KAPITEL 19
»Think for yourself«
Es begann den anderen aufzufallen, wie viel Zeit Martino und ich miteinander verbrachten. Einige behaupteten, wir seien verliebt. Cece, die früher einmal in ihn verknallt gewesen war, erzählte mir, er habe sich völlig verändert, seit wir uns kennen würden. Aus dem unreifen Jungen, der ständig herumblödelte und nervte, sei ein erwachsener Mann geworden, der sich in andere einfühlte und um andere sorgte. Ihre Bemerkung machte mich glücklich.
Leider fiel es Leuten auf allen Stufen auf, darunter auch den Erwachsenen. Martino wurde deutlich gesagt, er solle gefälligst weniger Zeit mit mir verbringen und stattdessen lieber am Clearing seiner falsch verstandenen Wörter arbeiten. Also arbeiteten wir von nun an nur noch wenige Tage die Woche zusammen. Bei diesen Gelegenheiten mussten wir gar nicht viel sprechen, um uns zu vergewissern, wie sehr wir einander vermissten. Es genügte, dass er sich zu mir beugte, sein Bein um meines schlang oder heimlich meine Hand nahm. Ich sehnte mich danach, die Gesten zu erwidern, aber das hätte ernsthafte Schwierigkeiten nach sich gezogen.
Mein Unmut darüber, in der CMO zu sein und nicht frei über meine Freundschaften und mein Liebesleben entscheiden zu können, wuchs stetig. Mein ganzes Leben hatte ich mich mit Regeln, Vorschriften und Forderungen auseinandersetzen müssen, aber so schwer war es mir noch nie gefallen, ihnen zu gehorchen. Durch Martino und dessen Freunde hatte ich meine alte Liebe zur Musik wiederentdeckt. Ich hatte sogar wieder angefangen, abends vor dem Schlafen zu zeichnen. Das hatte ich beim Essen oder in den fünf Minuten, bevor auf der Ranch das Licht gelöscht wurde, immer getan, aber in den darauffolgenden Jahren schienen all die Regeln, die zu beachten waren, meine Kreativität erstickt zu haben. Bei Scientology sorgten die Vorschriften dafür, dass wir uns alle gleich benahmen. Sie ermutigten die Leute nicht, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, obwohl der neue Scientology-Slogan lautete: »Think for yourself«. Sobald ich mich wieder mit Musik und Zeichnen beschäftigte, wurde mir bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte und wie sehr ich es hasste, derart eingeschränkt zu sein. Es fühlte sich so natürlich an, meiner kreativen Seite Raum zu bieten.
Bei Martino hatte ich nicht das Gefühl, mich ständig vorbildhaft verhalten zu müssen. Ich wollte einfach nur ich selbst sein dürfen, wusste aber, wie unerreichbar diese Freiheit war. Die ganze Situation stürzte mich in einen inneren Konflikt: Einerseits wollte ich so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, andererseits fürchtete ich, dass unsere Freundschaft unhaltbar war. Und die Gefahr blieb auch den anderen nicht verborgen. Freunde, die uns zusammen sahen, raunten uns Warnungen zu, ermahnten uns, vorsichtig zu sein.
Ich beschloss, Tante Shelly einen Brief zu schreiben, in dem ich um meine Rücksendung zur Ranch bat. In meinem Antrag erwähnte ich Martino mit keiner Silbe, sondern betonte, dass ich wieder der Cadet Org auf der Ranch beitreten und meinen Schulabschluss machen wolle. Die CMO und Sea Org zu verlassen, um zurück zu den Kadetten zu gehen, war eine gravierende Entscheidung, so viel war mir klar. Wenn ihr überhaupt stattgegeben werden würde, machte ich damit in den Augen der Church einen großen Rückschritt – allerdings geschah so etwas auch nicht zum ersten Mal. Es gab Präzedenzfälle. Alles hing davon ab, wie meine Tante Shelly die Gesetze auf meine Situation anwandte. Bei einer Bewilligung würde ich Martino nicht wiedersehen, müsste mir aber zumindest keine Sorgen mehr darüber machen, ständig jemanden zu küssen, der streng genommen kein Sea Org-Mitglied war, was ein Out 2D darstellte und mich wie Mom in die RPF bringen konnte. Würde mir die Zustimmung, zur Ranch zurückzukehren, verweigert, bestand noch die Möglichkeit, zu Martino und meinen anderen Freunden in die Flag Cadet Org zu kommen. Beide Szenarien bedeuteten eine einstweilige Trennung von der CMO und der Sea Org. Eine bloße Nachfrage konnte meiner Einschätzung nach nicht schaden, da es ein LRH-Grundsatz verbot, wegen des Verfassens einer Petition in Schwierigkeiten zu geraten.
Den Antrag einzureichen mochte dreist sein, doch ich beruhigte mich damit, dass ich nur so Ärger vermeiden und auf dem richtigen Weg bleiben konnte. Durch meine Liebe zu Martino war ich bereits jetzt der Überschreitung einer Linie gefährlich nahe gekommen. Ich hatte Angst, in einer noch weitaus schlimmeren Lage zu enden, wenn ich die Sache einfach weiterlaufen ließ. Es zerriss mich innerlich, und Martino, den die Nachricht vom Brief an meine Tante tief bestürzte, ging es nicht anders.
Verschlimmert wurde meine verwirrende Lage durch eine allgemeine Unruhe auf der Base, die das Leben jedes Einzelnen zusätzlich verkomplizierte. Auslöser waren Demonstranten, die täglich vor der Base auftauchten, was die paranoide Stimmung, die uns ständig umgab, nur noch weiter anheizte.
Angefangen hatte der ganze Ärger, als die Church zwei schwerer Verbrechen angeklagt wurde; und zwar im Zusammenhang mit dem Tod von Lisa McPherson, einer öffentlichen Scientologin, die am 5. Dezember 1995 in der Obhut von Mitarbeitern der Church auf der Flag Land Base gestorben war. Vorausgegangen war ein unbedeutender Autounfall am 18. November in der Gegend von Tampa/Clearwater. Den Rettungssanitätern zufolge hatte die sechsunddreißigjährige Lisa keine physischen Verletzungen davongetragen, verhielt sich jedoch psychisch auffällig. Sie versuchte beispielsweise dauernd, ihre Kleidung auszuziehen. Die Mediziner wollten sie deshalb zur Beobachtung in ein Krankenhaus einweisen, wogegen sie sich wehrte, weil sie die religiöse Pflege und Hilfe durch andere Scientologen wünschte. Abgesandte der Church kamen, unterstützten sie bei ihrer Entlassung und brachten sie zur Genesung auf die Base zurück. Lisa war seit ihrem achtzehnten Lebensjahr Mitglied bei Scientology und glaubte sich in besten Händen. Stattdessen wurde sie unter eine sogenannte Isolation Watch gestellt, letztlich ein vierundzwanzigstündiges Monitoring, und das, obwohl ihr erst einen Monat zuvor der Clear-Status zuerkannt worden war.
Angeblich soll Lisa in den letzten Monaten ihres Lebens extrem verstört gewesen sein. Die offizielle Todesursache lautete nach der ersten Leichenbeschau auf »Dehydrierung«. Die anschließende Untersuchung führte zu zwei strafrechtlichen Anklagepunkten gegen die Church: »Misshandlung und/oder Vernachlässigung einer behinderten Person« sowie »ärztliches Praktizieren ohne gültige Zulassung«. Die Kirche ihrerseits leugnete vehement jedes eigene Fehlverhalten.
Die Tatsache, dass Lisa zum Zeitpunkt ihres Todes in der Obhut von Scientologen war, löste Empörung aus. Einige Berichte behaupteten sogar, mein Onkel sei persönlich an dem Auditing beteiligt gewesen, das in Lisas Clear endete, womit auch sein Name befleckt war. Schließlich strengte die Familie von Lisa McPherson 1997 einen Zivilprozess wegen »widerrechtlicher Tötung« gegen die Church an.
Mächtig Auftrieb erfuhr diese Anti-Scientology-Stimmung, als der millionenschwere Geschäftsmann Bob Minton 1999 die Lisa McPherson-Stiftung gründete, deren Ziel es war, die »irreführenden und manipulierenden Praktiken von Scientology aufzudecken« und »denen zu helfen, die von ihr [der Church of Scientology] geschädigt wurden«. Fünf Mitarbeiter hatte diese Stiftung, darunter vier ehemalige Scientologen. Der fünfte war Minton selbst.
Zum vierten Jahrestag von Lisas Tod organisierte Minton eine große Mahnwache in Clearwater und forderte, die Kirche solle für diesen Tod zur Rechenschaft gezogen werden. Aufgrund der zahlreichen Demonstranten an der Base informierte uns das Office of Special Affairs regelmäßig über alle Maßnahmen, die zur Kontrolle der Stiftungsleute unternommen wurden.
Ein paar der Hintergründe kannte ich. Onkel Dave hatte die gesamte Flag-Crew gebrieft. Erbost hatte er uns erklärt, dass dieser ganze Aufruhr nur entstanden sei, weil wir, die Mitarbeiter der Base und alle, die für Dienstleistungen verantwortlich waren, entgegen strikter Verbote einer Person (Lisa), die eine PTS – also eine Potential Trouble Source – war, Zugang zu Scientology gewährt hätten. Lisa galt demzufolge als PTS Typ 3, worunter im Grunde jemand verstanden wurde, der geisteskrank war und – nach LRHs Definition – Marsmenschen sah.
Nach dem Briefing versuchte ich, mit Tante Shelly über den Fall zu sprechen, doch sie fuhr mich sofort an: »Es gibt so vieles zu bereden, und dann fragst du mich ausgerechnet danach? Warst du nicht beim Briefing? Begreifst du nicht, dass die Kirche bei einer Verurteilung einen Eintrag ins Strafregister erhält? Wir wären die erste Kirche in der Geschichte mit solch einem Eintrag«, sagte sie wütend.
Später, nachdem die Anklagepunkte gegen die Church fallengelassen worden waren, erklärte mein Onkel Dave gegenüber anderen Scientologen, dass der Kirche bei einer Verurteilung die Aberkennung der Steuerbefreiung gedroht hätte und mit dieser auch der exklusiven Copyrights, was einer Katastrophe gleichgekommen wäre.
Das mit der Außendarstellung der Church betraute Office of Special Affairs (OSA) behauptete, die Situation und die Demonstranten im Griff zu haben. In Wahrheit versuchten OSA-Mitarbeiter die Protestierenden loszuwerden, indem sie diese zu unbedachten Aktionen reizten und dann so taten, als seien sie gestoßen oder geschlagen worden, auch wenn das überhaupt nicht stimmte. Anschließend riefen sie dann die Polizei, um die Demonstration auflösen oder den betreffenden Demonstranten verhaften zu lassen. Außerdem pflasterte die OSA die Nachbarschaft aller Protestierenden mit deren Steckbriefen und behauptete, es handele sich um sexuell Perverse und Väter, die keinen Unterhalt zahlen würden. Selbst im Inneren unserer Gebäude brachte sie Fotos der Demonstranten mit den Aufstellungen ihrer vermeintlichen Verbrechen an, damit nur keiner einen anderen Eindruck von ihnen bekommen konnte.
Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, warnte uns die OSA davor, die Schilder der Demonstranten zu lesen, da sie womöglich Material des OT Level III beinhalteten. Solange man diese Stufe auf der Brücke noch nicht erreicht hatte, konnte die Konfrontation damit ernste Folgen haben, wurde uns gesagt. Immerhin könnte es zu schweren Schädigungen oder sogar dem Tod führen, wenn wir uns mit diesem Wissen auseinandersetzten.
Der beste Weg, uns vor dem versehentlichen Lesen überfordernder Texte zu bewahren, bestand in den Augen des Office of Special Affairs darin, unsere Bewegungsmöglichkeiten einzuschränken. Wir erhielten die Anweisung, wegen des Aufruhrs nicht länger von einem Gebäude zum anderen zu gehen. Stattdessen mussten wir für alle Strecken die Vans nehmen, selbst wenn das Ziel nur auf der anderen Straßenseite lag. Die Fenster der Kleinbusse waren mit milchigem Kontaktpapier abgeklebt, sodass wir nichts von den Aktionen auf der Straße sehen und keine Schilder lesen konnten. Manchmal versuchten die Demonstranten uns beim Aussteigen zu filmen. Es war nervend, bei jedem Schritt von Kameras verfolgt zu werden, sobald man aus dem Van oder Bus stieg. Die Filmerei zwang die Busfahrer mitunter, mehrmals um den Block zu fahren, wodurch wir dann unser Frühstück verpassten. All diese Angst vor den Demonstranten machte unser Leben noch klaustrophobischer.
Die ganze Situation vermasselte mir immer wieder meine so schon knappe Zeit mit Martino. Stets erwarteten CMO-Leute die Vans, und ich musste vortäuschen, Martino nicht zu kennen, wenn er in meiner Umgebung war. Mein Verhalten schien ihm nicht zu gefallen, aber er sollte bald erfahren, warum es so sein musste.
Ungefähr zwei Wochen nach meinem Brief an Tante Shelly gab Tom, der inzwischen die CMO leitete, beim Mittagsappell etwas bekannt, das zu meiner großen Überraschung mich betraf.
Vor der ganzen Gruppe verkündete Tom in allen Einzelheiten den Antrag, den ich an Tante Shelly geschickt hatte, und informierte damit jeden, dass ich um meine Rückkehr in die Cadet Org gebeten hatte. Einen Moment lang hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Alle sahen mich an. Abgesehen von Tante Shelly hatte ich lediglich meinem Auditor davon erzählt, weil ich ihr über alles Bericht zu erstatten hatte. Natürlich wusste es auch Martino, aber der hatte mich bestimmt nicht verraten. Jetzt war mein Privatleben mit einem Schlag allen bekannt, und selbst Julia, der letzte Mensch, dem ich so etwas anvertrauen würde, wusste Bescheid.
Nach dem Appell ging ich zu Tom, den ich seit drei Jahren mit Mr. Devotch anzureden hatte. In diesem Moment kümmerte mich seine Stellung jedoch nicht, ich kochte vor Wut. Ich konnte nicht fassen, dass er einen derartigen Aufwand betrieb, um mich zu demütigen – noch dazu über eine Petition, deren Abfassung eigentlich niemandem zum Vorwurf gemacht werden sollte. Ich hatte kaum begonnen, mich zu rechtfertigen, da schnitt mir Tom aus Entrüstung über meinen mangelnden Respekt das Wort ab. Wütend schrie er mich an: »Jenna, du steckst in riesigen Schwierigkeiten. Erst freundest du dich mit Kadetten an, und dann kommandierst du mich auch noch herum, als wärst du hier der Boss. Du bist ungezogen, respektlos und gehörst eigentlich ins RPF. Und jetzt verschwinde aus meinem Büro.«
Mit diesen Worten wurde ich in mein Apartment auf der Hacienda geführt und dort unter Hausarrest gestellt. Seine Zurechtweisung war wie ein Schlag ins Gesicht, von dem mir noch in meinem Zimmer der Kopf schwirrte.
Eigentlich hätte ich meine Bestrafung kommen sehen müssen, nicht allein wegen Martino, sondern weil erst kürzlich Mädchen in der CMO mächtig Ärger für Flirten und ähnliches Fehlverhalten bekommen hatten. Angefangen hatte alles ausgerechnet mit Olivia und Julia, den beiden größten Regelverfechtern überhaupt. Sie hatten vorübergehend für meinen Onkel gearbeitet und waren dort des Flirtens mit Mitarbeitern beschuldigt worden, obwohl sie doch beide bereits verheiratet waren. Ironischerweise dürften sowohl Olivia als auch Julia für die Arbeit bei meinem Onkel gerade ausgesucht worden sein, weil sie so gut aussahen, besser jedenfalls als alle anderen in der CMO. Mit attraktiven Frauen umgab er sich gern.
Außer Olivia und Julia hatte auch meine Mitbewohnerin Mayra wegen eines Typen Schwierigkeiten bekommen. Sie war ein paar Jahre älter als ich und hatte sich auf ein Verhältnis mit einem RTC-Abgeordneten eingelassen, den sie noch von der Cadet Org kannte. Jahrelang hatten sie Heiratspläne geschmiedet, was verboten war, da er der RTC angehörte und sie der CMO. Nachdem ihre Beziehung bei einem Security-Check ans Licht kam, musste sie ebenfalls mit einer harten Maßregelung rechnen.
In Reaktion auf diese Verstöße hatte die Kirche damit begonnen, beim Appell diejenigen bloßzustellen, die out ethics waren. Die Absicht bestand darin, »einen Kopf auf die Lanze zu spießen«, wie LRH in einer seiner Ethikrichtlinien schrieb, was wiederum andere abschrecken sollte, ebenfalls out ethics zu werden. Obwohl ich miterlebt hatte, wie es den anderen Mädchen ergangen war, hatte ich irgendwie nicht für möglich gehalten, dass auch ich so vor aller Augen vorgeführt werden würde.
Toms Bemerkungen nach dem Appell ließen keinen Zweifel daran, dass er von meinem unethischen Tun wusste. Und seiner abweisenden Schroffheit nach zu urteilen, würde mein Antrag offenkundig nicht positiv beschieden, auch wenn die Rückkehr zur Cadet Org in vorangegangenen Fällen schon genehmigt worden war. Wahrscheinlich würde ich sogar für meinen Wunsch, die Sea Org zu verlassen, bestraft werden.
Wie Tom mir für das Abfassen einer Petition allerdings gleich mit RPF drohen konnte, blieb mir unbegreiflich. Allein die Buchstaben RPF zu hören, löste bei mir nach allem, was ich durch Mom und Justin miterlebt hatte, eine intuitive Abwehrhaltung aus. Worin auch immer mein Vergehen liegen mochten – sei es meine Nähe zu Martino oder mein Drang, wieder ein Kadett zu werden –, eine Bestrafung mit RPF war völlig unangemessen. Schließlich hatte ich nur versucht, das Richtige zu tun.
Ich warf mich auf mein Bett und bemerkte erst jetzt Mayra, die auch unter Hausarrest stand. Zusätzlich zu der verbotenen Beziehung, die sie unterhalten hatte, war sie vor ein paar Tagen dabei erwischt worden, wie sie abhauen wollte, was zu Dauerbeobachtung und der Verriegelung unserer rückwärtigen Terrassentür geführt hatte. Mayra hatte sich aus der Sea Org absetzen wollen. Derartige Fluchtversuche waren selten und erregten immense Aufmerksamkeit. Die Abstrafung erfolgte stets rasch und mit großer Härte. Da ich ihren Versuch zu verschwinden nicht bemerkt hatte, galt ich als mitverdächtig, worum ich mir im Augenblick jedoch die geringsten Sorgen machte.
Kurze Zeit später kam die Mitteilung, ich solle gemeinsam mit Mayra und einigen anderen, die Ärger bekommen hatten, MEST-Dienst leisten, doch ich weigerte mich. Mein Verhalten war falsch, das wusste ich, aber ich glaubte nicht, Zwangsarbeit als Strafe verdient zu haben. Einen niedrigeren Ethikzustand vielleicht, aber keine schwere körperliche Arbeit. Ich hatte das Bittgesuch an Tante Shelly in gutem Willen verfasst. Ich hatte zudem meinem Auditor von der Freundschaft mit Martino berichtet, und sie hatte mir versichert, ich würde mich korrekt verhalten. Dennoch wurde ich so hart bestraft.
Mayra versuchte, mich umzustimmen, und sagte, dass sie meine Gefühle gut nachempfinden könne, aber ich blieb bockig. Inzwischen war es Abend geworden. Ich hatte Angst und fürchtete mich vor dem, was mit mir geschehen würde, lenkte jedoch nicht ein. Ich wollte meinen Dad anrufen. Natürlich war ein solcher Anruf nicht der beste Weg, um mit meiner Verärgerung umzugehen, aber nachdem ich von Martino gehört hatte, was für eine wichtige Rolle seine Mom in seinem Leben spielte, hielt ich es für einen Versuch wert, mich an meinen Vater zu wenden und zu sehen, ob er helfen konnte. Wobei es weder zum Aufgabenbereich meines Dads noch meiner Mom gehörte, sich um mich zu kümmern. Alle diesbezüglichen Fragen hatten sich an Org-Richtlinien zu orientieren. Darüber hinaus konnte mein Anruf als aufwühlende Störung meiner Eltern bei deren Arbeit betrachtet werden, was mir weiteren Ärger einbringen würde. Bei Verstimmungen sollte ich eigentlich einen Bericht verfassen, der dann entweder als »geschwätzig« oder als »lamentierend« betrachtet wurde, was bedeutete, ich hätte Withholds, was wiederum hieß, dass ich einen Security-Check über mich ergehen lassen müsste, was letzten Endes sowieso geschehen würde. So sah der Kreislauf aus, die endlose Rückkoppelungsschleife bei Ungehorsam, die, einmal in Gang gesetzt, kaum zu durchbrechen war.
Dieser ewige Kreislauf oder dessen Konsequenzen kümmerten mich in diesem Moment allerdings wenig, denn am meisten fürchtete ich mich davor, von Tom ins RPF geschickt zu werden und meine Eltern schon bald überhaupt nicht mehr kontaktieren zu können. Mein Dad war derjenige, der am ehesten Rat für mich wusste und der mir vielleicht sogar beistehen würde.
Unser Apartment verfügte über ein genehmigtes Telefon, für dessen Gebrauch allein eine meiner Mitbewohnerinnen autorisiert war. Es sollte ihr ermöglichen, bei einem nächtlichen Fluchtversuch den Sicherheitsdienst zu verständigen. Ich nahm den Hörer und rief die Vermittlung der CMO Int an. Zu meiner freudigen Verblüffung meldete sich tatsächlich jemand, doch dann erhielt ich leider die Auskunft, dass mein Vater nicht im Haus war. Allerdings erklärte die Frau in der Vermittlung, ich könne mit meiner Mutter sprechen, was mich vollends in Verwirrung stürzte. Meiner letzten Information nach war sie noch im RPF. Die Zentrale ließ mich kurz warten, bevor sie mir mitteilte, dass meine Mutter zurzeit nicht erreichbar war, ich es aber gerne in Kürze noch einmal versuchen könne. In all der Panik war ich für einen winzigen Augenblick wie vor den Kopf geschlagen. Warum hatte es nach allem, was wir durchgemacht hatten, niemand für nötig befunden, mir zu sagen, dass sie aus dem RPF war?
Kurz darauf versuchte ich erneut anzurufen, doch diesmal bemerkte Mayra mich. Sofort rannte sie los und holte Olivia. Dass sie mich verpfiff, wunderte mich nicht. Auch wenn wir beide derzeit mit Strafen belegt waren, so konnten wir doch Wiedergutmachung leisten, indem wir das Fehlverhalten der anderen meldeten und so unsere Loyalität bewiesen. Dies ist eine Methode, mit der die Sea Org ihre Mitglieder zum gegenseitigen Anschwärzen ermuntert und das Misstrauen hochhält.
»Du kannst deine Eltern nicht anrufen«, sagte Olivia, als sie den Raum betrat.
»Fick dich«, schoss ich zurück, ohne mir länger Gedanken um die Folgen zu machen. Ich ergriff wieder den Hörer, doch sie hielt die Trenntaste gedrückt. Sosehr ich mich bemühte, sie ließ nicht los.
»Na schön, dann geh ich zu den Münztelefonen.« Ich wandte mich zur Tür, aber Olivia versperrte mir den Weg. Ich versuchte, mich mit Gewalt an ihr vorbeizuschieben, doch Mayra eilte ihr zu Hilfe und hielt mich fest.
»Sorry, Jenna, das kann ich nicht zulassen«, erklärte Mayra entschuldigend. Ich riss mich ohne große Probleme von den beiden los.
Ein Mädchen aus dem Nebenzimmer tauchte auf und beteiligte sich daran, mich aufzuhalten, wobei sie schrie, wie unethisch ich mich doch aufführte. Sie hielten mich an Armen und Beinen gepackt, während ich mich mit aller Kraft zu befreien versuchte. Als es mir endlich gelang, mischte sich auch noch meine alte Freundin Melinda Bleeker ein und warf sich auf mich. Ich spuckte ihr ins Gesicht, woraufhin sie mich einen Moment lang losließ. Womöglich hätte ich es sogar aus der Tür geschafft, wäre nicht der herbeigerufene Security Guard gewesen, der gerade mit dem Fahrrad ankam. Er sagte mir, dass ich nirgendwohin gehen würde, und er klang äußerst entschieden.
Inzwischen wollte ich nur noch weg und strampelte wild mit Armen und Beinen. Ich versuchte sie abzuschütteln, aber sie zogen mich in alle vier Richtungen. Und selbst wenn ich mich von einem oder mehreren Mädchen losreißen konnte, kam ich noch immer nicht an dem Sicherheitsmann vorbei. Die rückwärtige Tür war nach Mayras kürzlichem Fluchtversuch fest verschlossen, womit diese Option also auch wegfiel. Außerdem ließ sich Mayra die Chance zur Rehabilitation nicht nehmen und hielt mich gnadenlos umklammert.
Einige Male konnte ich mich fast befreien. Dann sah ich Tom vor der Tür stehen. Anscheinend hatte Olivia ihn benachrichtigt. Er wollte auf die ernste, rationale Weise versuchen, mich in den Griff zu bekommen. Zuerst weigerte ich mich vor lauter Wut, mit ihm zu reden, doch rasch wurde mir bewusst, dass er allein mich hier rausholen konnte.
»Beruhige dich, Jenna«, sagte er, »dann werde ich mich oben in meinem Quartier mit dir unterhalten und sehen, ob wir zu einer Lösung kommen.« Mein vergeblicher Kampf hatte mich erschöpft, und so willigte ich zögernd ein.
Oben in seinem Zimmer setzten wir uns beide hin. »Dass es so weit kommt, habe ich nicht gewollt, aber ich begreife nicht, was in dich gefahren ist. Als wärst du plötzlich ein anderer Mensch geworden. Was ist los?«
Idiotischerweise bemühte ich mich ehrlich zu sein. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte mit Martino, wie ich zur CMO stand und warum ich den Antrag an Tante Shelly geschrieben hatte. Als ich fertig war, schwieg er einen Moment und schien über das Gesagte nachzudenken.
»Ich verstehe, Jenna. Ich werde versuchen, morgen alles wieder in Ordnung zu bringen.«
Am nächsten Morgen ging ich zum Kurs, wo ich Martino sah und ihm erzählte, was geschehen war. Er war beunruhigt und sorgte sich um mich. In seinen Ohren klang die ganze Situation verrückt. Etwa eine Stunde später erschien Tom im Kursraum und erklärte, Martino und ich sollten ihm folgen. Ich bat Tom, Martino aus der Sache rauszuhalten, und er tat mir zumindest vorläufig den Gefallen.
Wir fuhren eine Weile, und ich merkte, dass wir zur Hacienda zurückkehrten. Er sagte mir, ich würde auf der Hacienda MEST-Dienst verrichten und mein Programm absolvieren. Abgesehen von Martinos Entlastung hatten all meine Worte ganz offensichtlich nichts bewirkt. Erwartete man nun wirklich, ich würde Reue zeigen und meine Strafe akzeptieren? Ich lehnte jede Maßregelung ab, die meinem Vergehen nicht angemessen war.
Meine Wut kochte wieder hoch, und ich verweigerte erneut jeglichen MEST-Dienst. Mayra drang mit unterschiedlichen Taktiken auf mich ein, schrie mich an, redete mit mir, flehte mich an, aber ich gab nicht nach. Natürlich hatte ich schreckliche Angst, aber ich wollte nicht länger in der CMO bleiben, und das erklärte ich Mayra auch. Ich sagte sogar, dass ich mir nicht mehr sicher sei, der Sea Org angehören zu wollen. Wie jedes gute Sea Org-Mitglied berichtete sie all das natürlich sofort nach oben.
An diesem Abend kam Tom in mein Zimmer. »Deine Eltern sind am Telefon und wollen mit dir sprechen.« Tom blieb während des Gesprächs direkt neben mir sitzen. Sie erzählten, dass sie gehört hätten, ich würde in Schwierigkeiten stecken. Sie erinnerten mich daran, was ich bereits geleistet hatte, wie stark ich war und dass ich diese Phase meistern konnte. Auch sie hätte ihr Programm erfolgreich zu Ende geführt, erwähnte Mom noch, um mich zu beruhigen und zu motivieren. Außerdem würde sich Tom um mich kümmern, das habe er versprochen. Seit meiner Übersiedlung nach Florida war Tom mein Guardian, und im Großen und Ganzen waren wir immer gut miteinander ausgekommen. Das hatte sich mit dem letzten Vorfall jedoch vollkommen geändert.
»Denk daran, uns anzurufen und auf dem Laufenden zu halten«, sagten sie.
»Ich rufe euch morgen zurück, wenn ich kann.«
Ich war weiter fest entschlossen, nicht nachzugeben. Ich blieb einfach stur. Vor harter körperlicher Arbeit hatte ich keine Angst, daran lag es nicht. Es ging ums Prinzip. Ich hatte bereits reichlich MEST-Dienst auf der Hacienda verrichtet und hätte falls nötig problemlos noch mehr machen können. Aber ich hatte einfach keine Lust. Klar, mein Auditoren- und Security-Trainer war größer und stärker, und sie konnte sich durchsetzen, indem sie mich stundenlang im Raum festhielt.
Am Ende bekannte ich mich zu ein paar Withholds und tat erleichtert, damit meine Nadel ausschlagen und sie die Sitzung beenden konnte. Auditoren standen unter beträchtlichem Druck, sich keinerlei Withholds entgehen zu lassen, und konnten eine Sitzung nicht abschließen, bevor sie nicht einen Erfolg verbucht hatten. In vielen Fällen spielte ich nur aus Mitgefühl für den Auditor mit.
Am nächsten Tag kam Mr. Anne Rathbun zu mir. Ich dachte schon, sie würde mich womöglich verteidigen, aber da sollte ich mich irren. Ihrer Meinung nach verhielt ich mich derart unangebracht und out ethics, dass es schon einer Untertreibung gleichkomme zu behaupten, sie sei von mir enttäuscht. Sie ermahnte mich, ich solle gefälligst wieder zu Sinnen kommen, und schüchterte mich mit ihrer emphatischen Ansprache gehörig ein. Bei meinem nächsten Auditing probierte ich aus, ob mir größeres Entgegenkommen irgendwie weiterhalf, aber es nützte nichts. Übrig blieb lediglich das Gefühl, etwas gegen meinen Willen zugelassen zu haben.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wurde mir gesagt, dass ich unverzüglich zur Base kommen müsse, wo jemand dringend mit mir reden wolle. Es handele sich um einen Notfall, ich solle nur schnell irgendetwas anziehen und zur Base kommen. Ich bekam einen fürchterlichen Schrecken.
Den Fahrer kannte ich von der CMO. Er raste wie ein Verrückter auf dem Weg zum WB. Oben empfing mich Mr. Rathbun und wies mich barsch an, meine Overts und Withholds aufzulisten, während ich im Auditing-Raum wartete. Ich schrieb bereits, als ein paar Minuten später Onkel Dave eintrat. Er wirkte unzufrieden.
»Was machst du da?«, fragte er.
»Ich schreibe meine Overts und Withholds auf, wie Mr. Rathbun es mir aufgetragen hat«, erwiderte ich.
»Hmm, verstehe«, sagte er sehr distanziert. »Steckst du in ethischen Schwierigkeiten?«
»Ja, Sir«, sagte ich und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen.
»Weshalb?«, wollte er wissen.
»Ich habe versucht, meine Eltern anzurufen, und ich habe mich mit anderen geschlagen und …«
Er schnitt mir mit einem gebrummten »unfassbar, einfach unfassbar« das Wort ab. Dann hob er seine Stimme deutlich und sagte: »Es wird keinerlei Sonderbehandlung mehr für dich geben.« Mit dieser Erklärung verließ er das Zimmer. Er hatte sich nicht einmal meine Geschichte zu Ende angehört. Seine Wut besänftigt hätte das allerdings auch nicht.
Nur Sekunden später trat Tante Shelly ein, gefolgt von dem CO, Olivia und Mr. Anne Rathbun. Sie stellten sich alle mit verschränkten Armen an einer Seite des Zimmers auf und sahen mich an. Tante Shelly war besonders aufgebracht.
»Jenna, ich war stets wie ein Guardian … nein, wie ein Guardian Angel zu dir«, begann sie, ihre Großzügigkeit zu beschreiben. »Ich hab dir meine Zeit geschenkt, mich um dich gesorgt, und du nutzt das alles bloß aus.« Dann fasste sie zusammen, was sie von mir hielt. »Du hast dich absolut empörend aufgeführt. Was ist denn in dich gefahren? Du lernst irgendeinen Schwachkopf kennen und benimmst dich sofort wie er?« Offenbar spielte sie auf Martino an.
Und so ging es weiter und weiter. Sie stellte klar, dass Onkel Dave der einzige Mensch auf dem Planeten war, der direkt bei der Int Base anrufen dürfe, führte an, dass ich immer schon beim geringsten Anlass zu meinen Eltern gerannt sei, womit ich diese – Verstoß eins – von ihrer Arbeit abhielt und mich außerdem – Verstoß zwei – übertrieben hilfsbedürftig und privilegiert aufführte.
Ich wollte einwerfen, dass ich die beiden in den vergangenen drei Jahren nur einmal gesehen hatte, aber sie ließ mir keine Chance.
»Untersteh dich, mir Widerworte zu geben!«, bellte sie.
Sie fuhr mit ihren Vorwürfen fort und verwertete dazu meine Petition und alles, was sie sonst noch über mein Verhalten erfahren hatte. Mein Flirten während der Kurse sei entschieden out ethics und rangiere gerade mal eine Stufe unter Sex. Gegenüber meinen Auditoren sei ich stets unethisch und unkooperativ aufgetreten und habe sie nun auch noch physisch angegriffen, indem ich Olivia geschlagen und Melinda angespuckt hatte. Der zornige Blick, mit dem sie mich während ihrer Schimpftirade bedachte, brachte mich schließlich zum Weinen.
»Genau so, du führst dich auf wie ein Baby«, sagte sie wütend. »Das ist bloß noch einer von deinen Tricks. Also hör auf damit, sofort.«
Ich unterdrückte meine Tränen mit aller Macht, aber sie war noch nicht fertig.
»Wo du auch hingehst, hinterlässt du einen Trümmerhaufen. Die Ranch wurde deinetwegen eingerichtet, und jetzt ist sie deinetwegen ein einziger Chaosladen, den ich wieder in Ordnung bringen muss.«
An diesem Punkt hätte sie alles erzählen können, dermaßen absurd waren ihre Anschuldigungen geworden. Und mit ihrer nächsten Drohung setzte sie noch eins drauf. »Wenn du so weitermachst, wird dein Name geändert werden müssen, da er völlig out PR ist.« Sie spielte darauf an, dass ich als eine Miscavige meine Familie repräsentierte und mein Verhalten daher vorbildlich zu sein hatte. »Du wirst ein Programm absolvieren, und du wirst gefälligst kooperieren. Du wirst dich einsichtig zeigen und dich gefälligst daran halten.«
Ihre Stimme klang ernst. »Ja, Sir«, beeilte ich mich zu sagen, als sie sich zum Gehen wandte.
»Werden Sie denn noch mit mir sprechen?«, fragte ich flehentlich und versuchte, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
»Ich weiß es nicht, Jenna«, sagte sie und ließ ein wenig Betrübnis und gerade die richtige Dosis Verführung mitschwingen. »Vielleicht, wenn du dein Programm erfolgreich abschließt.« Mit diesen Worten marschierte die ganze Gruppe aus dem Zimmer.
Ich konnte nicht fassen, wie ich es so weit hatte kommen lassen, wie unethisch ich mich verhalten hatte. Ich hatte alles aufs Spiel gesetzt, wofür ich mein ganzes Leben gearbeitet, wovon ich geträumt hatte, und das für einen Typen, den ich erst ein paar Monate kannte. Mir war bewusst, dass ich das wiedergutmachen musste, dass ein langer Weg vor mir lag, aber ich schwor mir, es zu schaffen. Ich war kaum mit dem Gedanken zu Ende, da kehrte Anne Rathbun ins Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und befahl mir mit durchdringendem Blick, die Mülleimer auszuleeren.