KAPITEL 17
Die »Handhabung« der Familie
Innerhalb weniger Monate hatte ich beide EPFs hinter mir und durfte wieder fünf Stunden täglich lernen und die restliche Zeit mit Olivia und Julia arbeiten. Doch gerade, als ich mich wieder in der CMO einlebte, drohten die Probleme mit meiner Familie erneut alles schwieriger zu machen.
Es fing mit meinem Bruder an. Eines Tages beim Mittagessen erzählte mir meine Freundin Jessica, die ich noch aus meiner Anfangszeit von der Ranch kannte, sie hätte meinen Bruder in der Hacienda gesehen. Ich erklärte ihr, das sei unmöglich, da Justin in Kalifornien auf der Int Base sei. Sie müsse ihn verwechselt haben. Doch sie beharrte darauf, dass er hier in der RPF sei. Offenbar hatte er genau wie meine Mutter die Regeln gebrochen und bekam dafür die Höchststrafe der Kirche.
Die RPF wohnte, aß und arbeitete getrennt von den anderen Mitarbeitern, doch hin und wieder sahen wir sie bei verschiedenen Arbeitsprojekten auf der Base. Und natürlich mussten sie dabei immer rennen. Sie wohnten in von den anderen separierten Quartieren in der Hacienda.
Ich konnte es nicht glauben, dass Justin in der RPF war. Ich hatte ihn seit meinem Umzug zur Flag im Juni 1996 nicht mehr gesehen und keine Ahnung, dass er in Schwierigkeiten war. Warum hatte mir das niemand gesagt? Später am Nachmittag kam Mr. Wilson in mein Büro und schloss die Tür hinter sich, weil er gehört hatte, dass ich mich nach Justin erkundigt hatte.
»Du hast also das mit deinem Bruder erfahren?«, fragte er. »Nun gut, er ist in der RPF, und viel mehr darf ich nicht sagen.«
Mir kamen die Tränen. Ich fand es schwer zu ertragen, dass jetzt zwei Mitglieder meiner Familie in der RPF waren. In den Augen der Kirche wurden wir wahrscheinlich immer mehr zu einer Verbrecherfamilie, aber ich konnte nur daran denken, dass unsere Familie auseinanderbrach.
»Warum weinst du?«, fragte Mr. Wilson. Ich versuchte einen Grund zu finden, der nicht rein emotional war, aber mir fiel keine logische, entschuldbare Rechtfertigung für meine Gefühle ein. »Das ist die Sea Org, und so läuft das hier eben«, bemerkte Mr. Wilson ungerührt. »Ich selbst habe meine Schwester schon Jahre nicht mehr gesehen. Sie war Trainee beim RTC. Aber ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Das ist kein Grund zu weinen. Ich habe auch meine Frau schon seit Jahren nicht mehr gesehen und weiß nicht, wie es ihr geht.«
»Ja, Sir«, sagte ich und versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Am nächsten Tag bekam ich einen Brief von Tante Shelly, in dem sie mir erklärte, dass Justin zur RPF auf der Flag geschickt worden war. Sie entschuldigte sich im Voraus, dass mich dieser Brief vielleicht zu spät erreichen würde. Es schien ihr leidzutun, mir sagen zu müssen, dass Justin vermutlich ein Out 2D mit meiner Freundin Eva gehabt hatte. Außerdem hatte er die Int Base ohne Erlaubnis verlassen. Tante Shelly bat mich, ihm gegenüber nachsichtig zu sein, da er bereits genug durchgemacht habe.
Sobald ich wusste, dass Justin in der RPF auf der Flag war, lief er mir immer wieder über den Weg. Manchmal konnte ich ihn umarmen und kurz mit ihm reden. Manchmal schickte er mir eine Liste mit Dingen, die er brauchte, wie zum Beispiel Shampoo, und ich bemühte mich nach Kräften, ihm alles zu besorgen. Er bekam nur fünfzehn Dollar die Woche, daher konnte er sich sein Lieblingsshampoo kaum leisten. Also glich ich die Differenz mit meinen fünfundzwanzig Dollar die Woche aus. Aber auch bei mir war das Geld knapp. Nach fünf Uhr nachmittags gab es keine Mahlzeiten mehr, und wenn ich um halb elf nach Hause kam, stand ich kurz vor dem Verhungern, also kaufte ich mir in der Kantine immer Cornflakes, was sich summierte.
Mir war zu Ohren gekommen, dass mein Bruder in der RPF einen Reinigungs-Rundown vollziehen musste. Dahinter stand die Idee, dass man durch intensive Saunagänge Restgifte von Umwelttoxinen, Medikamenten und Drogen ausschwitzen konnte. Normalerweise nahm man zuerst eine Reihe Vitamine und Mineralien zu sich, rannte dann eine halbe Stunde und setzte sich anschließend für fünf Stunden, mit Unterbrechungen, in die Sauna. Das Ziel war, die erste Stufe auf LRHs Brücke zur vollkommenen Freiheit zu erreichen.
Angeblich war Justin frühmorgens im für den Reinigungs-Rundown vorgeschriebenen Bereich gesehen worden. Um ihn öfter sprechen zu können, wollte ich jetzt auch den Reinigungs-Rundown absolvieren, obwohl ich ihn bereits mit neun auf der Int Base hinter mich gebracht hatte. Damals mussten wir mehrere Tausend Milligramm Niacin nehmen, eine extrem hohe Dosis, die bei der Lösung der Toxine helfen sollte. Danach kamen die Vitamine und Mineralien, die die ausgeschwitzten wieder ersetzen sollten. Mit neun hatte ich natürlich keine Lust, so viele Pillen zu schlucken, daher versteckte ich sie einfach in meiner Tasche. Dann mussten wir eine Vierteltasse pflanzliches Öl trinken, hochwertiges Fett, das dabei helfen sollte, das schlechte Fett, in dem normalerweise auch die Gifte steckten, auszuschwemmen. Das war wirklich widerlich, und ich brachte es einfach nicht herunter. Am Ende gab es noch einen Cal-Mag-Drink, aber den war ich gewohnt.
Vor dem ersten Saunagang mussten wir eine halbe Stunde rennen, damit das Niacin in unseren Blutkreislauf gelangte. Da mir das viel zu anstrengend war, ging ich die meiste Zeit. Trotzdem bekam ich einen Niacinflush, der sich als roter, unangenehm juckender Ausschlag zeigte. Danach saß ich stundenlang in der Sauna. Mit mir saßen meist ältere Männer dort, denen der Schweiß nur so herunterlief, aber weil ich noch so jung war, schwitzte ich kaum. Sobald ich länger als ein paar Minuten die Sauna verließ, drängte mich ein Mitarbeiter vom Reinigungsteam wieder hinein und schimpfte, ich würde zu oft Pausen machen. Der gesamte Reinigungs-Rundown dauerte mehrere Wochen, und am Ende wollte ich nur noch, dass es aufhörte. Mein junger Körper kam einfach nicht mit so hohen Temperaturen zurecht.
Die Reinigung konnte wegen all der Vitamine und der Hitze eine echte Qual sein, aber während der stundenlangen Sitzungen in der Sauna durfte man sich mit anderen unterhalten, sein Lieblingsbuch lesen oder sogar Brettspiele spielen, was viel lustiger und aufregender war, als zu lernen. Jetzt war jedoch das Wichtigste, dass ich dabei meinen Bruder sehen konnte.
Ich versuchte, mit allen Mitteln in den Reinigungs-Rundown zu kommen. Ich gestand, dass ich bei meiner Reinigung auf der Ranch einen Großteil der Vitamine nicht genommen hatte. Ich sagte, ich wüsste nicht, ob ich die Endphenomena erreicht hätte, und erwähnte, ich hätte danach Nasenbluten gehabt, was darauf hindeutete, dass die Reinigung nicht erfolgreich gewesen war. Als mein Fallbetreuer das hörte, gestattete er mir den nächsten Schritt, und ich fing fast unverzüglich damit an.
Leider war alles vergeblich. Ich hatte den Reinigungs-Rundown nur wegen Justin noch einmal auf mich genommen, aber ein paar Tage später erfuhr ich, dass alle in der RPF ihren Reinigungs-Rundown nachts vollziehen mussten. Der Schuss war nach hinten losgegangen, und wie beim ersten Mal fand ich die Sauna viel zu heiß. Ich machte häufig Pause oder legte mich auf den Boden, wo es kühler war. Das Schlimmste jedoch war die halbe Stunde Rennen vor der Sauna. Glücklicherweise war Lisa Marie Presley zur gleichen Zeit im Reinigungs-Rundown, daher wurde meine Laufzeit oft abgekürzt. Denn wenn sie im Fitness-Studio war, durfte niemand sonst dort sein. Sie rannte auf dem Laufband und hörte dabei Madonna.
Ich hatte Lisa Marie zwar noch nie zuvor gesehen, wusste aber wie die meisten Scientologen, dass sie Mitglied der Kirche war. Sie erschien in vielen scientologischen Werbefilmen, und einige ihrer Projekte wurden bei kirchlichen Events angekündigt. Das Celebrity Center gab sogar eine Zeitschrift heraus, in der oft Erfolgsstorys und Glaubensbekenntnisse von Prominenten abgedruckt wurden. Jeder Prominente hatte einen Decknamen, der auf ihren Preclear-Akten stand, damit ihre Privatsphäre geschützt blieb. Lisa Marie hieß »Norma« oder »Norma Darling«. Ich nahm an, die Decknamen sollten verhindern, dass jemand herumschnüffelte oder die Akten in falsche Hände gerieten.
Im Reinigungs-Rundown hatte Lisa Marie eine Sauna für sich allein, während sich fünf oder sechs Personen die andere teilen mussten. Manchmal sah ich sie auf dem Flur oder beim Betreten oder Verlassen der Sauna. Sie war schüchtern, aber freundlich. Sie hatte irgendwo meinen Namen gesehen und fragte mich, ob ich etwas mit David Miscavige zu tun hätte. Ich erzählte ihr, ich sei seine Nichte. Von da an grüßte sie mich immer.
Als ich eines Nachmittags mit meinen Saunagängen fertig war, kam Anne Rathbun zu mir, die mittlerweile die leitende Abgeordnete des RTC war. Sie erzählte mir, dass mein Bruder die Sea Org verlassen wollte, und bat mich, ihm das auszureden. Ich erklärte mich bereit, Justin in den Sicherheitsbüros zu treffen, die sich in der Garage des Fort Harrison Hotels befanden. Es waren kleine Räume mit Überwachungskameras, die alles aufzeichneten, was besprochen wurde.
Von Anfang an fühlte ich mich unbehaglich. Ich versuchte, Justin zum Bleiben zu überreden, fand es aber sehr unangenehm zu wissen, dass alles, was wir besprachen, aufgezeichnet wurde. Ich hatte ihn seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen und wollte einfach nur normal mit ihm reden. Doch wenn wir uns in einem dieser Räume befanden (und sogar, wenn wir davorstanden), weigerte Justin sich schlichtweg, mit mir über die Sea Org zu sprechen. Er wusste genau wie ich, dass wir gefilmt wurden. Ich merkte, dass er wirklich verstört war, weil er normalerweise immer eine fröhliche Miene aufsetzte. Aber diesmal nicht.
Es verwirrte mich auch, dass er plötzlich Justin Tompkins genannt werden sollte und nicht mehr Justin Miscavige. Mein Dad hatte meine Mom geheiratet, als Justin zwei war, und von da an war auch sein Nachname Miscavige gewesen. Ich fragte Mr. Rathbun nach dem Grund, und sie meinte, es wäre wegen der PR: Es sollte niemand in der Church erfahren, dass ein Miscavige in der RPF war oder sogar gehen wollte. Mr. Rathbun verbot mir auch, mit irgendjemandem über Justin zu sprechen.
Alles wurde nur noch schlimmer, als ich von Mr. Rodriguez, der Auditorin meines Bruders beim RTC, erfuhr, dass Justin als List One Rock Slammer eingestuft worden war. Das bedeutete, seine Nadel hatte in einer Sitzung, als er über Scientology sprach, wild ausgeschlagen. Dieser fast unkontrollierbare Ausschlag war ein Zeichen für böse Hintergedanken beim angesprochenen Thema – was in Justins Fall Scientology selbst war. LRH hatte gesagt, dass List One Rock Slammers in ihrer gesamten Vergangenheit, Leben für Leben, nichts Gutes vollbracht, sondern nur Leid bei den Menschen bewirkt hätten. Dann zeigte mir Mr. Rodriguez LRHs Schreiben über List One Rock Slammers. Eine meiner Freundinnen war nur wegen eines einzigen wilden Ausschlags in die RPF geschickt worden. Als ich Mr. Rodriguez erklärte, ich glaubte nicht, dass Justin ein Rock Slammer sei, antwortete sie, es sei alles auf Video aufgezeichnet worden.
Als ich das nächste Mal meinen Bruder traf, schien ihm seine Einstufung wirklich sehr zuzusetzen. Um ihn zu trösten, sagte ich, ich glaubte nicht, dass er ein Rock Slammer sei. Allerdings war mittlerweile klar, dass ich ihn nicht zum Bleiben überreden konnte. Mr. Rathbun erklärte also schließlich, ich dürfe nicht mehr mit Justin sprechen, da es nicht funktioniere und es außerdem verboten sei, über Austritte aus der Sea Org oder aus der Church zu sprechen.
Ich war enttäuscht, dass ich Justin und der Church nicht besser helfen konnte, andererseits erkannte etwas in mir langsam, dass all das möglicherweise aus gutem Grund geschah. Zwar hätte ich es nie gegenüber irgendjemandem zugegeben, doch nach und nach dämmerte mir, dass Justin vielleicht nur dann wirklich glücklich werden konnte, wenn er austrat, was er offenbar schon seit langer Zeit wollte. Bis dahin hatte ich, wenn davon die Rede war, nie in Betracht gezogen, was für ihn das Beste war, sondern nur, was das Beste für die Church war. Aber als ich mir seine Gründe und Gedanken dazu anhörte, konnte ich verstehen, warum er über einen Austritt nachdachte.
Ein paar Wochen später wurde ich nachmittags aus der Sauna gerufen und direkt zum WB beordert. Zuerst protestierte ich, weil man das Minimum von fünf Stunden Sauna nicht unterschreiten durfte. Aber mir wurde gesagt, ich müsse unbedingt dorthin, weil jemand Wichtiges mich sprechen wolle. Also zog ich meine Uniform an und fuhr mit einem der Shuttle-Busse zum WB.
Ich wusste nicht, ob ich beunruhigt sein sollte oder nicht. Im WB führte man mich zu einem der oberen Auditing-Räume am Ende des Flurs. Zu meiner Überraschung kam der Inspector General RTC Marty Rathbun persönlich herein. Er war der zweitmächtigste Mann der Church of Scientology und einer der wenigen Mitarbeiter meines Onkels, die ich noch nicht kennengelernt hatte. Daher wusste ich nicht, was mich erwartete.
»Hi, Jenna«, sagte er, lächelte kurz und stellte sich vor. »Hast du im letzten Jahr irgendetwas von deiner Mutter gehört?«
»Nein, Sir«, sagte ich, was auch der Wahrheit entsprach. Ich hatte keine Ahnung, was sie gerade machte, da ich weder Anrufe noch Briefe noch Berichte aus zweiter Hand bekommen hatte, nicht mal von meinem Vater. Dad schrieb mir mehrmals die Woche, erwähnte sie aber nie. Er bestand auch darauf, dass ich ihn anrief, und hatte mir sogar eine Telefonkarte geschickt, weil ich von den Apparaten der CMO keine Auswärtstelefonate führen konnte. Wann immer ich nach ihr fragte, sagte er nur, er wisse nichts und nehme an, dass sie ihr Programm absolviere. Leider hatte Mr. Rathbun nur noch mehr schlechte Neuigkeiten für mich.
»Deine Mom wird als Antisoziale Person deklariert werden«, sagte er betont sachlich. »Sie will die Sea Org verlassen. Sie hat sich bereits mehrere Male unerlaubt entfernt, missachtet immer noch die Regeln und hat jetzt sogar angefangen, lächerliche Vorwürfe gegen die Church zu erheben. Ich habe mein Bestmögliches getan, doch jetzt werden wir sie wahrscheinlich ziehen lassen.« Er verstummte kurz, damit ich die Nachricht aufnehmen konnte, dann fuhr er fort: »Aber bevor sie geht, sollst du sie besuchen, damit sie nachher nicht die Kirche verklagen und behaupten kann, wir hätten verhindert, dass sie ihre Tochter sieht.«
Das war es also. Ich saß mit unbewegter Miene da, aber in mir brach eine Welt zusammen. Die Vorstellung, dass meine Mom die Church verließ, war schon schlimm genug, aber dass es so kurz nach Justins Austrittsverkündigung kam, war einfach zu viel für mich. Nie hätte ich gedacht, dass ein Mitglied meiner Familie als Antisoziale Person deklariert werden könnte, und jetzt sollten es gleich zwei sein? Die Aussicht, dass meine ohnehin gefährdete Familie ganz auseinanderzubrechen drohte, war mehr als erschreckend. Aber ich schaffte es, Haltung zu bewahren.
»Mr. Rathbun, wenn ich sie besuchen dürfte, könnte ich sie sicher dazu bewegen zu bleiben.« Ich riss mich nicht gerade um die Aufgabe, wusste aber, es war meine Pflicht, es wenigstens zu versuchen. Nach dem, was Mr. Rathbun mir gesagt hatte, schien es mir möglich, dass meine Entscheidung, nicht mit ihr zu reden, vielleicht zu ihrem Entschluss beigetragen hatte. Schließlich hatte sie offenbar Fotos von mir haben wollen. Eigentlich wollte ich nicht den Mittler spielen, im Grunde wollte ich mit alldem überhaupt nichts zu tun haben, doch ich war überzeugt, sie zum Bleiben überreden zu können. Und wenn sie wirklich die Kirche verließ, wollte ich sie noch einmal sehen, bevor es zu spät war.
»Tatsächlich?«, fragte er, als würde er darüber nachdenken. »Dann schauen wir mal, was passiert.«
Und dann erklärte er mir, wir würden noch am selben Abend gemeinsam nach L. A. fliegen. Wir flogen sogar erster Klasse, und Ray Mithoff, eine weitere wichtige Führungskraft der Church, begleitete uns. Ich konnte kaum glauben, dass ich mit diesen beiden bedeutenden Männern in der ersten Klasse sitzen sollte, wo doch meine Füße kaum den Boden berühren konnten. Daher ließ ich mich in meinem breiten, weichen Sitz weit nach vorne gleiten und setzte die Füße fest auf dem Boden auf, während ich daran dachte, dass ich noch ein paar Stunden zuvor meiner Alltagsroutine auf der Flag gefolgt war und jetzt quer durchs Land flog, um meine Mom zu sehen. Ich hoffte aufrichtig, mein Versprechen einlösen zu können, war aber nervös, weil ich nicht wusste, was dabei herauskommen würde. Die Verantwortung, die ich für meine Familienmitglieder übernommen hatte, lastete schwer auf mir, und ich fragte mich, wie wohl die Konsequenzen aussähen, wenn ich versagen würde. Ich war erst vierzehn, musste aber meinen Bruder zum Bleiben überreden, auf die Briefe meines Vaters antworten, der mir seit Moms Verschwinden manchmal ziemlich bedürftig und anhänglich vorkam, und reiste jetzt nach Kalifornien, um meine Mom davon abzuhalten, die Church zu verlassen.
Nach unserer Landung fuhren wir zur Int Base, wo ich meine Mutter treffen sollte. Mr. Rathbun bat mich, in Gebäude 36 in einem Zimmer zu warten, während er alles Notwendige arrangierte. Etwa eine halbe Stunde später kam er zu mir.
»Sie wartet im Nebenzimmer«, sagte er. Ich stand langsam auf, weil mir vor dem, was jetzt kam, ziemlich graute. »Du weißt ja, Jenna, dass ich eigentlich dabei sein sollte, wenn du mit ihr sprichst. Soll ich mich an eurem Gespräch beteiligen, oder ist es dir lieber, wenn ich mich im Hintergrund halte?«
Ich sah ihn an und dachte über sein Angebot nach. Ehrlich gesagt, wollte ich ihn überhaupt nirgendwo haben, denn ich hatte nicht die geringste Lust auf ein Gespräch mit meiner Mom und noch weniger auf einen Aufpasser. Ich wollte nicht mit ihr über das heikle Thema sprechen, aber ich fühlte mich dazu verpflichtet.
»Ehrlich gesagt, Mr. Rathbun, würde ich am liebsten allein hineingehen.«
Meine Antwort schien ihn zu überraschen, aber er nickte zustimmend.
»Ist gut, Jenna, wenn du das willst, dann erlaube ich es.«
Als die Tür aufschwang, sah ich zum ersten Mal seit über einem Jahr meine Mutter. Sie war dünn und wirkte abgezehrt, hatte gebräunte Haut und ausgeblichene Haare, so als hätte sie viel im Freien gearbeitet. Als ich ins Zimmer trat, stand sie auf und brach in Tränen aus. Erst da bemerkte ich, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Plötzlich fühlte ich mich schrecklich, ich hätte mich mehr bemühen müssen, etwas von ihr zu erfahren, hatte einfach missachtet, wie dringend sie mit mir sprechen wollte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, was das für ihren eigenen Heilungsprozess bedeuten würde. Wir umarmten uns und ließen uns lange Zeit nicht los. Da sie nichts sagte, fing ich an:
»Hör mal, Mom«, sagte ich stockend, »ich möchte nicht, dass du dich schlecht fühlst.« Ich versuchte, Wörter wie Out 2D zu umschiffen, weil ich wirklich nicht darüber sprechen wollte. »Ich glaube nicht, dass das hilfreich wäre, und deshalb bin ich auch nicht gekommen. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst, warum das alles passiert ist. Dann löse es, damit du weitermachen kannst.«
»Ich habe so viel Schlimmes getan. Ich hab das Gefühl, ich könnte es nie wiedergutmachen«, stammelte sie unter Tränen. Es überraschte mich, das zu hören, hatte mir Mr. Rathbun doch ein paar Stunden zuvor noch erzählt, sie sei unkooperativ. Es setzte mir sehr zu, diese starke Frau, die ich mein ganzes Leben respektiert und bewundert hatte, so aufgewühlt zu sehen, aber ich gab mir Mühe, die Fassung zu bewahren.
»Mom, vergiss nie, dass du ein guter Mensch bist, ganz gleich, was andere sagen, tun oder dir unterstellen. LRH hätte seine ganze Technologie nicht hierhergebracht, um Menschen zu helfen, wenn sie es nicht verdienen würden. Jeder, der dir das Gefühl gibt, schuldig oder wertlos zu sein, ist selbst schuldig und wertlos.« Meine Mom unterdrückte mühsam ihr Schluchzen, sodass ich fortfahren konnte: »Wenn du dein Programm absolvierst, können wir wieder zusammen sein.«
»Ja, das würde ich gerne«, sagte sie und nickte, als wäre sie einverstanden. »Ich würde sehr gerne wieder mit dir in Verbindung sein. Das würde mir helfen, wenn es schwierig wird.«
»Mom, natürlich werde ich dir schreiben«, sagte ich, damit sie etwas hatte, worauf sie sich freuen konnte. »Ich schicke dir auch alles, was du brauchst. Du musst es mich einfach nur wissen lassen.«
Als ich das sagte, lächelte sie. Uns beiden entging nicht, dass wir die Rollen getauscht hatten. War es wirklich so verwerflich oder unnatürlich, dass sie nach jahrelanger Trennung von ihrem Mann, meinem Vater, Einsamkeit verspürt und Trost bei einem anderen gesucht hatte? Es waren die besten Voraussetzungen für ein Out 2D gewesen. Trotz ihres Fehlers hatte sie ihr ganzes Leben der Church gewidmet, hart gearbeitet und so viele persönliche Opfer gebracht, dass ich nicht einsah, wie ein einziger Fehltritt all das zunichtemachen konnte. So viel hatte sie für die Kirche aufgegeben, da kam mir die Strafe, obwohl sie zu erwarten und regelgerecht war, ziemlich erbarmungslos vor.
»Wie geht es Justin?«, fragte Mom und wechselte damit das Thema. Als ich ihr mitteilte, was los war und dass er wahrscheinlich austreten würde, wirkte sie nicht überrascht. »Vielleicht wird er so glücklicher«, sagte sie und klang ein bisschen hoffnungsvoller. »Er wollte schon lange gehen.«
»Ja, wahrscheinlich«, bestätigte ich.
Danach umarmten wir uns noch einmal lange und verabschiedeten uns voneinander.
Mr. Rathbun wartete im Nebenzimmer auf mich. Er sah mich erwartungsvoll an und winkte mich herein. Als ich ihm eröffnete, dass meine Mom jetzt ihr Programm absolvieren würde, wirkte er geschockt.
»Im Ernst?«, fragte er verblüfft.
»Ja«, sagte ich.
Trotz des Schocks schien er sich aufrichtig über Moms Entscheidung zu freuen. Er ging zu ihr, um persönlich mit ihr zu sprechen. Als er zurückkam, sagte er, er könne nicht fassen, dass ich das ganze Problem für ihn gelöst hätte. Er war einfach sprachlos.
Am nächsten Morgen suchte mich Mr. Rathbun erneut auf. Er sagte, er halte mich für einen so guten Ethik-Offizier, dass er mich nun bitten würde, mit meinem Vater zu sprechen, da er seit Moms Out 2D nicht mehr so gut seiner Arbeit nachkommen würde. Ich war mir nicht sicher, ob er mich richtig beurteilte, würde es aber gerne versuchen.
Doch meine Unterhaltung mit Dad war ziemlich unangenehm. Als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, sagte er, es sei ihm schon mal besser gegangen. Ich sprach ähnlich mit ihm wie mit Mom, sagte, ich würde an ihn glauben, er sei ein fähiger Mensch und würde es schaffen, sich zusammenzureißen. Er freute sich, mich zu sehen, war aber weder an meiner Meinung noch an meinem Rat interessiert. Er war verschlossen und wollte über das ganze Thema nicht sprechen, was in gewisser Hinsicht verständlich war. Offenbar war ich als Ethik-Offizier doch nicht so gut, wie Mr. Rathbun gedacht hatte.