VORLÄUFIGES INHALTSVERZEICHNIS
Die Begegnung mit dem Bärtigen und seinem Manuskript hatte mich in größte Unruhe versetzt, als würde es nicht ohne Folgen bleiben, dass ich etwas gelesen hatte, was nicht für mich bestimmt war.
Aber was war es eigentlich, das ich da gelesen hatte?
Womöglich hatte mein kühner Schritt einen Orkan von kleinen Ereignissen entfesselt – der Schmetterlingseffekt –, deren zerstörerische Konsequenzen erst sichtbar würden, wenn alles zu spät war.
Das jedenfalls dachte ich im Nachhinein. Ich hätte der Sache wahrscheinlich keine weitere Bedeutung beigemessen, hätte ich nicht, während ich mir zu Hause mein Mittagessen kochte, das Radio eingeschaltet.
Ich drehte auf der Suche nach einem Sender mit guter Musik am Rädchen, als die Klänge einer Siebzigerjahre-Gitarre mich innehalten ließen. Normalerweise höre ich lieber klassische Musik oder Jazz, aber es gibt auch ein paar Rock-Klassiker, die mir gefallen, unter anderem auch Pink Floyd, die hier gerade gespielt wurden.
Mit lässiger, tiefer Stimme kommentierte der Sprecher die Platte:
... Eines der symbolträchtigsten Alben aller Zeiten, fünfundzwanzig Millionen verkaufte Exemplare seit seinem Erscheinen 1973. Nachdem sie das Material live vorgestellt hatten, schloss sich die Band in den legendären Abbey Road Studios ein. Als Toningenieur engagierten sie Alan Parsons, der mit der neuen Dolby-Technik auf 16 Spuren ein wahres Meisterwerk vollbrachte. Eine Aufnahme voller Überraschungen. Wir freuen uns, unseren Hörern die neu abgemischte Version des Klassikers Dark Side of the Moon präsentieren zu können ...
Mir wurde wieder flau, und so schloss ich mich in Titus’ Arbeitszimmer ein, um diese Geschichte schnell zu vergessen. Wenigstens solange ich mich mit der Arbeit an dem Buch herumschlug, war ich vor diesem Schattenraum sicher, der sich immer mehr über mir ausbreitete.
»Der Zufall ist der Schatten Gottes«, hatte Titus gesagt.
»Bitte keine Schatten mehr«, murmelte ich in mich hinein, während ich den Laptop einschaltete.
Mishima war mir ganz selbstverständlich gefolgt und schlummerte nun unter dem Tisch mit der Eisenbahn. Ein kleiner Ofen heizte ordentlich ein und verströmte dabei betäubende Gase.
Auf dem Desktop fand ich eine Datei mit dem Namen Kleiner Lehrgang in Alltagsmagie. Beim Öffnen des Dokuments stellte ich fest, dass sie außer dem Titel kaum Text enthielt.
Diese Anthologie schrieb Titus unter dem Namen Francis Amalfi, einem seiner zahlreichen Pseudonyme. Da das Buch nun mein Job war, war dies nun auch mein Pseudonym, meine zweite Persönlichkeit.
Ich scrollte herunter bis zum Inhaltsverzeichnis. Das war alles, was Titus bislang zu Papier gebracht hatte, der Rest des Dokuments bestand aus leeren Seiten. In der vagen Hoffnung, dass mir dazu irgendetwas Passendes einfallen würde, las ich mir die Überschriften der Kapitel durch:
Inhaltsverzeichnis (vorläufig)
0. Vorwort: Willkommen in der Magie des Alltags
1. Die Schätze der Einsamkeit
2. Tägliche Streicheleinheiten für die Seele
3. Die Blumen des Zufalls
4. Das Herz in der Hand
Das ist nicht allzu viel, dachte ich seufzend und war bereits bei dem Gedanken an die Aufgabe, die mir bevorstand, vollkommen erschöpft. Nicht einmal das Inhaltsverzeichnis war fertig, und Titus erwartete jetzt von mir, dass ich ein ganzes Buch mit nicht einmal fest definierten Inhalten füllte.
Als pragmatischer Mensch beschloss ich, zuerst das Inhaltsverzeichnis zu vollenden und dann mit dem eigentlichen Text zu beginnen. Ich tippte eine 5 und starrte auf die leere Zeile daneben, als könnte dort plötzlich aus dem Nichts etwas auftauchen. Ein unvermittelter Maunzer von Mishima weckte mich aus meinem dumpfen Brüten.
»Danke für den Tipp«, sagte ich zu ihr und schrieb die nächste Überschrift:
5. Katzenphilosophie
Vielleicht war das nicht unbedingt brillant, aber ich fand es lustig, dieses Kapitel einer Katze zu überlassen, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, was darin stehen sollte.
Motiviert von diesem ersten Erfolg widmete ich mich Punkt Nummer sechs und überlegte, dass es schön wäre, auch irgendeine Art Wörterbuch mit aufzunehmen. Ich könnte ein paar Einträge aus They have a word for it verwenden, wenn mir nichts anderes einfiel. Vorerst nannte ich das Kapitel:
6. Die Geheimsprache
»Das klingt gut«, beglückwünschte ich mich begeistert. Bekanntlich führt eins zum anderen, und so schrieb ich, fast ohne es zu merken, die Überschrift des letzten Kapitels, die das Inhaltsverzeichnis abschloss:
7. Liebe im Kleinen
Stolz betrachtete ich die Nummer sieben, die ja meine ureigene Erfindung war. Vielleicht war es deshalb das einzige Kapitel, zu dem ich eine klare Vorstellung hatte. Zuerst sollte es eine Einführung zur »Kraft der kleinen Taten« geben, dann käme eine Liste mit den Dingen, die die »Liebe im Kleinen« auslösen.
Ans Ende des Dokuments schrieb ich:
#1. Einer Katze Milch geben (obwohl sie das nicht verträgt)
Das erinnerte mich daran, dass ich zum Tierarzt musste, um Mishima impfen zu lassen. Dort erwartete mich die attraktive Frau mit der harten Schale und dem weichen Kern. So jedenfalls kam sie mir vor.
Als ich den Computer ausschaltete, überkam mich eine unfassbare Müdigkeit, die mehr existenziell als physisch war. Besonders weit war ich nicht gekommen, und ich zweifelte daran, dass die ganze Arbeit überhaupt einen Sinn hatte.
Dicht gefolgt von der Katze blieb ich einen Augenblick vor dem Bild des Wanderers stehen, das für mich eine Art Spiegel geworden war.
»Wenn sich der Nebel lichtet, sag mir Bescheid.«