DER GONDOLIERE KEHRT ZURÜCK
Eine Woche nach diesem bemerkenswerten und traurigen Nachmittag ließ mich ein erneutes Zeichen aufhorchen. Ich hatte den Vormittag frei und mir vorgenommen, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Im Radio lief mein liebster Klassiksender.
Gerade war ich dabei, einen Stapel Teller von eingetrockneten Essensresten zu befreien, als der Sprecher etwas über Mendelssohns »Lieder ohne Worte« sagte. Ich drehte den Wasserhahn zu und das Radio lauter und hoffte auf irgendeine geheime Botschaft.
... 1828 bekam Fanny, die Lieblingsschwester des Komponisten, von dem damals neunzehnjährigen Mendelssohn ein ›Lied ohne Worte‹ zum Geburtstag geschenkt. Später schrieb er noch weitere kurze Stücke für Klavier. Die erste Sammlung der ›Lieder ohne Worte‹ erschien 1832 und fand bei dem bürgerlichen Publikum jener Zeit enormen Anklang. Trotz der sehr eindeutigen Titelformulierung begann man später, den einzelnen Stücken etwas pathetische Titel zu geben, etwa Verlorene Freude oder andere absurde Namen wie die Bienenhochzeit, überzeugt, in den kurzen Stücken stecke eine Geschichte. Allerdings hat auch Mendelssohn selbst den ›Liedern ohne Worte‹ Namen gegeben – etwa das Venezianische Gondellied, das wir jetzt im Anschluss hören.
Da war es wieder. Ich spitzte die Ohren und schloss die Augen, um mich ganz dem Lied zu widmen.
Doch seltsamerweise kam es mir überhaupt nicht bekannt vor. Es war nicht jenes melancholische Stück aus dem Plattenladen, sondern ein sehr viel langsameres, feierlicheres, wenngleich nicht minder schönes Thema. Ganz sicher war das nicht das Gondellied, das ich kannte. Hatte der Sprecher sich geirrt? Hatte ich fälschlicherweise eine Bienenhochzeit für die Gondelfahrt gehalten? Ein weiteres Rätsel für mein Privatarchiv.
Das Stück klang leise aus, ich saugte den Teppich, und Mishima tollte ausgelassen neben dem lärmenden Gerät her.
»Morgen unterhalten wir beide uns mal«, sagte ich. »Du musst mir bei dem Kapitel über Katzenphilosophie helfen.«
Nachdem die Hausarbeit erledigt war, hatte ich eigentlich nur drei Optionen: zu Hause zu bleiben und zu lesen, mich oben in Titus’ Arbeitszimmer zu setzen oder an die frische Luft zu gehen. Ich schaute auf die Uhr; es war kurz nach zwölf. Die perfekte Zeit für einen Vermouth, sagte ich bei mir, verließ die Wohnung und machte mich auf den Weg zu dem Café, in dem ich seit der vorigen Woche nicht mehr gewesen war.
Kaum hatte ich Gràcia hinter mir gelassen, überkam mich der Wunsch, vorher meinem kranken Nachbarn einen Besuch abzustatten. Auch wenn ich ihm von der Begegnung mit Gabriela würde erzählen müssen. Vielleicht hatte ich ihn gerade deshalb die letzten Tage gemieden und mich in meinen Unterricht und das Buch von Francis Amalfi geflüchtet.
Erschöpft von meinem Hausputz entschied ich mich, ein Taxi zu nehmen, um mich auf dem Weg zu meinem Freund und Beichtvater etwas auszuruhen.
Der Fahrer war ein Mann mit breiten Schultern und grauen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Wie viele Taxifahrer war er in Plauderlaune und gab mir, nachdem ich ihm mein Fahrziel genannt hatte, einen Überblick über die Nachrichten des Tages: »Eine neunzigjährige Frau hat einen Brief aus dem Jahr 1937 erhalten. Die Post ist doch wirklich unschlagbar, was?«
»Ach nein, wirklich?«, antwortete ich mit gespieltem Interesse.
»Sieht so aus. Der Brief war von ihrem Verlobten, von der Ebro-Front. Er ist auf dem Schlachtfeld gefallen, man könnte also sagen, es ist ein Brief aus dem Jenseits.«
»Und was hat die Empfängerin dazu gesagt?«
»Geweint hat sie. Ist ja auch klar, da werden natürlich Erinnerungen hochkommen.«
»Das ist wohl so.«
»Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass so etwas passiert«, fuhr der Taxifahrer mit ungebrochenem Elan fort. »Vor ein paar Jahren wurde in einem Keller ein Sack voller Briefe gefunden, die dort eine Ewigkeit gelagert hatten. Da ist der Postchef ganz schön in Bedrängnis geraten.«
»Und was hat er gesagt?«
»Ziemlichen Blödsinn. Er meinte, keine Sorge, es sei kein Liebesbrief dabei gewesen.«