DER FAHRSTUHL
Der schwarz gekleidete junge Mann überquerte eilig die Carrer Pelai, ging weiter bis zur Avinguda Portal de l’Àngel, wo er dann rechts in Richtung Kathedrale abbog.
Ich folgte ihm mit einigem Abstand wie ein professioneller Detektiv, der einen kniffligen Fall zu lösen sucht. In Wahrheit versuchte ich mit dieser Verfolgung den Schmerz über den Verlust von Gabriela zu vergessen. Alle großen Detektive haben eine schmerzhafte Vergangenheit, die sie hinter sich lassen wollen. Und die Gefahr oder vielmehr das Herumschnüffeln in fremden Leben ist das beste Betäubungsmittel.
Der Siebzehn-Minuten-Mann war an der Kathedrale angelangt, auf deren Turmspitze der Mond aufgespießt schien wie eine riesige milchige Frucht. Der Weg des Unbekannten führte unter einer gotischen Brücke hindurch in eine schmale Seitengasse. Die Straße war menschenleer, daher ließ ich ihm etwas mehr Vorsprung und gab mir Mühe, meine Schritte auf den tausend Jahre alten Pflastersteinen nicht zu laut aufhallen zu lassen. Auch er verlangsamte seinen Schritt, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an, während er zum Himmel aufsah. Wir überquerten den Platz mit dem Rathaus und dem Regierungspalast und nahmen dann eine Straße, die zum Hafen hinunterführt. Noch vor dem Hafen bog der rätselhafte Rotschopf links in die Bellafilla-Gasse ein. Einen Moment lang blieb er vor einer erleuchteten Tür stehen, durch die er dann verschwand.
Jetzt konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun stand ich vor einer Tür, die sich als Eingang zu einer Cocktailbar namens El Ascensor herausstellte. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, denn der Eingangsbereich war ein alter Mahagoni-Fahrstuhl mit Schiebetür aus dem letzten Jahrhundert.
Einen Moment lang kam mir die Schlussszene des Films Angel Heart in den Kopf, in der Mickey Rourke mit dem Fahrstuhl in die Hölle hinabfährt.
Etwas unschlüssig trat ich ein. Durch die Schiebetür gelangte man in ein kleines Café mit Spiegeln und Marmortischen. Sämtliche Tische waren von jungen Leuten belegt, die im Fin-de-siècle-Ambiente ihre Cocktails schlürften. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, und stellte mich erst einmal an die Bar. Mickey Rourkes zynische Selbstgewissheit fehlte mir, zudem machte mir auch langsam die Müdigkeit zu schaffen.
Doch ehe ich auch nur ein Bier bestellen konnte, kam der schwarz gekleidete Rothaarige mit wenig freundschaftlicher Miene auf mich zu und ließ zwei junge Schönheiten an seinem Tisch zurück.
Seine Begleiterinnen, die kaum älter als zwanzig waren, beobachteten die Szene gespannt und amüsiert. Die eine rief ihm etwas hinterher, das klang wie »Mensch, lass ihn doch!«.
Ich lehnte am Tresen und hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte, um eine eventuell unangenehme Szene zu vermeiden. Bevor ich mir etwas zurechtlegen konnte, fragte der Rothaarige in höflichem, aber bestimmtem Ton: »Verfolgen Sie mich?«
Die einzige Antwort, die mir einfiel, war alles andere als kinotauglich: »Ja.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Ich helfe einem Freund bei einer Studie zur Stadtanthropologie«, erklärte ich prompt, was ja nur halb gelogen war. »Wir untersuchen die Gewohnheiten des Tresentiers, insbesondere bei Gästen, die festgelegten Ritualen folgen, wie Sie.«
Mit verschränkten Armen baute er sich vor mir auf, als warte er auf die Verkündung eines Urteils. Doch sein verhaltenes Lächeln sagte mir, dass dieser Typ vollkommen harmlos war und sich auf meine Kosten amüsierte.
Er tat hellauf empört und fragte: »Wie kommen Sie darauf, ich sei einer von diesen Menschen?«
»Wir sind Stammgäste im selben Lokal. Übrigens haben Sie es meinem Eingreifen zu verdanken, dass Sie heute überhaupt Ihr Bier trinken konnten ... in siebzehn Minuten.«
Diese Bemerkung schien ihn endgültig zu entwaffnen, denn er lachte breit und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter.
»Setzen Sie sich doch auf ein Glas zu uns.«
An dem kleinen Tisch war kein Stuhl mehr frei. Als sie uns zusammen kommen sah, erhob sich das eine Mädchen, eine Brünette mit kantigem Gesicht, und sagte: »Sie können meinen Platz nehmen. Ich muss in fünf Stunden aufstehen.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, fand ich mich zwischen einer Kleinen mit blauen Augen und dem Rothaarigen, der mit einem Fingerschnipsen den Kellner heran rief. Zu meiner großen Überraschung sagte das Mädchen: »Rubén, darf ich dir Samuel de Juan vorstellen.«
Ich war vollkommen perplex. Es ist beunruhigend, wenn einen jemand erkennt, den man noch nie zuvor gesehen hat. Eine peinliche Frage wie »Und wer bist du?« wollte ich unbedingt vermeiden, deshalb wartete ich ab, dass mich irgendein Hinweis auf die richtige Spur führen würde.
»Mein Dozent für Gegenwartsliteratur«, sagte sie lächelnd. »Wir müssen ihn betrunken machen, damit er sich irgendwie danebenbenimmt. Dann muss er mir eine gute Note in der Klausur geben, um sich mein Schweigen zu erkaufen.«
Plötzlich ging mir ein Licht auf: die kleine Besserwisserin aus dem Überblickskurs. Ohne ihre Nickelbrille hatte ich sie nicht erkannt. Ihre kurzsichtigen tiefblauen Augen verliehen ihr etwas Zerbrechliches, das gar nicht zu der Studentin passte, die ich kannte.
»Das wird nicht nötig sein, die hast du ja schon sicher«, lachte ich. »In ein paar Tagen werden die Noten ausgehängt.«
Offenbar war sie etwas angetrunken, jedenfalls stürzte sie sich auf mich und gab mir einen schmatzenden Kuss auf die Wange, der mir den Atem verschlug. Glücklicherweise kam in diesem Moment der Kellner und rettete mich vor einem Erstickungsanfall.
»Drei Aquavit auf Eis«, sagte der Typ namens Rubén. Wie selbstverständlich bestellte er für die ganze Runde, ohne vorher auch nur nachzufragen.
»Auf den Erfolg meiner Freundin müssen wir an stoßen.«
Bevor er die Getränke brachte, erkundigte sich der Kellner: »Wollen Sie den Aquavit Linie?«
»Natürlich«, erwiderte Rubén beinahe beleidigt. »Was ist das mit der Linie?«, fragte die Studentin. »Was ist Aquavit?«, fragte ich.
Rubén lachte selbstzufrieden, da seine Bestellung so viel Interesse geweckt hatte. Dann erklärte er in lehrerhaftem Ton: »Aquavit ist ein norwegischer Schnaps, den ich hier einmal mit einem Freund getrunken habe. Es gibt zwei Arten: den normalen und den Linie-Aquavit, der viel teurer ist, weil er erst einmal um die Welt fährt, bevor er abgefüllt wird. Der Schnaps reift im Lagerraum eines Schiffs, das den Äquator überquert. Erst wenn er zweimal die Äquatorlinie gekreuzt hat, bekommt er das offizielle Etikett.«
»Ein wahrer Schnaps von Welt«, lachte die Studentin mit den blauen Augen.
Als der Kellner uns die drei kleinen Gläser hinstellte sagte ich: »Die spinnen, die Norweger.«