DER GEHEIME GARTEN
Als ich am nächsten Tag erneut auf dem Weg zu dem Café an der Carrer Bergara war, galoppierten in meinem Kopf immer noch die wilden Pferde herum, die Marilyn im Film zu retten versuchte. Der Kinoabend hatte in mir die Lust geweckt, mir weitere Filmklassiker noch einmal anzuschauen, wofür ich jedoch leider keine Zeit hatte.
Immerhin hielt mich die Erinnerung an Vittorio de Sicas Fahrraddiebe, ein Juwel des italienischen Neorealismus, davon ab, eine Dummheit zu begehen.
Da ich im Grunde nicht daran glaubte, dass es sinnvoll war, sich erneut in dem Café auf die Lauer zu legen, hatte ich in meiner Verzweiflung tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, zu einem Wahrsager zu gehen, der mich auf Gabrielas Spur bringen sollte. Ich hatte mal gelesen, dass die Polizei in Entführungs- oder Vermisstenfällen mitunter Hellseher beschäftigt. Mit Hilfe eines Pendels können diese dann beispielsweise den möglichen Aufenthaltsort einer vermissten Person ausfindig machen.
Dann aber war mir eine Szene aus den Fahrraddieben eingefallen. Als dem Protagonisten sein Rad gestohlen wird, das er fürs Plakatekleben – seinen einzigen Lebensunterhalt – braucht, sucht er eine Wahrsagerin auf, die ihm helfen soll, es zurückzubekommen. Der arme Junge gibt sein letztes Geld aus, um die spektakuläre Antwort zu erhalten: »Entweder du findest es bald, oder du findest es niemals mehr.«
Das Café war definitiv die bessere Variante.
Als ich mich dem Café näherte und von Weitem an einem der Tische eine Gestalt erkannte, wurde mir flau im Magen. Bloß das nicht, dachte ich. Der schwarze Hut und der weiße Schal ließen keinen Zweifel: Es war der komische Kauz vom Tag zuvor.
Einen Augenblick lang dachte ich daran, auf dem Absatz kehrtzumachen und diesen Ort in Zukunft zu meiden. Doch der Bärtige schien so sehr in sein Manuskript vertieft, dass er meine Anwesenheit vielleicht nicht einmal bemerken würde. Und tatsächlich, als ich erneut an dem mittleren Tisch Platz nahm, hob er nicht einmal den Blick. Erleichtert atmete ich auf. Ich bestellte einen Vermouth, den ich sicherheitshalber direkt bezahlte. Falls Gabriela die Ampel in Richtung Eisenbahnladen überquerte, könnte ich sofort aufbrechen.
An jenem Donnerstagmittag schien der Lärm der Autos und Fußgänger lauter als gewöhnlich, sodass ich mich bei meiner Detektivarbeit voll konzentrieren musste. Ich war so sehr mit den Leuten beschäftigt, die an mir vorübergingen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass der Bärtige gegangen war und sein Manuskript auf dem Tisch hatte liegen lassen.
Es wäre richtig gewesen, das Buch dem Kellner zu geben. Der Mann war vermutlich ein Stammgast in dem Café, also würde er es bald wiederbekommen. Doch als ich es in der Hand hielt, konnte ich es mir nicht verknei fen, einen Blick hineinzuwerfen. Ob aus Neugier oder vielleicht auch einfach aus Langeweile, weiß ich nicht. Jedenfalls kehrte ich mit dem Manuskript zu meinem Platz zurück und begann darin zu blättern.
Das Buch begann mit einer Art Vorwort oder Grundsatzerklärung:
Alles Licht hat seinen Schatten. Die vermeintlich harmlosesten Menschen halten eine Welt in sich verborgen, in der unvorstellbare Dinge geschehen. Wenn wir durch Zufall dort hineingeraten, überkommt uns ein Gefühl von Unruhe und Furcht, als dringe man in einen fremden Garten ein.
Plötzlich stellen wir fest, dass wir etwas, das schon immer da war, noch nie bemerkt haben. Der nächste Schritt besteht darin, das Territorium des Zweifels auf angrenzende Felder auszudehnen. Von da an kann die Schattenregion uns an nie gedachte Orte führen. Letzten Endes ist die Unterseite der Münze genauso groß wie die Oberseite.
Vielleicht entdeckst du, dass du keine Ahnung hattest, wer an deiner Seite lebt, oder dass du bisher die Augen zugemacht hast, um es nicht zu sehen. Und du wünschtest, du hättest diese erste Entdeckung, die dich aus dem bequemen Alltagstrott gerissen hat, niemals gemacht.
Darum ist es manchmal ratsam, nicht alles wissen zu wollen.
Einen Moment lang saß ich verwirrt da und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Diese Einführung erklärte nicht im Geringsten, auf was das Ganze abzielte.
Meine Neugier war geweckt und ich wollte gerade weiterlesen, als ich zufällig aufsah. Der Bärtige kam mit zornigem Schritt über die Straße gestapft. Zwar war es offensichtlich, dass seine Wut nicht mir galt – er sah mich nicht einmal an –, sondern sich selbst, weil er das Manuskript auf dem Tisch vergessen hatte. Dennoch bekam ich es mit der Angst, legte das Manuskript auf seinen Tisch zurück und machte, dass ich wegkam. Ich drehte mich nicht noch einmal um.