SERENITAS
Es gibt Leben, in denen passiert zwischen Geburt und Tod überhaupt nichts Bemerkenswertes, und Tage, die reichen für ein ganzes Leben, weil man keinen Augenblick zur Ruhe kommt.
Seit ich aufgestanden war, kam es mir vor, als sollte mein gesamtes Schicksal auf Biegen und Brechen in diesen einen Tag hineingepresst werden. Um in diesem Strudel der Ereignisse nicht unterzugehen, musste ich versuchen, das Tempo zu drosseln. Nach Titus’ Offenbarung war ich mit dem festen Vorsatz in meine Wohnung zurückgekehrt, mir keine Sorgen mehr zu machen. Sollte tatsächlich noch eine Katastrophe eintreffen, würde ich mich dann mit ihr beschäftigen, wenn es so weit war, und nicht früher.
Eine Zeitschrift, die ich abonniert hatte, enthielt einen Artikel über Mendelssohn, der mich dazu anregte, Barenboims Lieder ohne Worte aus ihrer Verbannung hervorzuholen. Ich fläzte mich aufs Sofa und widmete mich der Lektüre, es war ein kleiner literarischer Essay über den Komponisten. Der Autor war ein gewisser Andrés Sánchez Pascual, und der Text schien mir sehr gelungen. Zu Mendelssohns Musik schrieb er:
Der Genuss, den sie vermittelt, ist nicht einfach, trivial oder plump, es ist ein ganz zarter und feiner Genuss, voller Melancholie, und vielleicht am treffendsten mit der lateinischen Vokabel serenitaszu bezeichnen.
Außerdem ging der Artikel auf die Beziehung zwischen Goethe und Mendelssohn ein. Bereits im Alter von zwölf Jahren habe sich der Komponist als begabter Pianist hervorgetan und sei sogar bei einem Besuch beim großen Dichter dazu genötigt worden, täglich acht Stunden zu spielen. Tatsächlich bedurfte es Mendelssohns, um Goethe, Jahre später, zur Musik Beethovens zu bekehren, von dem Goethe nichts hatte wissen wollen.
Aus meinen Boxen tönte bereits das zweite Gondellied, als ich auf eine kuriose Anekdote über die Lieder ohne Worte stieß. Als Mendelssohn 1842 von einem Verwandten seiner Frau gefragt wurde, was er mit diesen Kurzstücken habe ausdrücken wollen, hatte er in einem Brief geantwortet:
Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen [...]. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte.