DER KREIS SCHLIESST SICH

Ohne mich damit aufzuhalten, Titus die Seite zurückzubringen, fand ich mich unversehens auf der Straße wieder. Ich war entschlossen, mich auf den Weg ins Zentrum zu machen, und zwar zu Fuß.

Es war eine dieser Entscheidungen, die man erst viel später begreift. Meiner Intuition und dem Leitmotiv des Tages folgend: »Heute kann alles passieren«, beschloss ich, zum Plattenladen zu gehen.

Mit Titus’ Rückkehr, Valdemars Verschwinden und der Entdeckung des Manuskripts gab es genügend Fragezeichen in meinem Leben, sodass ich das Bedürfnis hatte, wenigstens eine Angelegenheit zu klären, die ausschließlich von mir abhing. Da ich Gabriela beleidigt hatte, musste ich sie um Verzeihung bitten. Nur so konnte ich diese schmerzhafte Geschichte endlich abschließen.

Diesmal wollte ich mich nicht verstellen, wollte nichts inszenieren. Ich würde einfach nur in den Plattenladen gehen, mich bei Gabriela für mein Verhalten entschuldigen und ihr alles Gute wünschen. Damit wäre ein Stück Ordnung wiederhergestellt. Früher oder später würde die Wunde der Liebe sich schließen, und ich konnte zu meiner einsamen Ruhe zurückfinden.

 

Als ich ankam, ließ Gabriela gerade das Metallgitter herunter. Aus Sorge, ich könnte ihr zu nahe treten, blieb ich in einiger Entfernung stehen. Bevor sie mich entdeckte, wappnete ich mich mit aller serenitas der Welt und wiederholte im Stillen die Entschuldigung, die ich auf dem Weg hierher vorbereitet hatte.

Doch als sie sich umdrehte und mich aus ihren Mandelaugen ein flammender Blick traf, blieb ich stumm. Ich wollte eben zu meinem kleinen Vortrag ansetzen, als sie mir zuvorkam: »Ich rufe seit gestern laufend bei dir an und die ganze Zeit ist besetzt«, sagte sie. »Warum machst du so was? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, weißt du?«

Verblüfft schaute ich sie an, dann fiel mir ein, dass ich zwei Tage vorher während des Kaffeetrinkens mit Meritxell den Stecker von Telefon und Anrufbeantworter gezogen hatte. So etwas kann nur jemandem passieren, der nie angerufen wird.

»Ist auch egal«, sagte sie, als ich nicht antwortete, »Hauptsache, du bist okay. Ich hatte schon Angst, dass du irgendeinen Unsinn angestellt hast.«

»Na ja, habe ich irgendwie auch«, erwiderte ich, während wir die Ramblas hinuntergingen. »Ich bin zu Fuß durch die ganze Stadt bis zum Tibidabo marschiert, bis in den Wald hinauf.«

»Und dann?«

»Dann bin ich wieder runtergeklettert.«

»Na, das war ja ein Abenteuer!«, spottete sie.

»Bei mir sind eben auch die Abenteuer von anderem Kaliber: alles im Kleinformat.«

Schweigend schlenderten wir weiter, um uns herum der übliche Trubel der meistbevölkerten Straße der Welt. Was zum Teufel machten wir hier? Gab es denn keine besseren Orte zum Spazierengehen in Barcelona?

Wie als Antwort auf meine Frage nahm mich Gabriela in dem Augenblick bei der Hand und zog mich aus der Menschenmenge. Jetzt war ich es, der sich willenlos mitschleifen ließ, während sie sanft meine Finger drückte, wie ein kleines Mädchen, das etwas entdeckt hat und es schnell zeigen will.

Wir traten durch ein großes Steinportal, durch das man zum Eingang einer Kunstbuchhandlung gelangte. Ein Plakat wies auf eine Frida-Kahlo-Ausstellung hin. Es zeigt eine aufgeschnittene Wassermelone, in die mit dem Messer VIVA LA VIDA geritzt ist.

»Willst du die Ausstellung sehen?«, fragte ich und schloss meine Hand um ihre.

»Ich möchte dir etwas anderes zeigen«, entgegnete sie und zog mich durch das Portal weiter nach hinten und dann nach rechts in einen Gang, wo es dunkel und feucht war und wir uns ducken mussten.

Ehe ich michs versah, fand ich mich plötzlich, zusammengekauert neben Gabriela, unter derselben Treppe, unter der wir uns vor dreißig Jahren kennengelernt hatten. Wie waren wir hierher gelangt? Ich hatte die alte Villa, die offenbar zu einem Ausstellungsraum umgebaut worden war, nicht gleich erkannt. Außerdem war in meiner Erinnerung alles viel größer.

Gabriela sah mich verschmitzt an, und plötzlich fragte ich mich: Hatte sie mich die ganze Zeit über getäuscht und erinnerte sich in Wirklichkeit genauso daran wie ich? Oder hatte sie auch einen Offenbarungstraum gehabt, wie ich den mit dem Manuskript?

Mit flachem Atem unterdrückte ich meine Fragen, denn ich hatte gelernt, in solchen Momenten mit Gabriela lieber zu schweigen. Wie Mendelssohn sagte: Die wirklich wichtigen Dinge lassen sich mit Worten nicht ausdrücken.

»Mach die Augen zu«, flüsterte Gabriela mir in dem Halbdunkel zu und näherte ihr Gesicht dem meinen.

Ich tat, wie mir geheißen, und eine Sekunde später streifte ein kaum merklicher Flügelschlag meine Wange. Der Kreis hatte sich geschlossen.

Ich öffnete die Augen und fürchtete, aus einem Traum zu erwachen. Doch Gabriela war immer noch da und lächelte mir herausfordernd zu. Ich sagte: »Ich nehme an, hier ist die Geschichte zu Ende.«

»Im Gegenteil, sie fängt erst an«, sagte sie, während ihre Lippen sich langsam auf meine zubewegten.