EINES TAGES FAHREN WIR ZUM MOND

Ich führte ihn durch die schmalen Altstadtgassen des Raval, bis wir an einem kleinen Restaurant, dem Romesco, ankamen, das ich sehr mag. Valdemar hatte den ganzen Weg über geschwiegen und mich meinen Gedanken nachhängen lassen.

Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Au gen, und ich musste über meine eigene Naivität lachen. Es war natürlich kein wundersamer Zufall, dass ich Gabriela wieder in dem Plattenladen gesehen hatte. Sie arbeitete eben dort. Mitunter muss man ein paar Runden drehen, ehe man begreift, was man direkt vor der Nase hat.

Diese Entdeckung hatte etwas Tröstliches, denn nun wusste ich immerhin, wo ich sie finden konnte. Ich musste mich nicht länger in einem Straßencafé auf die Lauer legen. Ich konnte einfach in den Laden gehen. Mein Hauptproblem blieb jedoch das gleiche. Gabriela wusste nicht, wer ich war, in ihren Erinnerungen spielte ich nicht die geringste Rolle. Für sie war ich ein Fremder, das Intimste, was sich zwischen uns abspielen konnte, war der Kauf einer CD.

 

Wir ergatterten den letzten freien Tisch, ehe eine Horde Touristen das Lokal stürmte. Das Essen dort war einfach, also bestellte ich Fisch und Salat und für uns beide zusammen eine Flasche Weißwein.

»Ich habe nicht lange Zeit«, warf Valdemar ein. »Hier geht es immer sehr schnell, keine Sorge. Was hast du denn vor?«

»Ich muss meine Studien fortsetzen.«

»Und worum geht es da?«

Er kostete den Weißwein und tippte ein paarmal mit dem Zeigefinger auf das Manuskript, das auf dem Tisch lag. Dann tupfte er sich den Mund mit der Serviette ab und sagte: »Der Menschheit steht eine wunderbare Zukunft bevor.«

Ich antwortete nicht. Ich hatte – ein weiteres Déjà-vu – das Gefühl, diese absurde Behauptung nicht zum ersten Mal zu hören.

»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, sagte ich schließlich. »Aber was hat das mit dem Buch zu tun?«

»Einiges. Ich schreibe dieses Buch, weil ich nichts anderes mehr tun kann, seit ich Heimweh nach der Zukunft habe.«

»Davon hast du ja bereits erzählt. Du weißt, wo du über kurz oder lang landen wirst, und du freust dich schon darauf, weil es ein Heidenspaß wird. So ist es doch, oder? Und was hat das mit dem Mond zu tun?«

Valdemar spießte ein Stück Fisch mit der Gabel auf und sah es kritisch prüfend an, bevor er es in den Mund schob.

»Dieses Buch hat schon viele Veränderungen durchgemacht. Vielleicht ist es sogar falsch, es überhaupt als Buch zu bezeichnen, denn unter einem Buch versteht man ja etwas Fertiges, Abgeschlossenes. Das hier ist etwas anderes. Es ist eine amorphe Masse, die sich ausdehnt und ihre Form verändert, je nachdem, welche neuen Wege sich eröffnen. Nenn es Schicksal. Oder auch Leben.«

»Bezieht sich der Titel Die dunkle Seite des Mondes auf den Gesteinsbrocken da oben, oder ist das mehr symbolisch gemeint?«

»Sowohl als auch«, antwortete er, und seine Augen strahlten plötzlich. »Man könnte sagen, am Anfang war es eine rein wissenschaftliche Untersuchung, und dann hat sich daraus etwas sehr viel Tiefgreifenderes entwickelt.«

»Dann bist du Physiker?«

»So was in der Art. Ich bin Selenologe, aber ich habe es mir mit der akademischen Welt verscherzt. Meine Hypothese hat mir ziemliche Probleme mit meinen Kollegen eingebracht. Wissenschaftler sind konservative Leute. Es scheint, als seien sie auf der Suche, aber in Wirklichkeit haben sie Angst, etwas zu entdecken, das jenseits dessen liegt, was sie bereit sind zu akzeptieren. Lieber machen sie die Augen zu.«

»Und was hast du entdeckt, was ist deine Theorie?«

»Nun, eigentlich ist es nicht mehr als eine Vermutung, eine Arbeitshypothese, könnte man sagen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen auf dem Mond nicht altern.«

»Und worauf stützt sich diese Vermutung?«, fragte ich, ehrlich fasziniert. »Schließlich hat bisher noch niemand auf dem Mond gelebt. Die Astronauten waren ja bislang nur zu Stippvisiten da, oder?«

»Das wird behauptet. Aber genau das ist der springende Punkt, Samuel.«

Es war das erste Mal, dass er mich mit meinem Namen ansprach. Die Annäherungsphase war abgeschlossen, und ich war im Begriff, in die großen Geheimnisse eingeweiht zu werden.

»Ich versuchte damals zu zeigen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Zelloxidation und der Schwerkraft gibt. Als ich anfing, die Daten der verschiedenen Missionen zu studieren, begann ich daran zu zweifeln, dass jemals ein Mensch den Mond betreten hat. Ich habe zu viele Lücken in der Geschichte gefunden. Das würde erklären, warum es, obwohl die Technik heute unendlich viel fortgeschrittener ist, seit damals keine weitere Mondmission mehr gegeben hat.«

»Es gibt einen Film darüber«, meinte ich. »Am Ende landen die falschen Astronauten auf einem Friedhof, auf dem ihr eigenes Begräbnis übertragen wird.«

»Ich nehme an, es gibt Leute, die meine Einschätzung teilen«, fuhr er, sichtlich irritiert, fort, »aber meine Arbeit befasste sich mit der Unsterblichkeit. Leider habe ich nichts beweisen können, denn diese Missionen haben nie stattgefunden, oder ihre Ergebnisse waren so mager, als hätten sie nie stattgefunden.«

»Interessierst du dich schon immer für den Mond?«

»Schon als kleiner Junge war es mein Traum, zum Mond zu fliegen. In den Sechzigerjahren ging man davon aus, dass das in ein paar Jahrzehnten jedermann möglich sein würde. Deswegen fühle ich mich betrogen.«

»Und trotzdem sprichst du von einer wundervollen Zukunft.«

»Weil mir klar geworden ist, dass wir am Ende alle dorthin kommen werden. Es wird auf der Erde so schlimme Katastrophen geben, dass uns nichts anderes übrig bleiben wird, als den Mond zu besiedeln. Und dann werden wir entdecken, dass wir unsterblich sind. Happy End.«