KAPITEL 9
Clearwater

Der Flug nach Florida war mein erster Ausflug allein in die Wog-Welt. Am Abend zuvor packte ich meine Reisetasche, um bereit zu sein, wenn Moms Sekretärin Ana mich abholte. Ich umarmte Justin, B. J. und Kiri zum Abschied und stieg dann in Anas Wagen, um zum Flughafen zu fahren. Dort übergab mich Ana einer Stewardess, die mir eine Anstecknadel mit Flügeln an meine Bluse heftete und mich zu meinem Platz im Flugzeug brachte.

Es war ziemlich seltsam und überforderte mich etwas, so ganz allein inmitten von Wogs in einem Flugzeug zu sitzen. Als eine Dame mich fragte, wohin ich flöge, antwortete ich, zur Flag Base.

»Meinst du Fort Lauderdale?«, erkundigte sie sich.

»Nein, Clearwater«, sagte ich.

»Ah, dann musst du nach Tampa«, erwiderte sie. Ich fragte, ob dort Clearwater liege, und sie sagte, es sei ganz in der Nähe. Während der fünf Stunden des Flugs fragte ich immer wieder meine Sitznachbarn, ob es noch weit sei. Überraschenderweise waren alle, trotz meiner Ungeduld, nett zu mir.

Als ich auf dem Flughafen in Tampa das Flugzeug verließ und durch das Gate trat, überwältigte mich der Anblick der vielen Fremden, die dort standen. Einige hielten Schilder mit Namen in die Höhe, andere warteten eindeutig auf Freunde und Verwandte. Ich entdeckte niemanden, der auf mich wartete, und die Aussicht, meine Mutter inmitten dieser vielen fremden Gesichter aufspüren zu müssen, war ziemlich furchterregend. Glücklicherweise entdeckte ich sie, bevor ich wirklich in Panik geraten konnte. Sie war noch hübscher, als ich sie in Erinnerung hatte, doch als ich geradewegs auf sie zumarschierte, blickte sie über mich hinweg.

»Mom, hier bin ich«, sagte ich und umarmte sie.

»Ach, du meine Güte!«, rief sie verblüfft. »Ich hab dich gar nicht erkannt!« Strahlend und lachend nahm sie mich in die Arme. Als ich den blumigen Duft des Shampoos roch, das sie immer benutzte, überkam mich eine riesige Welle der Erleichterung. Dreitausend Meilen von der Ranch entfernt fühlte ich mich endlich zu Hause, weil ich bei meiner Mom war.

Meine Mutter hatte einen Mann namens Tom mit zum Flughafen gebracht. Sie war nie besonders gern Auto gefahren, und da der Flughafen nicht auf ihrer alltäglichen Fahrstrecke lag, war Tom für diesen Tag ihr Chauffeur. Da Mom in der Sea Org aufgewachsen war, hatte sie immer deren Busse und Transportmittel genutzt. Normalerweise konnten sich Sea Org-Mitglieder keinen eigenen Wagen leisten, vor allem wegen der Versicherungs- und Benzinkosten. Einen Wagen hatten nur diejenigen, die ihn beim Eintritt in die Sea Org mitbrachten oder noch weitere Einkommensquellen hatten. Und dann gab es noch die wenigen, die von der Org einen Wagen gestellt bekamen. Meine Mom hatte einen solchen Wagen, einen goldenen Honda.

Mom hatte Tom und seine Frau Jenny bereits bei unseren wöchentlichen Telefonaten erwähnt. Sie kannte beide schon lange, und jetzt arbeiteten sie für sie. Sie hatte Tom als unglaublich netten Menschen beschrieben, der im Herzen ein Kind geblieben war. Ich erfuhr rasch, was sie damit meinte. Während unserer Bahnfahrt zum Hauptterminal bestand er darauf, dass wir uns nicht irgendwo festhielten, während die Bahn beschleunigte. Allein deswegen fand ich ihn schon in Ordnung.

Vor dem Terminal kam ich zum ersten Mal mit der hohen Luftfeuchtigkeit von Florida in Kontakt. Es war mir ein Rätsel, wie man dabei überhaupt genug Sauerstoff einatmen konnte. Tom rettete uns, indem er im Wagen die Klimaanlage anschaltete.

Mom wohnte in den Hacienda Gardens, einem rosa gestrichenen, spanisch anmutenden Apartmentkomplex auf der North Saturn Avenue, wo sie ihre eigene Wohnung und eine Katze namens Poncho hatte. Der Komplex bestand aus acht Gebäuden, hatte viele Palmen, einen Pool und eine Kantine. Wir fuhren zu Block L, wo ihre Wohnung lag. Gegenüber ihrer Wohnungstür saß ein Wachmann, so als hätte sie einen persönlichen Leibwächter. Als er meine Mutter sah, winkte er.

»Hi, Sir«, sagte er begeistert.

»Hi, Bruce«, antwortete meine Mutter, bevor sie ihre Wohnung betrat.

In der Wohnung empfing uns ein Mädchen im Teenageralter. Sie trug eine ähnliche Uniform, wie Mom und Dad sie normalerweise in der Int Base hatten: dunkelblaue Hose, hellblaues, langärmliges Hemd mit steifem Kragen, Krawatte und Namensschild.

»Hi, Sirs!«, begrüßte sie Mom und Tom. Dann neigte sie sich vor, um mit mir zu reden. »Du musst Jenna sein! Ich hab schon viel von dir gehört!« Ich lächelte schüchtern. Dann wandte sie sich an meine Mom. »Ich habe gerade die Wäsche weggebracht, ein Imbiss steht auf dem Tisch, und falls Sie etwas brauchen, bin ich nebenan in L2.«

Meine Mutter nahm all diese Aufmerksamkeiten ganz normal auf, aber ich war schwer beeindruckt. Unglaublich, wie viel persönlichen Service sie bekam! Sie war eine wichtige Führungskraft in der internationalen Commodores Messenger Organization.

Diese kurz CMO genannte Organisation war ein wichtiger Bereich der Führungsebene von Scientology, der früher nur aus den engsten Mitarbeitern von L. Ron Hubbard bestanden hatte. Bis heute ist sie eine der angesehensten Abteilungen der Sea Org, und ihre Mitarbeiter sollen nicht mit normalen Sea Org-Mitarbeitern verkehren. Meine Mutter war eine der höchsten Führungskräfte der CMO. Sie gehörte auch zum Watchdog Committee, dem wichtigsten Ausschuss der Church, der gleichzeitig der CMO International zugeteilt war. Ich platzte vor Stolz, dass sie eine so hochrangige Führungskraft auf einem so bedeutenden Posten war.

»Großartig. Danke, Sharni«, antwortete meine Mom. Sharni war ein Messenger der CMO in Clearwater, und zu ihren Pflichten gehörte es, sich um die Bedürfnisse meiner Mutter und anderer hoher Führungskräfte zu kümmern.

Nachdem ich meinen Koffer abgestellt hatte, zeigte mir Mom die Wohnung. Sie war nicht nur wesentlich größer und luxuriöser als das Apartment, das sie sich in der Int mit Dad und den Rinders teilte, sondern sie hatte sie auch für sich ganz allein. In der Int teilten sich alle eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, aber hier gab es drei Zimmer, die nur für meine Mom und ihre Gäste gedacht waren. Und im Bad gab es einen Whirlpool.

Als würden die vielen Zimmer nicht schon reichen, war sie auch überall mit wunderschönen spanischen Kacheln ausgestattet. Alle Möbel waren sehr elegant, und im Flur gab es einen verzierten Spiegel, unter dem eine Schüssel mit köstlichen Süßigkeiten stand. Zusätzlich zu bestickten Vorhängen hatten alle Fenster noch Jalousien. Und im Wohnzimmer stand ein Fernseher, der in einem großen Holzschrank versteckt war. Als wir in die Wohnküche gingen, wartete ein köstlicher Imbiss mit französischem Käse und Obst auf uns. Es gab hohe Gläser mit frisch gepresstem Wassermelonensaft, in denen Strohhalme steckten. Als ich den Kühlschrank öffnete, sah ich alle möglichen Delikatessen, von Pâté, die sich ziemlich ekelig anhörte, über Pfirsichsaft bis zu englischen Muffins. Ich staunte, dass uns so viele Köstlichkeiten einfach zur Verfügung standen.

Vor lauter Aufregung konnte ich mich kaum halten. Mein Gästezimmer hatte ein riesiges Bett mit einer großen, weichen Decke mit Blumendruck. Ich warf mich darauf und genoss es, dass es so herrlich roch und – im Gegensatz zu meinem Bett auf der Ranch – so weich war, dass ich geradezu darin versank. Es gab auch zwei Schränke und eine große Kommode, obwohl ich gar nicht genug Kleider dafür hatte. Selbst wenn ich meine gesamte Garderobe mitgebracht hätte, wären ein, zwei Schubladen vollkommen ausreichend gewesen, da ich normalerweise die Uniform trug. Es gab sogar ein Telefon in meinem Zimmer, sodass ich meinen Dad jederzeit anrufen konnte.

Sorgfältig breitete ich meine CDs auf der Kommode aus. Ich nahm immer Musik mit, wohin ich auch ging. Mom meinte, sie müsste noch mal ins Büro, doch sie wollte mich mitnehmen, damit ich alle kennenlernen konnte. Ich war begeistert. Zwanzig Minuten später hielten wir vor einem großen Betongebäude auf der N. Fort Harrison. Man nannte es WB, die Kurzform von West Coast Building, denn dort war das Management untergebracht, das eigentlich zum Int Management an der Westküste gehörte.

Als wir durch das Gebäude gingen, wurde meine Mom ständig mit »Hi, Sir« begrüßt. Wir fuhren mit einem alten Aufzug in ihr Büro im dritten Stock, wo viele Messengers herumflitzten.

Mom teilte sich ihr Büro mit ihrer Sekretärin Alison sowie mit Tom und seiner Frau Jenny. Tom war der Commanding Officer der CMO Clearwater, und Jenny war ebenfalls eine Führungskraft der CMO. Die Büros waren sehr schön und hatten Holzmöbel, einen braunen Teppich und Bambusjalousien. Onkel Daves riesiges Büro befand sich am Ende des Flurs, gleich neben Tante Shellys etwas kleinerem. Außerdem gab es in der Geschäftsstelle noch Räume für Onkel Daves Personal. Er und Tante Shelly waren gerade nicht da, doch die Büros standen ihnen immer zur Verfügung. Es gab auch eine kleine Küche, wo ein weiterer Imbiss auf uns wartete. Der Kühlschrank und die Schränke enthielten ebenfalls viele Köstlichkeiten. Auf der Ranch gab es keine Imbisse; wir durften uns auch zwischen den Mahlzeiten nichts aus der Küche holen. Eine meiner Freundinnen war sogar herabgestuft worden, als sie sich etwas zu essen stibitzt hatte.

Mom sagte, wir würden mit allen zusammen im Konferenzraum zu Mittag essen. Dort wartete ich bis zur Mittagspause und konnte eine Weile einem Messenger bei den Vorbereitungen zusehen. Es war ein junges Mädchen, das sich als Valeska vorstellte. »Ich hab dir einfach einen Hamburger bestellt, weil ich nicht wusste, was du gern magst«, sagte sie lächelnd.

Ein paar Minuten später kam ein älterer Mann im Smoking in den Konferenzraum, der mit starkem französischen Akzent sprach. Ich verstand nur, dass er Steve hieß, aber das vielleicht auch nur, weil Valeska es mir bereits gesagt hatte. Französisch sprechende Kellner im Smoking waren mir noch nie begegnet. Staunend sah ich zu, wie Steve sorgfältig den Teller mit meinem Hamburger und den Rest des bestellten Essens auf dem Tisch arrangierte. Wie Valeska mir erklärte, kam das Essen von Hibiscus, dem teuersten Feinschmeckerlokal im Fort Harrison Hotel, das Scientology gehörte. Im Fort Harrison übernachteten öffentliche Scientologen, wenn sie die Stadt besuchten und Dienste der Base in Anspruch nahmen. Es war ein ausgezeichnetes Hotel mit drei Restaurants und über zweihundert Zimmern, mit einem überwältigenden Kursangebot und einer hohen Dichte an Scientologen. Steve, ein Sea Org-Mitglied, arbeitete im Hibiscus, und unser Essen war eigens nach unseren Wünschen zubereitet worden. Mir gefiel die Idee, dass wir alles bestellen konnten, was wir wollten.

Kaum hatte Valeska den Tisch gedeckt, kamen die Erwachsenen herein. Sie unterhielten sich, aber ich war so mit meinem Hamburger beschäftigt, dass ich kaum auf sie achtete. Noch nie hatte ich einen so leckeren Hamburger gegessen. Tom schien es auch zu schmecken. Meine Mom hatte Fisch in einer fluffigen Pastete, und ihr Teller war mit einem kleinen Petersilienzweig garniert.

Am Abend bat Mom Tom, mich nach Hause zu fahren. Ich war enttäuscht, dass sie nicht mitkommen konnte, fühlte mich aber bei Tom sehr wohl. Er war lustig und nett, und ich verstand mich ziemlich gut mit ihm. Als wir in die Wohnung kamen, entdeckte ich zu meiner Freude, dass jemand meinen Koffer ausgepackt hatte. Und noch besser war, dass Mom eine Flasche von ihrem Blumenshampoo in mein Bad gestellt hatte.

Als ich es mir gemütlich gemacht hatte, kam Sharni herein und erzählte mir, wie meine Woche weiter verlaufen würde.

»Wie du weißt, hat deine Mom viel zu tun, Jenna«, begann sie. »Sie hat einen langen Arbeitstag, daher werde ich mich ein bisschen um dich kümmern, während sie arbeitet.«

Zuerst war ich etwas niedergeschlagen, dass ich meine Mom nicht so häufig sehen würde, wie ich gehofft hatte. Andererseits sah ich sie schon weitaus häufiger, als ich es gewohnt war. Sharni nahm mich mit nach unten zum Pool, um ein wenig zu schwimmen. So viel Freizeit war mir neu, aber ich genoss es. Als wir wieder trocken waren, ging sie mit mir sogar in die Kantine, um ein Eis zu kaufen. Während wir unser Eis aßen, zeigte sie mir Spencer, einen Jungen, für den sie schwärmte. Er wirkte ein bisschen dämlich, allerdings war mir die Vorstellung, für Jungen zu schwärmen, auch völlig neu. Auf der Ranch durften Mädchen keinen Freund haben. Ausgehen durfte man nur, wenn man alt genug war, um auch zu heiraten, also waren Schwärmereien überflüssig. Flirten konnte einen in Schwierigkeiten bringen und sogar für eine Rückstufung in den Ethik-Zuständen sorgen.

Am späten Nachmittag gingen Sharni und ich wieder hinauf in die Wohnung. Ich rief meine Mom im Büro an und erklärte, ich würde früh schlafen gehen. Ich hoffte, dass sie schon bald nach Hause käme. Ich wollte nicht nur mit ihr zusammen sein, sondern hatte ehrlich gesagt auch Angst, allein zu schlafen. Zwar gab es in Florida keine Kojoten, trotzdem war es mir unheimlich, normalerweise schlief ich nachts mit sieben anderen Mädchen in einem Zimmer. Mom musste noch arbeiten, aber Sharni war bereit, noch eine Weile bei mir zu bleiben. Mom kam immer so spät nach Hause, dass ich sie erst am nächsten Morgen wieder sah.

Am nächsten Tag wurde ich von Sharni geweckt. Sie schüttelte sanft meine Schulter und flüsterte: »Aufstehen«. Das war etwas ganz anderes als der übliche ohrenbetäubende Weckruf auf der Ranch. Außerdem hatte ich ausschlafen dürfen, es war schon acht Uhr.

Ich ging in die Küche und entdeckte, dass meine Mom im Bademantel vor dem Fernseher saß. Ich war etwas überrascht, dass sie so gemütlich fernsah, weil es eigentlich gegen die Sea Org-Regeln verstieß, zumindest in der Int. Sie sah sich irgendwelche Musikvideos auf VH1 an und erzählte mir, das sei ihr Lieblingsprogramm, das sie jeden Morgen beim Frühstück sehe. Für mich war Fernsehen das Allergrößte. Eigentlich durfte ich am Wochenende, aber tatsächlich hatte ich seit meiner Abreise aus L. A. nicht mehr ferngesehen.

Sharni hatte eine Schüssel mit warmem Getreidebrei, einen Teller mit zwei pochierten Eiern und Toastbrot auf den Esszimmertisch gestellt. Auf der Ranch durften nur Erwachsene Toastbrot essen, weil es nur einen Toaster gab. Als ich gefrühstückt hatte, machte sich Mom in ihrem Zimmer fertig. Ich sah ihr zu, wie sie ihre Haare föhnte und aufdrehte. Sie war so hübsch und sah so modern aus, ich bewunderte alles an ihr, als wäre sie ein Filmstar mit einem glamourösen Leben in Florida, von dem ich keine Ahnung hatte. Ihr Leben bestand aus Arbeit und Freunden, sie wurde bedient und umsorgt, verwöhnte sich selbst und arbeitete hart für das höhere Wohl.

Als ihre Frisur fertig war, zog sie ihre Uniform an. Sie trug besondere Hemden aus ägyptischer Baumwolle, die nur für Führungskräfte vorgesehen waren, während alle anderen Hemden aus einer Baumwoll-Polyester-Mischung trugen. Auf ihrem CMO-Int-Jackett war nicht nur ihr Name eingestickt, es hatte auch Schulterklappen, die meine Mom deutlich sichtbar als Offizier auswiesen. Ihr Anblick inspirierte mich sehr. Sie hatte sich den Rang eines Lieutenant Junior Grade verdient, das war der dritthöchste Rang in der Sea Org.

Ich zog mich ebenfalls an, weil Mom erklärte, ich würde mit zum WB kommen. Auf dem Parkplatz stiegen zahlreiche Angestellte in frisch gebügelten Hemden und dunklen Hosen in die Sea Org-Busse, die sie zur Base im Zentrum von Clearwater brachten. Die Hacienda Gardens lagen drei Meilen östlich davon, und da Sea Org-Mitglieder in der Regel keinen eigenen Wagen hatten, fuhren sie mit dem Bus zur Arbeit. Es waren zehn blau-weiße Busse, alle mit der schwarzen Aufschrift Flag auf der Seite, die die Angestellten zu den kircheneigenen Gebäuden brachten. Alle auf dem Parkplatz trugen Uniform, entweder weiße oder hellblaue Hemden und dunkelblaue Hosen oder hellbraune Hemden mit dunkelbraunen Hosen.

In Clearwater war Scientology sehr präsent. Die Kirche besaß bereits viele Gebäude und erwarb ständig neue. Das Fort Harrison Hotel mit seiner mediterran anmutenden Architektur und den weißgetünchten Wänden war eines der Wahrzeichen in Clearwater. Es hatte eine prächtige Marmorlobby, elf Stockwerke, drei Restaurants – das Hibiscus, das Garden und das Lemon Tree –, einen Swimmingpool, einen Ballsaal, zahlreiche Büros und Auditing-Räume. Dort bekamen Außenstehende ihr Auditing.

Auf derselben Straße wie das Fort Harrison stand das Coachman Building, wo alle Ausbildungskurse abgehalten wurden. Es hatte ein fünf Stockwerke hohes Glasatrium mit einem gewölbten Dach, das sich über das gesamte Gebäude erstreckte und es in zwei Hälften teilte. Die meisten Gebäude der Kirche befanden sich nicht weit entfernt voneinander und unterschieden sich in Schönheit und luxuriöser Ausstattung stark von der Ranch.

Die Fahrt zu Moms Büro dauerte nur zehn Minuten, aber ich genoss es, im Wagen zu sitzen und die ganz normale Welt mit anderen Autos und Schnellstraßen zu beobachten. So etwas bekam ich sonst kaum zu sehen. Ich fand Florida mit seinen Palmen, den Einkaufsmeilen und den vielen geschäftig wirkenden Menschen viel aufregender als Hemet.

Diese tägliche Fahrt mit Mom war eine der seltenen Gelegenheiten während meines Aufenthalts, an denen ich sie sah. Ansonsten traf ich sie nur noch zum Mittagessen und manchmal zum Abendessen und spätnachts, je nachdem, wann sie nach Hause kam. Ich fand es nicht seltsam, dass sie so viel zu tun hatte, schließlich bestand auch mein Leben fast nur aus Arbeit. Sie und Dad hatten zwar verschiedene Jobs und verschiedene Verantwortungsbereiche, aber ihre Hingabe an die Sache war die gleiche. Auch wenn ich eine lange Strecke zurückgelegt hatte, um sie zu sehen, änderte das nichts an ihrem Pflichtbewusstsein.

Rückblickend fällt es mir schwer, das Leben meiner Mom auf der Flag und meines auf der Ranch in Einklang zu bringen. Unsere Erfahrungen unterschieden sich so stark, dass sie völlig unterschiedlichen Leben zu entstammen schienen. Es war schwer zu begreifen, dass sie als Mutter so viel komfortabler lebte als ihr Kind. Das betraf nicht nur die offensichtlich anderen Lebensumstände, sondern auch die Freiheit, die sie in Clearwater hatte und die es auf der Ranch einfach nicht gab. Sie musste weder körperlich arbeiten, noch wurde sie täglich mit dem E-Meter gecheckt oder angeschrien. Sie brauchte auch nicht jedes Mal um Erlaubnis zu fragen, wenn sie auf die Toilette musste, was ich, aus reiner Gewohnheit, bis zum heutigen Tag tue.

Sie hat es sicher nicht so empfunden. Für sie war das weder Vernachlässigung noch Bevorzugung gegenüber ihren Kindern. Sie hatte sich einer Sache verpflichtet, die größer war als sie oder ihre Familie, und nahm nun alle Konsequenzen auf sich. Sie ging wirklich davon aus, dass wir auf der Ranch gut versorgt waren, obwohl sie nie nachfragte, wie mein Leben dort wirklich war. Wenn sie es wusste, dann muss sie wohl damit einverstanden gewesen sein.

Als ich mitbekam, wie ihr Leben in der Flag aussah, empfand ich weder Groll noch Neid. Ich wollte mich vielmehr darum bemühen, eine Möglichkeit zu finden, die Ranch zu verlassen und wie meine Mutter zu leben. Für mich war die Reise die Bestätigung dafür, dass man in der Sea Org tatsächlich ein vollkommen anderes Leben führen konnte. Was ich von meiner Reise vor allem in Erinnerung behielt, war der Luxus. In der Int Base durfte mein Vater seine eigene Bettdecke haben oder Kekse, wann immer er welche wollte – das war beides auf der Ranch verboten. Meine Mom hatte in ihrer Wohnung nicht nur das, sondern viel, viel mehr.

Wie ich schon lange vermutet hatte, bestand das Leben in der Sea Org nicht nur aus Decks und dem endlosen Clearing von Begriffen. Auf mich wartete eine bessere Zukunft. Ich musste nur meine Pflichten erfüllen, dann würde ich auch irgendwann die Ranch verlassen können. Moms Leben in Clearwater hatte mir einen kleinen Einblick in meine eigene Zukunft gegeben, und Bäumepflanzen und Steineschleppen gehörten dazu sicherlich nicht. Ich glaubte, wenn ich nur hingebungsvoll und hart genug arbeiten würde, könnte mein Leben irgendwann auch so aussehen.

Letztlich hatte ich eine wunderbare Woche in Florida. Ich verbrachte die meiste Zeit mit Sharni, mit der ich gerne zusammen war, und mit Grandma Loretta, die mir einen Karaoke-Apparat schenkte. Da ich die streng durchgeplante Routine auf der Ranch hasste, wäre mir jede Pause willkommen gewesen, aber die vielen Annehmlichkeiten – das großartige Essen, das Schwimmen im Pool, das schöne Zimmer in der Hacienda – ließen meine Ferien einfach sensationell werden. Das Beste von allem jedoch war, dass es keine Decks gab. Ohne schlechtes Gewissen genoss ich die freie Zeit und wünschte nur, die Woche möge nie enden.

Die Rückkehr zur Ranch war schwer. Es gab keine Eingewöhnungsphase, am ersten Abend musste ich mir bereits mit sechzehn Mädchen ein Bad teilen. Der nächste Morgen war noch schlimmer: Uniform, Schlafsaalinspektion, Decks und die übliche Routine. Glücklicherweise hörte ich nach nur wenigen Wochen, dass ich wieder verreisen würde: Meine ganze Familie wollte nach Pennsylvania, um den sechzigsten Hochzeitstag meiner Urgroßeltern zu feiern. Dad und ich flogen aus L. A. ein, und da Justin gerade in Florida bei Mom war, kamen sie zusammen. Alle waren da: Grandpa Ron und seine Frau Becky, Onkel Dave und Tante Shelly, Dads Schwestern Lori und Denise mit ihren Familien.

Nach der Feier machten Mom, Dad, Justin und ich zum ersten Mal gemeinsam Urlaub. Zuerst ging die Reise zum Knoebels Amusement Resort in Pennsylvania, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben Pirogen aß. Obwohl ich in Gegenwart von Wogs immer etwas gehemmt war, hatte ich bei den seltenen Ausflügen der Ranch zumindest gelernt, wie ich mich verhalten musste. Ob wir nun in Disneyland oder im Ballett waren, immer hatte man äußerst sorgfältig darauf geachtet, dass wir so wenig wie möglich mit der Wog-Welt in Kontakt kamen. Im Freizeitpark Knoebels war das zwar etwas anderes, da ich nur mit meiner Familie zusammen war, aber ich genoss meine Freiheit sehr.

Dann fuhren wir weiter nach Osten und aßen in einem Restaurant Meatball Heroes, die ihren Namen dem Außenfeldspieler Lenny Dykstra von den Philadelphia Phillies verdankten. Weiter ging es quer durch den Staat New York und dann nach Nordosten durch Vermont nach New Hampshire, wo wir bei Tante Lori und ihrer Familie und Dads Mutter, Grandma Loretta, wohnten, und zwar genau in dem alten Haus, das meine Eltern verlassen hatten, als sie zur Sea Org gegangen waren.

Als ich mich im Haus umsah, stellte ich mir vor, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn meine Eltern hiergeblieben wären. Unsere Verwandten waren alle öffentliche Scientologen, und ich wäre wohl genau wie sie aufgewachsen. Hier wäre mein Zuhause gewesen. Als ich das Zimmer meiner Cousine Chrissie sah, dachte ich, das wären wohl mein Zimmer und mein Bett gewesen, und auch ihr Schrank mit den Rüschenkleidern in allen Farben wäre wohl meiner gewesen. Ihr Leben hätte meines sein können.

Neben all den Unterschieden gab es aber noch ein paar Kleinigkeiten, die mir besonders auffielen: In New Hampshire wohnten wir auch bei Tante Denise, deren Haus einfach umwerfend war. Taylor und Whitney, Denise älteste Töchter, hatten ein unglaubliches Schlafzimmer mit riesigen Panoramascheiben und Dachfenstern, dazu unzählige Puppen und einen eigenen Fernseher. Es kam mir vor wie das reinste Paradies, aber ich war nicht neidisch, ich vergaß meinen Platz in der Kirche nie. Ich wuchs als Sea Org-Mitglied heran und hatte eine Mission zu erfüllen, die weitaus bedeutender war als der Besitz von Spielzeug. Obwohl es schön gewesen wäre, auch etwas mehr zum Spielen zu haben, war es doch meine Pflicht, wie meine Eltern der Menschheit zu dienen, und es kam mir fast etwas selbstsüchtig vor, wenn man so viel Spielzeug für sich allein hatte. Zumindest redete ich mir das ein.

Bei unserem Besuch pflückten Chrissie und ich nur zum Vergnügen Beeren in ihrem Garten. Ich fand das komisch, denn auf der Ranch war jede einzelne Tätigkeit eine Pflicht. Eines Tages stritten meine Cousinen im Wagen darüber, wer neben mir sitzen durfte. Das schmeichelte mir zwar, aber ich staunte auch, weil wir uns auf der Ranch nie so kindisch benahmen. Mir kam das Benehmen meiner Cousinen etwas lächerlich vor. Auf der Ranch wäre ein solches Verhalten nicht geduldet worden, und daher hatte ich so etwas auch noch nie erlebt. Ich wusste nicht, dass die meisten Kinder so miteinander zankten. Ich wusste nicht, was normal war.