KAPITEL 16
In der Estate Project Force
1997 kehrte ich kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag zur Flag zurück und war fest entschlossen, die Monate, die hinter mir lagen, zu vergessen. Zum ersten Mal wollte ich meine Eltern nicht sehen, ich wollte nur meine Aufgaben in der CMO erfüllen und meinen Platz finden.
Natürlich war das leichter gesagt als getan. Es war schwer, das, was passiert war, einfach zu verdrängen. Ich wusste, es wäre das Beste, mich von meinen Gefühlen abzuspalten, schaffte es aber nicht ganz. Immer noch drehten sich meine Gedanken um meine Mom, ich machte mir Sorgen um sie und hoffte, dass man sich um sie kümmerte – ich konnte mich einfach nicht dazu zwingen, mich wie ein guter Scientologe vollkommen von ihr abzulösen. So wäre es auch geblieben, hätte mir nicht ein Lichtblick geholfen, diese Dinge zu überwinden und all meine Energie auf die Sea Org zu konzentrieren.
Ich spürte, dass ich mich mehr als je zuvor von den wöchentlichen Abschlussfeiern auf der Flag inspirieren und motivieren ließ. Als ich noch jünger war, hatte mich einfach das ganze Spektakel fasziniert, doch jetzt ertappte ich mich dabei, dass ich viel mehr auf das achtete, was gesagt wurde: auf die Geschichten, was Scientology bewirken konnte.
Was mich vor allem anzog, waren die Gewinne, von denen die Absolventen jede Woche erzählten. Die Gewinne waren die großen Offenbarungen, die Belohnungen am Ende, die alle veranlassten, immer wiederzukommen, und mir ging es genauso. Diese Bekenntnisse zeigten stets, wie mächtig Scientology war und welches Potential es freisetzen konnte. Es war fast so, als bräuchte ich etwas in dieser schwierigen Zeit, in das ich mich stürzen konnte. Ich wollte mich von den Problemen ablenken und mich auf etwas Positives konzentrieren. Gewinne konnten vollkommen unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel erzählten manche, sie hätten zuerst nicht gewusst, ob sie sich die Kosten für die Kurse leisten konnten, doch nach Beendigung der Kurse hätten sie ihr Unternehmen so umgestaltet, dass sie jetzt das Zehnfache ihres früheren Einkommens verdienten. Andere berichteten, sie wären so extrakorporal, also außerhalb ihres Körpers gewesen, dass sie nach einer Auditing-Sitzung aufgestanden wären, aber dann gemerkt hätten, dass ihr Körper noch auf dem Stuhl saß. Einmal hörte ich, dass die Schauspielerin Juliette Lewis von ihren Gewinnen erzählte, nachdem sie den Zustand des Clear erreicht hatte. Ich weiß zwar nicht mehr, was sie genau sagte, aber die Tatsache, dass Prominente wie sie Scientology unterstützten, beeindruckte mich und alle anderen.
Die Gewinne motivierten unfehlbar alle, ganz gleich, wer davon erzählte. Je mehr Gewinne man mit den anderen teilte, desto überzeugender zeigte man, dass es funktionierte, und je mehr man darin investierte, desto schwieriger war es, sich von diesen Investitionen abzuwenden. Es war kaum möglich, sich diese aufwühlenden, gefühlsgeladenen Geschichten über persönliche Veränderungen anzuhören und nicht zu glauben, dass Scientology die Macht hatte, das Leben der Menschen und die ganze Welt zu verändern.
Ich nutzte diese Welle der Begeisterung, um mich in die Auditing-Ausbildung zu stürzen, für die ich zur Flag gekommen war. In der CMO und auch im Kurs gab es ein Mädchen in meinem Alter, das Luisa hieß. Wir freundeten uns schnell an. Ihre Familie kam aus Dänemark, doch da ihr Vater auf der Int stationiert war, war sie in L. A. aufgewachsen und vor der Flag auf der PAC Ranch in der Cadet Org von L. A. gewesen. Luisa war unglaublich schüchtern, hatte aber viel Sinn für Humor, und ich sah sofort, dass ich ihr vertrauen konnte.
Luisa und ich versuchten, im Kursraum ernst zu bleiben, aber manchmal ging es einfach nicht. Dann fanden wir immer öfter Möglichkeiten, in die Toiletten zu flüchten, wo wir zwischen zwei Kabinen einen Klopapier-Krieg anfingen. Ein anderes Mal jagten wir uns die Treppen hinauf und hinunter. Da wir im selben Wohnheim untergebracht waren, erzählte sie mir vor der Bettzeit oder während der Mahlzeiten Geschichten aus ihrer Kindheit auf der PAC Ranch. Ich bekam den Eindruck, dass die Kadetten dort viel weniger arbeiten mussten als wir, aber genauso schlimm behandelt wurden, vielleicht sogar noch schlimmer.
Mein neuer Kurs behandelte Professionelle Trainingsroutinen. Die Pro TRs wiesen zwar einige Ähnlichkeiten mit denen auf, die ich schon früher auf der Ranch durchlaufen hatte, waren aber viel anspruchsvoller. Um Auditor zu werden, musste ich sie absolvieren. Nachdem ich ein paar Tage die Theorie und Prinzipien der TRs gelesen und mir dazu Filme und LRHs Vorträge auf Band angesehen hatte, ging es ans praktische Üben. Es war von Anfang an grauenhaft. Ich konzentrierte mich nur darauf, irgendwie durchzukommen: Augen zu und durch.
Ich musste in der Lage sein, zwei Stunden unverkrampft auf einem Stuhl vor einem anderen Studenten zu sitzen, ohne mich zu rühren, zu sprechen, zu zucken, zu husten oder übermäßig zu blinzeln. Wie viele andere brauchte ich Wochen, bis ich diese Trainingsroutine absolviert hatte. Einmal hatte ich neunzig Minuten lang reglos dagesessen, als sich plötzlich eine Fliege auf meine Nase setzte. Als ich sie wegpustete, war ich natürlich durchgefallen und musste von vorne anfangen. Es war eine solche Tortur, dass mir mehrfach die Tränen kamen. Es war mir kaum möglich, mich nicht zu bewegen. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie einfach ohne mich weggehen wollen, und nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es mir, sitzen zu bleiben.
Die Provokations-TR war viel schlimmer als die Version für Kinder. Wir mussten zwei Stunden lang ertragen, wie man uns anschrie, sich über uns lustig machte und verbal sexuell belästigte. Einer der Supervisoren hatte sich darauf spezialisiert, Anzüglichkeiten von sich zu geben, auf die wir nicht reagieren durften. Eine gute Freundin von mir, die ebenfalls dreizehn war, wurde von einem männlichen Studenten provoziert, der sich stundenlang über ihre knospenden Brüste ausließ. Zwar war es ihr gelungen, nicht zu reagieren, aber ich fand die Vorstellung einfach abstoßend.
Als wir mit dem Pro TR-Kurs fertig waren, kamen die TRs der Höheren Indoktrinierung, bei denen wir etwas über Ton 40 lernten, einen mentalen Zustand, in dem wir absolut und hundertprozentig überzeugt waren und keinerlei Zweifel hatten oder Widerspruch duldeten. LRH glaubte, dass man den Gemütszustand aller Menschen auf einer Skala abbilden könne. Die Tonskala begann bei – 40, was für totales Versagen stand, und endete bei + 40, dem Zustand glücklicher Gelassenheit.
Die Tonskala war anwendbar auf die Art und Weise, den Tonfall und den emotionalen Zustand, in dem man etwas sagte. Ein Ton 40-Befehl beispielsweise war so mächtig und präzise, dass der Empfänger diesen Befehl in jedem Fall befolgen musste. Mein Zwilling und ich übten solche Ton 40-Befehle in den Trainingsroutinen, die in LRHs Grundsätzen beschrieben worden waren. Wir mussten an einer Wand sitzen und unserem Zwilling ein Kommando geben, das dieser dann zu befolgen hatte. Jedes Kommando wurde mit einem ›Danke‹ beendet.
»Sieh zur Wand, danke.«
»Geh zu dieser Wand, danke.«
»Berühre die Wand, danke.«
»Dreh dich um, danke.«
So ging das über Stunden.
Die nächste Übung sollte uns dabei helfen, die Kontrolle über diejenigen zu erlangen, mit denen wir ein Auditing veranstalteten. Als Auditoren mussten wir unter allen Umständen verhindern, dass ein Preclear vor Ende der Sitzung ging. Unsere Aufgabe war es, ihn auf seinem Platz zu halten, bis wir ihm die Erlaubnis erteilten zu gehen. In dieser Übung lernten wir, das sowohl verbal als auch körperlich durchzusetzen. Ich hatte immer gehört, dass diese Übung die lustigste wäre. Sie verlief immer nach demselben Muster: »Geh zur Wand, danke.« Aber dieses Mal tat der Zwilling alles, um nicht gehorchen zu müssen: Er rannte weg, entzog sich, schrie, rührte sich nicht mehr und so weiter. Um Erfolg zu haben, musste man ihn körperlich dazu zwingen, dem Kommando zu folgen.
Bei einigen dieser Übungen war mein Freund Buster mein Zwilling. Aber er war so groß und kräftig, dass es für mich ziemlich schwierig wurde. Wie alle anderen, die diese Trainingsroutine mit ihm absolvierten, musste ich mit den Fingern seine Augen offen halten und seinen Kopf zur Wand drehen, wenn ich wollte, dass er zur Wand blickte. Das Schwerste war, ihn zur Wand zu bekommen, dann musste man ihn ziehen, schieben oder sogar tragen. Um das Ganze zu toppen, wurde man dabei ständig provoziert und durfte weder wütend werden noch lachen. Man bestand diese Übung nur, wenn man seinen Zwilling ungeachtet aller physischen oder verbalen Herausforderungen dazu brachte, das Kommando zu befolgen.
Als Nächstes mussten wir aus vollem Hals viereckige Glasaschenbecher anschreien. Damit sollten wir üben, vollkommen klar unsere Absichten auszudrücken, und wenn wir das schafften, würden wir unsere zukünftigen Preclears erfolgreich mit allen möglichen Dingen konfrontieren können.
Aber das war noch nicht alles. Um unsere Absichten verschiedenen Teilen des Aschenbechers klarzumachen, mussten wir ihm sehr präzise Fragen stellen. Denn die Absicht hinter einer jeden Frage war es, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, genau wie in einer Sitzung mit einem Preclear. Der Aschenbecher sollte viereckig sein und wir mussten Fragen an seine vier Ecken richten.
»Bist du ein Aschenbecher?«
»Bist du eine Ecke?«
»Bist du aus Glas?«
Dieselben Prinzipien, die wir als Auditoren zu lernen und zu begreifen versuchten, verhinderten, dass wir diese lächerlichen Aufgaben in Frage stellten. Wir hatten gelernt, Anweisungen Folge zu leisten, und nun lernten wir, andere dazu zu bringen, unseren Anweisungen Folge zu leisten.
Auch wenn all diese Übungen noch so verschroben waren, damals kamen sie mir vollkommen normal vor. Erst im Rückblick erkenne ich, wie bizarr sie waren. Stundenlang standen wir neben unserem Zwilling, in einem Raum voller Zweierteams, und jedes Team übte einen anderen Teil des Kurses. Manche gaben sich brüllend den Befehl, zur Wand zu gehen, während andere nur schweigend da saßen und sich in die Augen starrten. In einer anderen Ecke des Raums beleidigte jemand seinen Zwilling lautstark, während gleichzeitig ein paar Meter weiter jemand einem Aschenbecher Befehle zubrüllte.
All diese Übungen waren dazu gedacht, Auditoren dazu auszubilden, in den Sitzungen mit Preclears kommunikationsstärker zu werden und sich nicht ablenken zu lassen, doch im Grunde wurden wir nur immer mehr wie Roboter. Unsere Reaktionen wurden automatisiert, und alles, was wir sagten, folgte einem Script. Außerdem führten diese Übungen dazu, dass wir die Menschen in unseren Sitzungen nicht mehr als denkende und fühlende Persönlichkeiten betrachteten, sondern als Wesen mit reaktiven Gedankenmustern, die zu ihrem eigenen Wohl unter Kontrolle gebracht werden mussten. Der Dialog war dazu gedacht, sein Gegenüber zu entmenschlichen. Die Tatsache, dass wir mit einem Aschenbecher übten, unterstrich das nur. Besonders die Ton 40-Kommandos dienten dem Zweck, Menschen dazu zu bringen, widerspruchslos Befehlen zu folgen.
Bei solchen Kursen konnte man oft kaum sagen, worin die Fortschritte bestanden. Manchmal bemühte ich mich sehr, den Anweisungen zu folgen, erntete aber nur frustrierende Ergebnisse, andere Male wurde ich mit Erfolg belohnt. Es gab keine einheitliche Struktur, sodass auch kaum eindeutige Verbesserungen zu erkennen waren. Selbst wenn man bei einer Übung ein Naturtalent war, hatte man den Eindruck, dass man sie erst nach einer bestimmten Zeitvorgabe erfolgreich abgeschlossen hatte. Vieles schien auch dem Gutdünken des Kursleiters unterworfen, aber darüber dachte niemand nach, solange wir in den TR-Levels nur weiterkamen.
Die Ausbildung war harte Arbeit, aber Auditoren hatten einen hohen Status, und ich wollte beweisen, dass ich es schaffen konnte. Ich hatte immer Tante Shellys Bemerkung im Hinterkopf, wie wichtig es war, ein guter Auditor zu sein. Sie hatte mir wiederholt gesagt, dass die besten Messenger Auditoren waren, und während meiner Zeit auf der Flag unterstützte sie mich bei meiner Ausbildung. Ich traf sie, wenn sie alle paar Monate nach Clearwater kam. Dann sprach sie mindestens eine Stunde mit mir, ermutigte mich und sagte, ich könne es schaffen. Sie rief mir immer wieder in Erinnerung, dass die Menschen nur mit Hilfe der Auditoren gerettet werden könnten.
Wenn ich nicht gerade in einem Auditorenkurs war, arbeitete ich stundenweise in der Abteilung der CMO, die für das ethische Verhalten der Leute verantwortlich war. Die Mitarbeiter dieser Abteilung hatten große Macht. Sie hatten die Befugnis, die Regeln durchzusetzen, und nutzten sie entsprechend. Da ich später diese Aufgabe in der CMO Int übernehmen sollte, war das eine gute Übung für mich, obwohl ich keine Strafen verhängen durfte.
Wie sich zeigte, kannte ich meine Mitarbeiterinnen Olivia und Julia schon über Valeska. Über sie hatten wir uns angefreundet, obwohl sie mindestens drei Jahre älter waren als ich. Ich freute mich, dass sie in der CMO und noch dazu in meiner Abteilung waren, denn so konnte ich mit ihnen zusammen sein, ohne Ärger zu bekommen. Sie waren beide sehr nett und äußerst hübsch. Offenbar war mein Onkel von ihren Fähigkeiten beeindruckt gewesen und hatte beide befördert.
Zu einer meiner Pflichten gehörte es, die Post, die die CMO-Mitarbeiter von ihren Angehörigen bekamen, zu Olivia und Julia zu bringen, die alles prüften. In der CMO hatte man schriftlich sein Einverständnis dazu geben müssen, dass die persönliche Post geöffnet und gelesen werden durfte. Jeder Brief wurde vor der Verteilung geprüft. Und wenn es nur die geringsten Anzeichen von Kritik an Scientology gab, wurde er nicht weitergeleitet.
Während ich mich an die Routine meiner Auditorenausbildung gewöhnte, störte es mich zunehmend, dass ich die nötigen Voraussetzungen zum Traineeprogramm der Sea Org eigentlich nicht hatte. Zwar hatte ich bei meiner Ankunft in der Flag gegenüber Tom erwähnt, ich sei nicht im EPF, dem Bootcamp der Organisation, gewesen, doch er hatte nur gemeint, darüber solle ich mir keine Sorgen machen. Obwohl ich versuchte, nicht daran zu denken, kam ich mir wie ein verkleideter Kadett vor, dabei wollte ich ein vollwertiges Sea Org-Mitglied sein.
Besorgt schrieb ich an Tante Shelly. In dem Brief teilte ich ihr mit, ich hätte die EPF nicht durchlaufen, obwohl das doch notwendig sei. Eine Woche später wurde ich ins Büro von Mr. Sue Gentry gerufen, der leitenden RTC-Abgeordneten auf der Flag. Als ich eintrat, gab sie mir einen Brief von Tante Shelly. Darin tadelte sie mich dafür, dass ich nicht ins Bootcamp wolle, und meinte, jeder müsse in die EPF, ohne Ausnahme, auch leitende Angestellte. Sie hatte meinen Brief eindeutig missverstanden und dachte jetzt, ich wolle mich um meine Pflicht drücken.
Offenbar hatte Tante Shelly Mr. Gentry angehalten, dafür zu sorgen, dass mein Anliegen Gehör fand, denn Mr. Gentry verkündete, es sei Zeit, einiges gerade zu rücken. Ich wurde unruhig, als ein weiterer RTC-Abgeordneter namens Wilson hereinkam und sagte, er werde sofort eine Sitzung mit mir durchführen.
Er begann mit den beiden üblichen Fragen, ob ich müde oder hungrig sei. Ich rechnete schon mit dem lauten Ton-40-Kommando: »Dies ist die Sitzung!«, doch stattdessen sagte er: »Dies ist kein Auditing.« Mir sank das Herz in die Hose. Wenn es kein Auditing war, konnte es nur ein Security-Check – mit anderen Worten: eine Beichte – sein. Im Gegensatz zum Auditing war eine Beichte nicht vertraulich und konnte mit disziplinarischen Maßnahmen geahndet werden.
Mein Beichtverfahren erstreckte sich über mehrere Wochen. Ich wurde zu allem Möglichen befragt: ob ich gestohlen hatte, ob ich ein Vergehen in der Zweiten Dynamik begangen habe, ob es irgendetwas gab, was meine Eltern nicht erfahren sollten. Die Befragung stützte sich wie immer auf die Ergebnisse des E-Meters. Wenn die Nadel nicht gleichmäßig ausschlug, variierte mein Auditor eine Frage so oft, bis die Nadel entweder eine klare Verneinung oder Bejahung anzeigte. Das Ergebnis des E-Meters wog immer schwerer als die Antwort, die man gab. Wenn die Nadel ›ja‹ sagte, lautete die Antwort auch ›ja‹, selbst wenn man ›nein‹ gesagt hatte. Schlug sie nicht gleichmäßig aus, hieß das, man verbarg irgendetwas. Bei jeder Verfehlung, die man gestand, wurde in Folge geklärt, wann und wo sie stattgefunden hatte, was genau getan wurde – bis ins letzte Detail –, wie man sie rechtfertigte und wer sie fast herausgefunden hätte. Wie bei jedem Auditing endete der Security-Check mit einer Endprüfung beim Examiner. Wenn dort die Nadel nicht regelmäßig ausschlug, wurde man direkt zurückgeschickt, um die Unstimmigkeit aus dem Weg zu räumen.
Besonders quälend bei alldem war nicht so sehr der Umstand, dass die Fragen sehr persönlich waren, sondern wie unerbittlich die Prüfer vorgingen. Sie stellten eine Frage nicht nur einmal, und dann war das Thema erledigt, sondern immer wieder, und jedes Mal wuchs meine Angst, dass der E-Meter meiner Antwort widersprechen würde. Sie waren wie Polizisten, die einen Mord untersuchten, und wenn der E-Meter ihnen das gewünschte Ergebnis gab, dann war man schuldig.
Die Befragung selbst war schon zermürbend, doch die eigentliche Wirkung ging viel tiefer in die Psyche und war sehr beunruhigend: Durch die wiederholten Fragen begann man immer mehr an sich zu zweifeln, vor allem, wenn der E-Meter anzeigte, dass man eine Antwort auf heikle Fragen hatte. Zuerst sagte man die Antwort freiheraus, doch je öfter die Frage gestellt wurde, und zwar mit wachsender Intensität, desto mehr Zweifel kamen einem plötzlich. Dabei ging es um Geständnisse bezüglich einiger Dinge, die mit Sicherheit niemals stattgefunden hatten, doch wenn man dieselbe Frage nur oft und lange genug hörte, schwand die Sicherheit, und man fragte sich, ob die Antwort vielleicht falsch war. Vielleicht hatte man doch etwas getan, in einer Parallelwelt, und wusste nur nichts davon. Vielleicht verdrängte man auch etwas.
Jede Frage sorgte für einen inneren Konflikt: Wenn man zugab, etwas falsch gemacht zu haben, wurde man bestraft, doch wenn man die Wahrheit sagte und der E-Meter widersprach dem, dann wurde die Frage so oft wiederholt, bis man die Antwort gab, die sie hören wollten. Viele Male beendete ich eine Sitzung mit einem falschen Geständnis, nur um endlich Ruhe zu haben. Aber meistens betete ich nur, meine Nadel möge gleichmäßig ausschlagen.
Als Mr. Wilson endlich fertig war, schrieb er einen »Wissensbericht« über alles, was in meinen Sitzungen herausgekommen war. Diesen leitete er ans Ethik-Department weiter, woraufhin ich mich für jedes einzelne Vergehen verantworten musste, indem ich es rückgängig machte oder Wiedergutmachung leistete. Als ich das hinter mir hatte, teilte Mr. Gentry mir mit, ich würde am nächsten Tag mit der Sea Org-EPF beginnen.
Die EPF absolvierte jeder in seinem eigenen Tempo. Bei manchen dauerte es nur zwei, drei Wochen, bei anderen Monate. Es hing davon ab, wie lange man für die Durchleuchtung seiner Lebensgeschichte, für verschiedene Security-Checks und die erforderlichen Kurse brauchte. Die Kurse hatten alle etwas mit der Geschichte, dem Aufbau und dem Verhaltenskodex der Sea Org zu tun. Es gab Kurse wie Willkommen in der Sea Org, Einführung in scientologische Ethik, Persönliche Pflege und Grundsätzliche Ziele eines Sea Org-Mitglieds. Wir hörten uns auch verschiedene Aufnahmen von LRH an und lernten dabei, was die Ziele und Verhaltensweisen eines Sea Org-Mitglieds waren: »Der eigentliche Daseinsgrund der Sea Org ist, auf diesem Planeten und in diesem Universum in-ethics zu sein.«
Für die EPF musste ich in ein anderes Wohnheim in der Hacienda ziehen und mir das Quartier mit zwölf weiteren Mädchen teilen, die ebenfalls gerade in der Sea Org anfingen. Jeden Morgen wurden wir früh geweckt, zogen unsere Uniform aus blauen Shorts, blauen T-Shirts und Boots an und mussten uns militärischen Drillübungen unterziehen. Aber das machte mir nichts aus, weil ich das schon von der Ranch her kannte.
Als Nächstes fuhren wir mit dem Bus in die Flag, wo wir die verschiedenen Restaurants und Hotelzimmer im Fort Harrison und dem Hubbard Guidance Center putzen mussten. Dort bekamen öffentliche Scientologen ihr Auditing. Unsere Frühstückspause dauerte fünfzehn Minuten, dann mussten wir den ganzen Speisesaal putzen, in dem Hunderte von Mitarbeitern und Öffentlichen vor uns gegessen hatten. Wenn wir damit fertig waren, folgte die Studierzeit, und danach mussten wir wieder putzen, von den Treppen über die Küchen bis zu allen öffentlichen Räumen, bei denen es nötig war.
Mit mir waren noch etwa zwanzig andere in der EPF, und keiner von uns war älter als achtzehn. Ein kleiner Junge war sogar erst neun. Er war mit seiner Mutter zur Flag gekommen, um seinen Dienst anzutreten. Genau wie jeder andere in der EPF wollte er in die Sea Org eintreten. Es gab immer eine riesige Fluktuation, und jede Woche wurde mindestens einer neu rekrutiert.
Unser Lehrmeister Dave Englehart war eher ein Drillsergeant. Er war ein altgedientes Sea Org-Mitglied und hatte noch mit LRH zusammengearbeitet. Er galt als hart, skrupellos und leicht verrückt und wurde seinem Ruf in jeder Hinsicht gerecht. Damit wir alle Erfahrungen eines Sea Org-Mitglieds machten, fuhr er mit uns in einem Segelboot hinaus, aber statt uns das Segeln beizubringen, brüllte er nur hier und da ein Kommando und wurde dann wütend, wenn wir nicht wussten, wie wir das Boot manövrieren sollten. Beim Appell schnüffelte er und sagte: »Irgendjemand stinkt hier!« Wenn wir uns dann verblüfft ansahen, geriet er in Rage und schrie: »Was ist das für ein Gestank?« Einmal bückte er sich und zog einen russischen Jungen am Fuß, sodass er hinfiel. »Du bist das, du verdammtes Schwein!«, brüllte er dann. »Wasch dir deine verdammten Füße, und erscheine nie, nie wieder mit stinkenden Füßen beim Appell!«
Obwohl ich erst dreizehn war, musste ich ein Formular zur »Lebensgeschichte« ausfüllen, in dem viele persönliche Fragen gestellt wurden, die man zum großen Teil nur als Erwachsener beantworten konnte. Ich musste meinen Namen, mein Geburtsdatum, meine Sozialversicherungsnummer, Nummern verschiedener Ausweise, Kreditkarten und Bankkonten angeben sowie das Datum, wann sie ihre Gültigkeit verloren. Außerdem musste ich die Namen aller Verwandten angeben sowie ihre Einstellung gegenüber Scientology. Ich musste eintragen, ob ich je mit einem Kritiker der Kirche in Verbindung gestanden hatte. Dann musste ich auflisten, welche scientologischen Kurse und Auditings ich bereits absolviert hatte, ob ich jemals eine Straftat begangen hatte oder im Gefängnis gewesen war, ob ich je für die Regierung oder irgendeinen Geheimdienst gearbeitet hatte, ich sollte auch jede einzelne sexuelle Erfahrung auflisten, die ich gehabt hatte, inklusive Masturbation, und angeben, ob ich je etwas Homosexuelles getan hatte, ob und welche Medikamente ich genommen hatte und noch nahm, jeden Krankenhausaufenthalt, Medikamenten- und Drogenmissbrauch, wann und wo.
Ich wusste, dass ich das Formular ausfüllen musste, konnte mir aber kaum vorstellen, warum die Kirche all diese Informationen brauchte. Das Konzept von Geständnissen erschien mir sinnvoll, aber das war keine gewöhnliche Geständnisprozedur, und was hatten meine Verwandten mit meiner Eignung zu tun? Ich war noch zu jung für eine Kreditkarte, aber wozu brauchte man diese Information? Obwohl ich nichts zu verbergen hatte, kam es mir vor, als wollte die Kirche aus reinem Selbstzweck alle Informationen, die über mich zu bekommen waren. Fast, als würde man Material ohne scientologischen Nutzen sammeln, mit dem man mich erpressen konnte. Ich fühlte mich, als würde ich ein Stück meiner selbst ausliefern. Aber ich gehorchte natürlich und redete mir ein, da ich nichts zu verbergen hatte, wäre es auch kein Problem.
Nachdem ich die EPF für die Sea Org durchlaufen hatte, musste ich die EPF absolvieren, die Zulassungsbedingung für die CMO war. Diesmal bestand meine Uniform aus einer dunkelblauen Hose mit einem weißen Poloshirt. Mein Tag begann damit, dass ich frühmorgens mit dem Bus zum WB fuhr, um die Büros der Führungskräfte zu putzen. Dabei mussten wir genau alle Schritte einhalten, die LRH für die Reinigung eines Zimmers aufgelistet hatte. Tatsächlich wurde ein Zimmer dadurch äußerst gründlich geputzt. Bei unseren morgendlichen Studien hatten wir eine Menge Grundlagenkurse wie zum Beispiel Schlüssel zur Kompetenz, Grundkurs Putzen, Grundkurs Computer und Grundkurs Messengerziele.
Bei dieser EPF wurde viel geputzt. Wir putzten die Quartiere von Führungskräften der CMO und Abgeordneten des RTC, und alles musste perfekt sein. Wir machten auch ihre Betten, wendeten ihre Laken und stellten Snacks bereit, normalerweise Obst, Käse und Cracker. Wenn man uns darum bat, wuschen wir sogar ihre Autos. Danach kümmerten wir uns um ihre Wäsche und folgten auch dort genau festgelegten Vorgaben. Wir mussten ihre Kleider stärken und bügeln, durften aber keinerlei Bügelfalten hinterlassen. Wir bügelten ihre Hosen, putzten ihre Schuhe und räumten sie ein, sodass sie griffbereit waren. Alles, was in Kommoden kam, wurde vor dem Einräumen makellos gefaltet. Um unsere EPF bei der CMO abzuschließen, wurden wir sowohl im Putzen als auch beim Waschen, Bügeln und Einräumen der Wäsche geprüft. Die Führungskräfte bekamen Formulare, in denen unsere Fähigkeiten benotet werden mussten.
In der Waschküche standen etwa zwanzig Waschmaschinen und Trockner für die über tausend Mitarbeiter der Flag. Zwei Waschmaschinen und Trockner waren nur für die Führungskräfte gedacht und durften von niemandem sonst benutzt werden, selbst wenn sie leerstanden. Die anderen Mitarbeiter durften sich nur Freitagabend und Samstagmorgen um ihre Wäsche kümmern, was hieß, dass es immer riesige Schlangen gab und viele schon gegen vier Uhr morgens aufstanden, um überhaupt eine freie Maschine zu bekommen. Die Führungskräfte bekamen Hemden ganz nach Bedarf, die normalen Mitarbeiter hatten jedoch nur eines oder zwei, was hieß, dass sie sie täglich mit der Hand waschen und bügeln mussten.
Meine Freundin Luisa und ich arbeiteten häufig mit Charlie zusammen, dem neunjährigen Jungen, der jetzt ebenfalls die EPF der CMO absolvierte. Charlie war ein ziemlicher Faulenzer, auf den man ständig aufpassen musste. Er hatte die unheilvolle Tendenz, beim Putzen eines Quartiers für mehr Schaden als Nutzen zu sorgen. Einmal bekamen wir alle Ärger, weil er schmutziges Geschirr in den Ofen geschoben hatte, anstatt es zu spülen. Dort wurde es erst ein paar Tage später vom Bewohner des Quartiers gefunden. Obwohl unser neunjähriger Faulpelz dafür verantwortlich war, wurden wir alle angeschrien.
Zwar war Charlie eine Nervensäge, aber rückblickend erkenne ich, dass er eigentlich nur ein vernachlässigter kleiner Junge war. Er war häufig überfordert, und zwar in allem, was er tat. Seine Haare waren immer ungekämmt, und nie wusch er seine Kleider, wahrscheinlich, weil er nicht wusste, wie, daher hatte er riesige Flecken auf seiner Uniform. Als ihm einmal von einem Vorgesetzten befohlen wurde, sein Hemd zu waschen, fanden wir ihn fünf Minuten später im Badezimmer, wo er versuchte, sein Hemd in die Toilette zu tauchen.
Obwohl wir Verständnis für seine Lage hatten, brachte er einen mit seinem ungewöhnlichen Verhalten leicht auf die Palme; schließlich wurden auch Luisa und ich deswegen bestraft. Aber ich fand ihn nicht nur nervig, sondern auch irgendwie faszinierend. Damals erkannte ich es noch nicht, aber er war das erste Kind, dem ich begegnete, das sich wirklich wie ein Kind verhielt. Auf der Ranch gab es solche Kinder wie ihn nicht. Die Kinder dort hatten zu viel damit zu tun, sich wie kleine Erwachsene zu verhalten. Charlie zeigte mir jetzt, wie ein Kind in seinem Alter sich normalerweise verhielt. Er kam mir vollkommen verrückt vor, als wären seine Gedanken auf nie gekannte Weise verdreht. Er verhielt sich vollkommen unlogisch und missachtete ständig die Anweisungen. Noch nie hatte ich ein derart impulsives Kind getroffen, und erst jetzt erkenne ich, dass nicht er, sondern ich die Verrückte war, weil ich von ihm erwartete, dass er Befehle befolgte.