EIN TELLER MILCH
Ich war früh aufgestanden und hatte das Gefühl, außer mir läge die ganze Stadt im Tiefschlaf. Es war so still, dass ich mir beinahe wie ein Verbrecher vorkam, als ich in meiner Küche saß und mir im Schlafanzug ein paar Scheiben Toast schmierte, anstatt wie der Großteil der Menschheit meinen Rausch auszuschlafen.
Von der kleinen Überraschung, die das neue Jahr für mich bereithielt, ahnte ich da noch nichts. Eine kleine Überraschung mit großer Auswirkung, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der auf der anderen Seite des Erdballs einen Orkan auslöst. Ein Sturm war im Anzug, der die grauen Wände, zwischen denen sich mein Leben bis dahin abgespielt hatte, einreißen sollte.
Ich setzte Kaffee auf, zog mich an und begann den Tag zu planen. Ich fühle mich verloren, wenn ich meinen Tag nicht organisiere, selbst an einem Feiertag.
Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten. Ich konnte die Arbeiten der Nachzügler korrigieren, die erst kurz vor Weihnachten abgegeben hatten statt am ersten Dezember, wie ich es eigentlich verlangt hatte. Ich verwarf diese Option jedoch sogleich wieder.
Vielleicht würde ich mir eine Weile das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker anschauen, obwohl Walzer nicht mein Fall sind. Doch bis dahin waren ohnehin noch ein paar Stunden Zeit.
Im Bad wusch ich mir mit reichlich Wasser das Gesicht und griff dann zum Kamm. Das Erste, was er zu fassen bekam, war ein neues graues Haar, das mit nächtlicher Hinterlist gesprossen sein musste, denn ich war mir sicher, dass es am Vortag noch nicht da gewesen war.
Okay, graue Haare sind zwar ein Zeichen von Weisheit, sagte ich mir, als ich eine Pinzette nahm und es ausriss. Aber es muss ja nicht jeder wissen, wie weise ich bin.
Graue Haare deprimieren mich noch mehr als Haar ausfall. Wenn ein Haar ausfällt, besteht immerhin noch die Möglichkeit, dass es wieder nachwächst, womöglich sogar kräftiger als vorher. Aber bei einem grauen Haar gibt es keine Hoffnung, dass es wieder schwarz wird, wenigstens nicht auf natürlichem Wege. Im Gegenteil. Wahrscheinlich wird es recht bald sogar weiß.
Von diesen düsteren Gedanken beherrscht, trottete ich durch die Wohnung. Als ich am Telefon vorbeikam, warf ich ihm einen traurigen Blick zu. Es hatte nicht geklingelt in der Silvesternacht, ebenso wenig wie am Heiligabend oder dem ersten Weihnachtstag. Und nichts deutete darauf hin, dass es am Neujahrstag anders sein würde.
Andererseits – ich hatte ja auch niemanden angerufen.
Nachdem ich es mir in einem Sessel bequem gemacht hatte, griff ich nach einem Buch, das ich mir kürzlich im Internet bestellt hatte. Es heißt They have a word for it – ein kurioses Wörterbuch mit Wörtern, die nur in einer einzigen Sprache existieren.
Einen Namen für etwas zu finden ist laut dem Herausgeber Howard Rheingold eine Methode, die Existenz eines Dings oder Zustands nachzuweisen. Wir denken und verhalten uns in einer bestimmten Weise, weil wir die entsprechenden Begriffe dafür kennen. So gesehen werden unsere Gedanken von unserer Sprache geleitet.
Einige Beispiele für solche einzigartigen Begriffe, die ich besonders schön finde, sind:
Baraka: arabisch für eine spirituelle Energie, die für weltliche Zwecke eingesetzt werden kann.
Won: koreanisch für den Widerstand gegen das Loslösen von einer Illusion.
Rasbljuto: russisch für das Gefühl, das man für jemanden empfindet, den man einmal geliebt habt, aber nicht mehr liebt.
Mokita: kiriwinisch für die Wahrheit, die jeder kennt, aber keiner ausspricht.
Aus dem Spanischen hatte der Herausgeber Begriffe wie ocurrencia – der Gedanke, der jemandem plötzlich in den Sinn kommt – ausgewählt, von denen ich niemals vermutet hätte, dass sie unübersetzbar sind.
Zahlreiche Einträge gab es aus dem Deutschen, da die Wortbildungsmöglichkeiten hier – unter Einhaltung bestimmter Regeln – quasi unbegrenzt sind. Unter anderem Torschlusspanik, die »beklemmende Angst, die ledige Frauen beim Wettlauf mit der biologischen Uhr verspüren«.
Nach allem, was ich gelesen hatte, schien mir das Ja panische die Sprache mit den subtilsten Nuancen zu sein, denn dort gab es Wörter wie:
Ah-un: stillschweigende Verständigung zwischen zwei Freunden.
Oder mein Favorit:
Mono no aware: die Traurigkeit der Dinge.
Während ich diesen Eintrag wieder und wieder studierte, wurde mir bewusst, dass mich seit einigen Minuten ein penetrantes Geräusch beim Lesen störte. Ein langsames und regelmäßiges Schaben, wie von einem Insekt, das sich seinen Weg durchs Holz gräbt.
Ich schaltete das Radio aus, um zu horchen, woher dieser lästige Laut kam. Genau in dem Augenblick verstummte er jedoch, als hätte sich sein Verursacher ertappt gefühlt.
Ich kehrte also zu meinem Sessel und meiner Lektüre zurück. Aber kaum hatte ich das Buch wieder zur Hand genommen, setzte das Geräusch wieder ein, nun noch erheblich lauter.
Das kann doch kein Insekt sein, dachte ich. Zumindest keins von normaler Größe.
Das Schaben schien von der Tür her zu kommen. Leicht beunruhigt stand ich auf. Welcher Irre würde sich hinter eine Tür setzen, um daran herumzukratzen? Die Sprache der Bantu kennt das Wort palatyj, »ein mythisches Monster, das an Türen kratzt«.
Ob Mensch oder Monster, wer auch immer die Absicht hatte, mir Angst zu machen, war auf dem besten Weg, das zu schaffen. Jedenfalls hatte derjenige meine Schritte gehört, denn als ich an die Tür trat, wurde das Schaben noch wilder und lauter. Ich fasste mir ein Herz und riss mit einem Ruck die Tür auf, um mein Gegenüber zu erschrecken.
Doch da war niemand. Genauer gesagt, niemand auf meiner Augenhöhe. Denn während ich verblüfft auf den leeren Treppenabsatz starrte, spürte ich, wie sich etwas Weiches an meinen Beinen vorbeischlängelte.
Instinktiv machte ich einen Satz nach hinten und schaute an mir herunter, um einen Blick auf den Eindringling zu werfen. Es war eine Katze, die mich mit einem fröhlichen Maunzen begrüßte. Jung, aber auch nicht mehr ganz klein, mit getigertem Fell, wie Millionen von anderen streunenden Katzen eben.
Wahrscheinlich hatte sie ein feindseligeres Auftreten von mir erwartet, denn jetzt rieb sie sich noch heftiger an meinen Beinen und streifte um mich herum.
»Ist gut jetzt«, sagte ich zu ihr, und schob sie sanft mit dem Fuß auf den Treppenabsatz zurück.
Schneller als ich gucken konnte, war das Tier jedoch wieder in die Wohnung geschlüpft und blickte mich fragend an. Ich schob die Abneigung, die mir Katzen schon immer verursacht hatten, beiseite, packte sie am Nackenfell und hob sie hoch. Ich vermutete, sie würde sich wehren und kratzen, aber sie beschränkte sich auf ein spitzes Miauen.
»Und jetzt zieh Leine«, befahl ich und beförderte sie mit Schwung in den Hausflur.
Kaum hatte sie den Boden berührt, schoss die Katze los und saß, ehe ich die Tür schließen konnte, wieder in meinem Flur. Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.
Einen Augenblick lang dachte ich daran, mit dem Besen auf sie loszugehen, wie es mein Vater in solchen Fällen getan hätte. Vielleicht war es das Bedürfnis, mich ihm, der längst unter der Erde lag, noch einmal zu widersetzen, oder es war ein Rest Weihnachtsstimmung, jedenfalls gab ich die Jagd zunächst auf und ging stattdessen ein Tellerchen Milch holen, damit das Tier mich endlich in Ruhe ließ.
Zunächst dachte ich, die Katze würde mir bis in die Küche folgen, aber sie zog es vor, mir vom Flur aus erwartungsvoll hinterherzuschauen.
Ich goss einen Schluck Milch in eine Untertasse und ging vorsichtig, um nichts zu verschütten, in den Flur zurück. Doch als ich dort ankam, war die Katze verschwunden.
Die Tür zum Treppenhaus stand noch einen Spalt offen, und so nahm ich an, sie hätte meine Wohnung wieder verlassen. Ich verfluchte die Katze, weil ich die Milch umsonst geholt hatte, stellte dann die Untertasse auf den Boden und steckte den Kopf durch die Tür, um nachzusehen, ob sie vielleicht noch im Treppenhaus saß. Aber keine Spur von ihr.
Wahrscheinlich klappert sie die anderen Wohnungen ab, dachte ich bei mir.
Als rationaler und pragmatischer Mensch hasse ich es, wenn etwas grundlos passiert. Ich hatte die Milch geholt, und nun sollte die Katze sie verdammt noch mal auch trinken. Ich begann sie zu rufen, mit diesem zischenden Laut, mit dem man Katzen lockt. Jedoch ohne Erfolg.
Dann hatte ich das Theater satt, ließ den Teller draußen stehen und schloss die Tür.
In wenigen Minuten würde das Neujahrskonzert beginnen.