SUCHEN UND FINDEN

Da ich den Vormittag frei hatte, kam mir auf dem Heim weg von der Tierarztpraxis der Gedanke, Titus einen kleinen Krankenbesuch abzustatten. Also brachte ich Mishima nach Hause – sie war froh, endlich aus ihrer Box zu kommen – und machte mich erneut auf den Weg.

Die Fahrt mit der Metro nutzte ich dazu, mir einige Buddha-Aphorismen für Titus’ Buch anzuschauen. Zu erst schien es mir seltsam, die Anthologie, die ich bei Titus gefunden hatte, in der U-Bahn hervorzuholen. Ein Waggon voller grauer Gesichter ist nicht gerade der beste Ort für kontemplative Lektüre. Doch schnell wurde mir klar, dass sich kein Mensch dafür interessierte, was um ihn herum geschah. Die Leute starrten mit leerem Blick in die Luft, was schlimmer ist, als die Augen geschlossen zu haben. Dann kann man wenigstens noch träumen.

Ich musste an eine Stelle aus dem Buch der Unruhe von Fernando Pessoa denken. Dort heißt es in etwa: Wer schläft, ist wie ein Kind, denn im Schlaf kann man weder jemandem wehtun noch Rechenschaft über sein Leben ablegen. Der größte Verbrecher, der schlimmste Terrorist bewahrt im Schlaf den Zauber der Unschuld. Darum ist es ein ebenso großes Verbrechen, einen Schlafenden zu töten wie ein Kind.

Den Dichter hinter mir lassend, wandte ich mich wie der den Aphorismen des Siddharta Gautama zu. Ich markierte die Sprüche, die mir besonders gut für unser Buchprojekt zu passen schienen:

 

Schmerz ist unvermeidlich,

aber das Leiden steht uns frei.

 

Wer nicht weiß, um welche Dinge er sich sorgen

und welche er vernachlässigen soll,

der sorgt sich um das, was nicht wichtig ist,

und vernachlässigt das Wesentliche.

 

Das bin ich, dachte ich, während ich an der Station Hospital Clinic ausstieg. Beinahe war ich ein bisschen wütend, dass einer, der vor zweitausendfünfhundert Jahren gelebt hatte, mir Ratschläge erteilen konnte.

»Und, wie kommst du klar mit deinen Aufgaben?«, fragte Titus.

»Bis jetzt habe ich nur das Inhaltsverzeichnis vervollständigt. Was ist denn die zweite Aufgabe?«, fragte ich verdutzt. Hatte ich etwas vergessen?

»Gabriela zu finden natürlich.«

»Um ehrlich zu sein, bin ich mit der Suche noch nicht wirklich weitergekommen.«

»Ich habe auch nicht gesagt, du sollst sie suchen, sondern du sollst sie finden«, erklärte Titus energisch.

»Wo liegt denn da der Unterschied?«

»Solange du nur suchst, ist dein Blick durch deine Erwartungen begrenzt. Es ist, als würdest du Gott unter dem Bett suchen, weil das ein naheliegendes Versteck ist. Verstehst du?«

Mir fiel erneut der Witz von dem Betrunkenen ein und ich nickte lächelnd. Titus fuhr fort: »Solange du suchst, wirst du nichts Entscheidendes finden.«

»Und was soll ich dann tun? Däumchen drehen?« »Im Gegenteil!«, sagte Titus aufgebracht. Er saß jetzt beinahe aufrecht im Bett.

Besorgt, wir könnten den Zimmergenossen wecken, schaute ich erschrocken nach rechts hinüber, doch das Bett war leer.

Der alte Redakteur packte meine Hand und sagte: »Um zu finden, musst du dich treiben lassen. Solange du deine fixen Ideen hast, wirst du unfähig sein, das zu sehen, was direkt vor deiner Nase passiert.«

Ich nickte wieder und fragte mit dem Blick auf das leere Bett nach dem alten Mann, der vor einer Woche dort gelegen hatte:

»Wo ist er hin?«

Titus lachte leise auf und erwiderte: »Wenn ich das wüsste, wäre mir der Nobelpreis in allen Disziplinen sicher.«