WER IST LOBSANG RAMPA?
Infolge meines neuen Gemütszustands und der Aussicht auf eine freie Woche empfing ich Valdemar an diesem Abend in aufgeräumter und entspannter Stimmung.
Im Gegensatz zu mir zeigte sich mein Freund diesmal düster und pessimistisch, als hätte er eine Nachricht von seinen Verfolgern erhalten und wäre nun in akuter Gefahr. Bei ausgeschaltetem Licht rauchte er eine ganze Zigarette, bevor er sich entschloss zu reden. In der Zwischenzeit hatte ich mir ein Glas Wein eingeschenkt und beobachtete die schweigende, rauchende Gestalt in meinem Wohnzimmer.
Valdemar hatte den Rucksack, von dem er sich niemals trennte, zu seinen Füßen abgestellt und fragte – mehr sich selbst, wie mir schien – in bedächtigem Ton: »Wer war Lobsang Rampa? Jedenfalls nicht der, für den wir ihn hielten. Millionen von Menschen, die Das dritte Auge gelesen haben, waren überzeugt, er sei ein tibetischer Lama mit übernatürlichen Fähigkeiten, wie er in seinem Buch behauptete. Und obwohl es jahrzehntelang ein Bestseller war, gab es niemals ein Fernsehinterview mit ihm, was sein Ansehen nur noch steigerte, denn die Leute lieben solche Rätsel. So ähnlich war es später auch mit Carlos Castaneda. Sein größter Trumpf war, dass keiner wusste, wie er aussah. Aus demselben Grund war es den Menschen lieber, sich die dunkle Seite des Mondes nur vorzustellen. Die Wirklichkeit oder das, was wir dafür halten, hat die meisten nie interessiert.«
»Und wer ist nun also Lobsang Rampa?«, fragte ich.
»Niemand, das ist das Problem. Lobsang Rampa als solchen gibt es nicht. Nachdem er alle Welt mit der Lamageschichte getäuscht hatte, wurde von ein paar Journalisten der Times aufgedeckt, dass Lobsang in Wirklichkeit ein englischer Klempner namens Henry Hoskins war, der Tibet nie gesehen hatte. Das Erstaunlichste daran ist, dass niemand enttäuscht zu sein schien, denn die Bücher verkauften sich weiter. In was für einer Welt leben wir denn? Verstehst du jetzt, warum ich Heimweh nach der Zukunft habe?«
»Ich verstehe, dass manche Menschen sich verstellen müssen, weil das Publikum es von ihnen verlangt«, sagte ich und war selbst überrascht, mich Francis Amalfis Berufsstand verteidigen zu hören.
»Was willst du damit sagen?«
»Vielleicht wäre der Autor lieber unter seinem eigenen Namen aufgetreten, aber dann hätte ihm niemand Beachtung geschenkt, angefangen bei den Verlagen. Die Welt wartete auf Lobsang Rampa, nicht auf Henry Hoskins.«
»Und Castaneda ?«
»Ich glaube, der wollte einfach nur ganz in Ruhe sein Leben leben, während sich die Lizenzen für seine Bücher verkauften. Eine ziemlich gesunde Einstellung.«
»Dann ist da noch der Fall Carnegie.«
»Du meinst Dale Carnegie? Der den Leuten beibringen wollte, wie man Freunde gewinnt?«, sagte ich, verblüfft, dass Valdemar diesen Autor überhaupt kannte.
»Genau der. Hat der Welt sein ganzes Leben lang er klärt, wie man leben soll, und bringt sich am Ende selber um, obwohl sein Verlag versichert, das sei ein haltloses Gerücht. Vielleicht hatten sie Angst, dass die Leser ihr Geld zurückfordern würden.«
»Das heißt ja nicht, dass die Ratschläge nicht gut waren. Es gibt ja auch Lungenärzte, die zwei Schachteln am Tag rauchen, und trotzdem die Patienten vor den Risiken des Rauchens warnen.«
»Willst du mir weismachen, man bräuchte kein Vorbild zu sein, wenn man etwas predigt? Man könnte eine Sache denken, eine andere verkünden und eine dritte tun? Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Ich will nur sagen, dass wir Menschen sind.« »Wie meinst du das?«
»Menschen sind in höchstem Maße widersprüchlich. Du zum Beispiel kaufst dir eine Schachtel Zigaretten, auf der steht ›Rauchen kann tödlich sein‹, und hast dir gerade eine zweite Zigarette angezündet. Dabei willst du gar nicht sterben. Ist das etwa kein Widerspruch?«
Valdemar nahm einen tiefen Zug, als wollte er dem Gesundheitsministerium trotzen. Dann stieß er langsam den Rauch aus und sagte: »Nicht nur, dass wir in einer Trugwelt leben – ich bin auch zu der Überzeugung gelangt, dass es unmöglich ist, eine Erfahrung mit jemand anderem zu teilen.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Ich werde es dir an einem Beispiel erklären: Stell dir vor, ich will eine längere Reise machen, weiß noch nicht, wann ich zurückkehre, und du kommst zum Bahnhof, um mich zu verabschieden. Wenn wir uns später über den Abschied am Telefon unterhalten, wird es im Grunde nichts als Täuschung sein.«
»Wieso?«
»Weil wir nicht von demselben Ereignis sprechen wer den, auch wenn wir uns in der Illusion wiegen, dass es so ist. Unsere Erinnerungen werden verschieden, um nicht zu sagen entgegengesetzt sein. Du erinnerst dich an einen Mann, der aus dem Fenster eines sich entfernenden Zuges winkt. Ich dagegen erinnere mich an einen Mann, der regungslos auf dem Bahnsteig steht und mehr und mehr verblasst. Das ist das Einzige, was wir teilen können: das Gefühl, dass der andere immer kleiner wird. Dieser Umstand hat auch Auswirkungen auf unser Empfinden. Wenn du dich physisch von jemandem entfernst, reduziert sich nach und nach auch dessen Präsenz in deinem Unterbewusstsein. So gesehen ist vielleicht das, was auf visueller Ebene geschieht, nur die Vorbereitung auf das, was sich im Denken vollziehen wird. Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt: Eine Erfahrung ist niemals mit anderen teilbar. Sie ist immer subjektiv.«
Beinahe hätte ich ihm Beifall geklatscht. Im Unter schied zu anderen Abenden kam mir Valdemar heute außergewöhnlich klar vor.
»Möchtest du ein Glas Wein?«, bot ich ihm an. »Ich denke, wir werden noch eine ganze Weile hier sitzen und reden.«