noch verdächtiger machte. Ich dachte, mein Bruder wäre mir dankbar, stattdessen wurde er wütend und schimpfte, ich sei ein Idiot.
Schließlich beruhigte sich die Lage, und die Leiterin von Inspections and Reports fuhr zurück zur Int Base, aber ihre Arbeit auf der Ranch hatte eindeutig Wirkung gezeigt. Nachdem jemand erwischt und bestraft worden war, achteten wir nicht nur noch mehr darauf, mit wem wir gesehen wurden, sondern auch, wem wir trauen konnten.
Allerdings hatte der Vorfall mit Eva und Teddy in vielerlei Hinsicht den gegenteiligen Effekt bei mir. Vor dem Besuch der Inspekteurin hatte ich mich manchmal gefragt, was ich wohl tun würde, wenn ein Freund etwas verbrochen hätte und dafür Ärger mit der Gruppe bekäme. Jetzt hatte ich zum ersten Mal die Antwort darauf, und ich war überrascht, wie spontan und natürlich meine Reaktion gewesen war. Ganz gleich, was bei Scientology als richtig oder ethisch betrachtet wurde: Bei mir hatte Freundschaft Vorrang vor allem. Ich brachte es einfach nicht über mich, Freunde zu verraten.