19. KAPITEL
Als Madrid endlich über die Reling des untersten Außendecks kletterte, hatte die Dorian Rae bereits den halben Weg zur Hafenausfahrt zurückgelegt. Das Erste, was ihm auffiel, war das unaufhörliche Heulen der Sirenen.
Er war durchnässt bis auf die Haut, doch spürte er die Kälte kaum, während er an der Reling entlang zur Brücke sprintete. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er Vanderpol hatte zurücklassen müssen – er brauchte Verstärkung –, aber er hatte im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung fällen müssen und das Einzige getan, was sich richtig angefühlt hatte. Er musste Jess und Nicolas finden. Sobald das Schiff internationale Gewässer erreicht hatte, würde er sie nie wiedersehen.
Vor sich sah er die Lichter der Brücke und die Silhouette des Radars, die sich gegen den Himmel erhob. Der Frachter war riesig, und er hatte keine Ahnung, wo er nach Jess suchen sollte. Wenn er die Brücke erreichte, könnte er das Schiff aber vielleicht aufhalten.
Keine drei Meter vom Deckshaus entfernt rannten vier uniformierte Männer mit Maschinenpistolen die Treppe hinunter. Madrid duckte sich in eine dunkle Nische und schaffte es so, nicht entdeckt zu werden. Mit klopfendem Herzen sah er sie an sich vorbeilaufen. Sie schienen in großer Eile zu sein. Er lauschte auf das Kreischen der Sirenen und fragte sich, ob das etwas mit Jess zu tun hatte.
Sich in den Schatten haltend folgte Madrid den Männern. Er versuchte zu hören, was sie sagten, und schnappte das Wort „Ausbruch“ auf, war sich aber nicht sicher, weil er zu weit weg war. Sie liefen am Steuerhaus vorbei und eine kurze Treppe hinauf. Vor sich hörte er weitere Stimmen. Er zog seine Waffe und schlich die Treppe hoch. Hätte einer der Männer sich umgedreht, hätte er ihn sofort gesehen, denn es gab nichts, wo er sich hätte verstecken können. In der Nähe sah er die Umrisse zweier großer Rettungsboote, die an dicken Seilen und Flaschenzügen hingen.
Dann erblickte er sie, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Zwei Frauen und ein Kind. Jess. Ihre Silhouette war unverwechselbar. An ihrer Körpersprache erkannte er, dass sie Angst hatte. Dennoch stand sie aufrecht zwischen den bewaffneten Männern und Nicolas.
Der Drang, das zu beschützen, was seins war, wurde übermächtig. Doch Madrid verfügte über ausreichend Erfahrung, um nicht einfach in eine Situation hineinzuplatzen, in der es acht zu eins stand. Leichtsinnigkeit war der schnellste Weg in den Tod.
Er schaute seine Waffe an und verfluchte leise ihre Unzulänglichkeit. An seinem Gürtel hing auch noch ein Messer, doch selbst die Kombination der beiden würde nicht ausreichen, um acht bewaffnete Männer aufzuhalten, die verzweifelt genug waren, zwei Frauen und ein Kind zu töten. Er dachte an Vanderpol und fragte sich, ob der es wohl noch an Bord geschafft hatte.
Die einzige Möglichkeit, Jess zu erreichen, bestand darin, irgendwie für Ablenkung zu sorgen. Aber ihm wollte einfach nichts einfallen, das aufhalten könnte, was, wie er wusste, als Nächstes geschehen würde.
Sein schlimmster Albtraum wurde wahr, als er den vertrauten Umriss eines Mannes sah, der sich vor Jess stellte. Mummert. Entsetzt beobachtete er, wie Mummert eine Pistole hob und auf sie zielte. Alle Menschen, die er in seinem Leben geliebt und verloren hatte, blitzten vor seinem inneren Auge auf. Er konnte nicht glauben, dass das Schicksal ihm einen weiteren rauben würde.
„Sie entwickeln sich langsam zu einem unangenehmen Stachel in meinem Fleisch“, sagte Mummert.
„Fahren Sie zur Hölle.“
Wenn er nicht solche Angst um sie gehabt hätte, hätte Jess’ Antwort Madrid ein Lächeln entlockt. Doch so stark ihre Worte auch klangen, das Zittern in ihrer Stimme verriet, wie es innerlich um sie bestellt war.
Mummert strich mit dem Lauf der Pistole an ihrer Wange entlang über ihren Hals bis zu ihrer Brust. „Obwohl ich sicher bin, dass Sie unsere Reise unterhaltsam gestaltet hätten, fürchte ich, dass ich keine Zeit mehr für weitere Verzögerungen habe.“
Mit einer fließenden Bewegung packte er Nicolas’ Arm. Jess warf sich auf ihn, doch zwei Männer stürzten vor und hielten sie zurück.
„Lassen Sie ihn los!“, schrie sie. „Er ist doch nur ein kleiner Junge!“
Ganz ruhig, dachte Madrid. Treib ihn nicht zu weit.
„Ah, aber Kinder sind ein ganz wunderbares Druckmittel.“ Mummert hielt dem Jungen die Pistole an die Schläfe. „Finden Sie nicht?“
„Was wollen Sie?“, rief Jess.
Er bedachte sie mit einem eisigen Lächeln. „Ich will, dass Sie über Bord springen.“ Er spannte den Hahn. „Oder ich bringe ihn hier auf der Stelle um.“
Jess konnte nicht glauben, dass es so weit gekommen war. Sie stand auf der Plattform der Rettungsboote. Sechs Meter unter ihr verhöhnte das Meer sie mit schaumgekrönten Wellen und dem Versprechen auf einen kalten und grausamen Tod.
„Los jetzt“, sagte Mummert.
Die Angst zerrte an ihr wie ein Stück Stacheldraht. Ihr ganzer Körper schrie unter der Anspannung, während sie ihre Optionen durchging. Aber sie hatte keine. Wenn sie sich weigerte zu springen, würde Mummert Nicolas töten. Wenn sie sprang, würde sie vielleicht noch lange genug leben, um die Schüsse zu hören, die Chin Lees und Nicolas’ Leben beendeten. Ein nicht lösbares Dilemma …
„Ich tue es“, sagte sie schließlich.
„Natürlich tun Sie es.“
„Aber nur unter einer Bedingung.“
Jeder Nerv in ihrem Körper erwachte zum Leben, als er einen Schuss abgab. Heiß sauste die Kugel nur Zentimeter an ihrem Ohr vorbei.
„Hören Sie auf, meine Zeit zu vergeuden“, sagte Mummert.
„Lassen Sie den Jungen gehen. Tun Sie mit mir, was immer Sie wollen, aber lassen Sie den Jungen frei.“ Obwohl sie sich redliche Mühe gab, konnte sie nicht verhindern, dass sich ein Schluchzer aus ihrer Kehle löste. „Ich tue alles, was Sie verlangen.“
„Ein verlockendes Angebot.“ Mummert ließ seinen Blick über sie gleiten. „Sie besitzen durchaus einige Vorzüge. Aber die Zeit zum Spielen ist um. Ihre Zeit ist um. Genau wie die von dem Jungen. Also springen Sie, oder ich jage ihm eine Kugel in den Kopf.“
Jess stand den Männern gegenüber, den Rücken dem Meer zugewandt. Acht Bewaffnete, alle gewillt, ein unschuldiges Kind zu ermorden, nur um den Profit einzustreichen, den ihre illegale Fracht ihnen einbrächte, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten.
Sie fragte sich, ob Madrid ihre Nachricht erhalten hatte. Ob er versuchte, sie zu erreichen. Da sie wusste, dass sie nur noch wenige Minuten hatte, akzeptierte sie die Tatsache, dass er nicht mehr rechtzeitig bei ihr sein würde.
„Sie kaltherziger Mistkerl!“, gab sie erstickt von sich.
Mummert schenkte ihr ein seltsam schiefes Lächeln. „Das wäre zutreffend, wenn ich denn ein Herz hätte. Aber Sie irren sich, meine Schöne – das habe ich nicht.“ Er richtete die Waffe wieder auf Nicolas.
„Nicht“, flehte sie.
„Springen Sie, oder ich sorge dafür, dass Sie ihn sterben sehen.“
Jess wollte wenigstens einen von ihnen mitnehmen. Einen verrückten Moment lang überlegte sie, Mummert anzugreifen, sich auf ihn zu stürzen, an die Reling zu ziehen und ins Wasser zu schubsen. Aber sie wusste, er würde sie erschießen, bevor sie nah genug dran wäre.
Ihr einziger Trost war, dass ihre Hände nicht gefesselt waren. Sie würde also schwimmen können. Doch den Hafenlichtern nach zu urteilen, war das Schiff schon eine halbe Meile weit gefahren. Lange, bevor sie das Ufer erreicht hätte, wäre sie an Unterkühlung gestorben.
Sie schaute Nicolas an und konnte die Tränen nicht zurückhalten. „Alles wird gut“, schluchzte sie.
Das war eine Lüge. Sie würden sterben.
Sie hatte Mummert nicht die Befriedigung geben wollen, sie zusammenbrechen zu sehen, doch die Ungerechtigkeit war zu groß. Der drohende Tod eines unschuldigen Kindes zerriss ihr das Herz.
Mit einem letzten Blick zu Nicolas drehte sie den Männern den Rücken zu und wandte ihr Gesicht dem Meer zu. Sie dachte an Madrid und wurde von weiterer Trauer gepackt. Sie liebte ihn von ganzem Herzen. Er war ein Mann, mit dem sie sich vorstellen konnte, den Rest ihres Lebens zu verbringen. Warum hatte sie das nicht erkannt, als sie noch bei ihm gewesen war?
Angst packte sie, als sie in das dunkle unruhige Wasser hinabschaute. Am ganzen Körper zitternd trat sie einen Schritt näher an den Rand der Plattform heran.
„Ich liebe dich, Madrid“, flüsterte sie. „Und das werde ich immer tun.“
Sie schloss die Augen und machte noch einen kleinen Schritt vor. Hinter sich hörte sie Mummert irgendetwas rufen, aber ihr Herz klopfte zu laut, als dass sie ihn verstanden hätte. Sie stellte sich vor, wie sie sprang, wie ihr Körper auf dem kalten Wasser aufschlug, wie der dunkle Abgrund sie hinunter in die Tiefe zog.
Ihr Fuß erreichte den Rand der Plattform. In ihr tobte die Panik wie ein wildes Monster. Ein Schrei wollte sich aus ihrer Kehle lösen. Oh bitte, lieber Gott, hilf mir.
Die Plattform wackelte heftig unter ihr und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fiel in dem Moment auf die Knie, als eine Kugel über ihren Kopf hinwegsauste. Vom Schiff hinter sich hörte sie Rufe, und sie riskierte einen Blick über die Schulter. Eines der Rettungsboote war auf die Gruppe Männer gefallen. Die Unverletzten rannten davon, und Jess erhaschte einen Blick auf Chin Lee, die Nicolas packte. Als ein zweites Rettungsboot ins Wasser stürzte, schaute Jess auf und sah eine große Wolke aus Feuer und Rauch vom Achterdeck aufsteigen.
„Der Motorraum!“, rief jemand.
Aus dem Chaos schwang sich eine in Schwarz gekleidete Gestalt von dem Flaschenzug der Rettungsboote. Hoffnung blühte in Jess auf, als sie erkannte, dass es Madrid war.
Sie rief seinen Namen in den Wind. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er Nicolas in seine Arme nahm. Mit Chin Lee auf den Fersen rannte er auf die Plattform zu.
Sein Blick fing den von Jess auf. „Spring!“, rief er. „Spring!“
Er ließ ihr keine Zeit zu zögern, sondern packte ihre Hand und riss sie daran mit sich über den Rand der Plattform. Die Zeit schien stillzustehen, während sie im freien Fall in Richtung Wasser stürzten. Ganz entfernt hörte sie Schüsse, die auf sie abgegeben wurden.
Dann kam das Wasser immer näher und traf sie schließlich wie ein solider Eisblock. Die Kälte presste ihr die Luft aus den Lungen, und das Wasser umfing sie mit seinen eisigen Händen, schüttelte sie durch und wirbelte sie herum.
Doch Madrid ließ ihre Hand niemals los. Seine Wärme war wie eine Rettungsleine, das Einzige, was den Unterschied zwischen Leben und Sterben ausmachte. Sie machte einige Schläge mit den Beinen und hoffte, der Auftrieb ihres Körpers würde sie schnell wieder nach oben bringen.
Einen Moment später durchbrach Jess die Wasseroberfläche. Neben sich sah sie das blasse Oval von Madrids Gesicht. Er hielt Nicolas immer noch fest. Der kleine Junge weinte und strampelte, aber er lebte. Es war das Schönste, was Jess je in ihrem Leben gesehen hatte.
„Kletter in das Rettungsboot“, rief Madrid ihr zu.
Wasser tretend schaute Jess sich um und erblickte ein paar Meter entfernt das kleine Boot. Erleichterung erfasste sie, als sie sah, dass Chin Lee sich bereits daran festhielt.
Jess wusste nicht, wie sie es zum Boot schaffte. Mit letzter Kraft klammerte sie sich am Rand fest. Dann wurde sie von starken Armen an Bord gezogen. Sie schaute auf und direkt in Madrids Augen.
„Ich hab dich“, sagte er.
„Du bist gekommen, um uns zu retten“, schluchzte sie, als er sie in seine Arme zog.
Nur am Rande bekam sie mit, dass ein Hubschrauber über ihnen kreiste. Der Strahl eines Scheinwerfers erfasste sie. Kalter Wind und Sprühnebel vom Wasser schlugen auf sie ein. Doch es waren die Stärke und die Wärme, die Madrids Körper ausstrahlte, die sie bis in ihr Herz hinein spürte.
„Wie hast du das geschafft?“, fragte sie und meinte die Rettung.
Er lächelte sie an. „Ich hatte ein wenig Hilfe.“
„Vanderpol?“
Er nickte. „Sieht so aus, als wäre die Agency auch noch dazugekommen.“
Die Erkenntnis, wie nah sie und Nicolas daran gewesen waren zu sterben, ließ sie erneut erschauern. „Mein Gott, sie standen kurz davor …“
„Ist gut“, sagte er. „Sie haben es nicht getan.“
Die grausamen Gedanken abschüttelnd schaute sie sich um. „Wo ist Nicolas?“
Madrid deutete auf Chin Lee, die mit dem Jungen unter einer Decke hockte. „Er kommt wieder in Ordnung.“
Jess blinzelte die Tränen fort. „Du hast unsere Leben gerettet“, flüsterte sie.
„Das hatte rein egoistische Gründe.“
Sie lachte erstickt auf. „Da bin ich aber froh.“
Er zog sie näher an sich. „Ich werde dich nie mehr gehen lassen. Meinst du, damit kannst du leben?“
„Ich kann nicht ohne dich leben.“ Sie lächelte. „Das wäre vollkommen unmöglich.“
„Kann ich das schriftlich haben?“
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte sie und zog seinen Kopf zu sich heran.