16. KAPITEL

Innerhalb von weniger als fünf Minuten war Jess kurz davor durchzudrehen. Sie konnte nicht aufhören, an Nicolas zu denken. Der kleine Junge befand sich in großer Gefahr. Die Vorstellung, wie verängstigt und verwirrt er sein musste, zerriss sie innerlich. Und die Erkenntnis, dass sie ihre Freundin im Stich gelassen hatte, war unerträglich.

„Es tut mir so leid, Angela“, flüsterte sie.

Unruhig tigerte sie im Wohnwagen auf und ab. Sie fühlte sich gefangen und hilflos und so frustriert, dass sie hätte schreien können. Sie dachte an Madrid, und schnell verwandelte sich die Frustration in Sorge. Nur mit einem Revolver bewaffnet hatte er gegen ein Dutzend Männer mit automatischen Waffen keine Chance. Würde er die MIDNIGHT Agency um Unterstützung bitten? Ihr fiel niemand anderes ein, dem er vertrauen würde. Doch selbst wenn er Verstärkung anfordern sollte – würde sie auch rechtzeitig eintreffen?

Der Gedanke, dass Madrid verletzt werden könnte – oder Schlimmeres –, weil er zu heroisch war, um sie mit einzubeziehen, schnürte ihr den Magen zu. Alles, was sie in den Stunden vor seiner Abreise geteilt hatten, kehrte auf einen Schlag zu ihr zurück. Die Traurigkeit in seinen Augen, wenn er von der Vergangenheit sprach. Seine sanften Berührungen. Das leise Flüstern seiner Stimme. Die Hitze in seinem Blick, wenn er sie anschaute …

Das Vibrieren des Handys, das Madrid ihr dagelassen hatte, riss sie aus ihrer Tagträumerei. Eine Nummer, die sie nicht kannte, erschien auf dem Display. „Hallo?“

„Jess? Hier ist Father Matthew.“

Sie war überrascht. „Geht es Ihnen gut?“, fragte sie. „Haben Sie etwas von Nicolas gehört?“

„Unglücklicherweise nicht. Ich befinde mich in einem Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus.“ Seine Stimme war schwach und klang sehr wie Madrid. Im Hintergrund hörte sie Sirenen. „Ist Mike noch da?“

„Nein. Er ist vor fünf Minuten gegangen.“

„Okay, es ist vielleicht nicht wichtig, aber nachdem ich aufgelegt habe, ist mir noch etwas eingefallen.“

„Was?“

„Nun, nachdem Sie und Mike ihn hier in der Kirche zurückgelassen haben, habe ich sehr viel Zeit mit Nicolas verbracht. Ich verfüge über einige Erfahrungen mit Kindern, die aus welchem Grund auch immer nicht mit anderen Menschen kommunizieren. Als wir gestern Abend zusammen Abendbrot gegessen haben … Ich weiß, es klingt vermutlich ein wenig verrückt, aber ich glaube, er versucht, uns etwas mitzuteilen.“

Jess merkte, dass sie sich gespannt vorbeugte und das Handy fester umklammerte. „Was denn?“

Matt fuhr fort: „Anfangs dachten wir, er würde nach seiner Mutter rufen.“

Ma-maa. Ma-maaa.

Jess erinnerte sich nur zu gut an die herzzerreißenden Rufe. „Ja, ich erinnere mich.“

„Je mehr Zeit ich jedoch mit ihm verbracht habe, desto mehr erkannte ich, dass er nicht nach seiner Mutter ruft. Ich denke, er wiederholt einen Namen, den er gehört hat. Vielleicht sogar während des Verbrechens.“

Ma-maa. Ma-maa.

Die Haare in Jess’ Nacken richteten sich auf, als die Erkenntnis sie wie ein Fausthieb in den Magen traf. „Oh Gott!“

„Was?“

„Mummert“, flüsterte sie. „Der Polizeichef Mummert.“

„Sie glauben, er ist darin verwickelt?“

„Ich glaube, er hat Angela ermordet.“ Sie schloss die Augen und dachte an ihre Freundin. „Ich muss los.“

„Jess …“

Da sie wusste, dass er versuchen würde, ihr auszureden, was sie nun vorhatte, legte Jess schnell auf. Einen Moment lang hielt sie das Handy noch fest in der Hand. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Angela hatte geglaubt, dass Mummert ihr Verbündeter war. Hatte sie ihm erzählt, was sie entdeckt hatte? Hatte sie ihm von der MIDNIGHT Agency und ihrem Auftrag erzählt? Wusste er, dass Madrid ein MIDNIGHT-Agent war?

Die Knie gaben unter ihr nach, als sie daran dachte, dass Madrid vielleicht geradewegs in eine Falle lief. Sie schaute das Handy an. Es gab keine Möglichkeit mehr, Madrid zu erreichen. Sie hatte sein Handy – und konnte ihn somit nicht anrufen und warnen. Er hatte ihr befohlen, hierzubleiben und zu warten. Aber wie könnte sie das tun, wenn sie wusste, dass er direkt in einen Hinterhalt lief?

Sie konnte nicht hierbleiben und nichts tun, während der Mann, den sie liebte, in eine Falle tappte. Doch Madrid hatte sie ohne Fahrzeug zurückgelassen. Der Hafen war zu weit weg, um ihn zu Fuß zu erreichen. Sie könnte sich ein Taxi nehmen, aber das würde sowohl eine gewisse Wartezeit bedeuten als auch eine weitere unbeteiligte Person in die Sache mit hineinziehen. Vielleicht fand sie irgendwo ein Auto, bei dem der Schlüssel steckte.

Dann dämmerte ihr, dass sie auch einfach mit dem Wohnmobil losfahren könnte.

Sie rannte nach vorn und schob die Tür zur Fahrerkabine auf. Zwei breite Sitze und eine Konsole in der Mitte. Ein großes Lenkrad. Digitale Anzeigen. Keine Schlüssel.

Wo sind die Schlüssel?

Dann erinnerte sie sich daran, dass Madrid einen Schlüssel aus einem Schrank genommen hatte. Sie eilte zurück und riss die Schranktür auf. Ihr Herz setzte ein paar Schläge aus, als sie den einsamen Schlüssel sah, der an einem Haken baumelte.

„Es tut mir leid, Madrid“, flüsterte sie, als sie ins Fahrerhaus zurückkehrte und sich hinters Lenkrad setzte. „Aber ich kann auf keinen Fall zulassen, dass man dich umbringt.“

Jess parkte das Wohnmobil auf derselben Schotterstraße, die sie und Madrid am Abend zuvor benutzt hatten. Sobald sie an Bord des Schiffes war, würde sie Jake Vanderpol anrufen und ihn wissen lassen, was sie vorhatte – nur für den Fall, dass etwas schieflief.

Sie brauchte zehn Minuten, um die Öffnung im Zaun zu finden, die Madrid hineingeschnitten hatte. Offensichtlich hatte noch niemand von den Hafenmitarbeitern das Loch entdeckt. Dieser Hafen brummte nicht gerade vor Aktivität, trotzdem wunderte es sie, dass die Hafenpolizei heutzutage nicht mehr auf die Sicherheit des Geländes bedacht war.

Ganz vorsichtig duckte Jess sich durch das Loch. Sie hielt sich in den Schatten und lief so schnell sie konnte zu den Docks. Dabei wirbelten ihr Bilder von bewaffneten Schmugglern und korrupten Polizisten durch den Kopf, und sie fragte sich, wie sie sie aufhalten sollte, wo sie nicht mehr hatte als ein Handy und eine Taschenlampe. Nicht direkt das, was man unter schwerer Bewaffnung verstand. Dann erinnerte sie sich daran, dass sich Nicolas in den Händen dieser skrupellosen Männer befand, und sie wusste, sie hatte keine andere Wahl, als zu versuchen, zu ihm zu gelangen. Wenn sie Madrid fand, würde sie ihm erzählen, was sie über Mummert in Erfahrung gebracht hatte. Und vielleicht könnten sie beide gemeinsam mit Jake Vanderpol einen Plan ausarbeiten, wie man diesen Mistkerlen ein für alle Mal das Handwerk legte.

Ihre Stiefel schlugen leise auf den Asphalt, als sie den Betonpier zur Dorian Rae hinunterlief. Um sie herum bewegten sich die anderen Schiffe ruhelos auf den Wellen. Die Tampen knarrten und stöhnten wie gefesselte Geister. Kurz bevor sie die Dorian Rae erreichte, erblickte sie eine Gangway, die zu einer Luke auf dem Achterdeck führte. Die war beim letzten Mal noch nicht da gewesen. Von weiter unten am Dock kam ein Gabelstapler mit einer auf einer Palette stehenden Kiste auf sie zugefahren.

Jess erkannte, dass sie dabei waren, das Schiff zu beladen, und sie rannte auf die Gangway zu. Das schwarze Wasser zehn Meter unter ihr schien sie auf dem Weg nach oben zu verspotten. Sie erinnerte sich an seine kalte Umklammerung und lief schaudernd noch ein bisschen schneller.

Auf dem Achterdeck blieb sie stehen und schaute sich um. Es war niemand zu sehen, doch sie wusste, es befanden sich Menschen an Bord. Irgendwo in der Nähe polterte ein Diesel-motor. Zu ihrer Rechten lief eine Ratte über ein Seil, das so dick war wie der Arm eines Mannes. Von dem Deck über ihr hörte sie Stimmen.

Sie brauchte einen Plan. Doch unbewaffnet und in Unterzahl, wie sie war, war es nicht leicht, sich eine effektive Strategie zu überlegen. Sie fragte sich, ob Nicolas sich auf dem Schiff befand. Ein Schauer überlief sie, als sie an all die grausamen Dinge dachte, die dem kleinen Jungen auf See zustoßen konnten.

Beim Klang von Schritten riss sie den Kopf herum. Im Gegenlicht der Scheinwerfer von der Brücke sah sie zwei Männer auf sich zukommen. Ihr Herz fing an zu rasen. Sie schaute sich hektisch um, sprang über ein Seil und duckte sich in eine Nische.

Die Männer blieben keine drei Meter von ihr entfernt stehen. Wenn sie sich auch nur einen Zentimeter in die falsche Richtung bewegte, würden sie sie sehen. Jess drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, sich so flach wie möglich zu machen. Dabei betete sie, dass die Männer nicht näher kommen würden.

Eine volle Minute verging. Sie wagte es, den Kopf ein wenig vorzuschieben und um einen Stahlträger herum zu lugen. Die Männer trugen beide dunkle Hosen und Jacken mit dem aufgestickten Logo der Reederei und rauchten. Neben ihnen an der Schiffswand lehnten hässlich aussehende Maschinenpistolen. Na super, dachte Jess.

„Wir sollten innerhalb der nächsten Stunde ablegen.“ Der eine Mann sprach mit Akzent.

„Ich werde mich wesentlich besser fühlen, wenn wir erst einmal auf See sind.“ Der zweite Mann holte einen Flachmann aus einer Jackentasche, nahm einen großen Schluck und reichte ihn dann seinem Kumpel. „Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind irgendwelche Probleme, weil Mummert versagt hat.“

„In einer weiteren Stunde werden wir internationale Gewässer erreicht haben. Dann sind wir in Sicherheit.“ Er zeigte mit dem Daumen auf eine luftdicht verschlossene kleine Luke zu seiner Linken. „Vielleicht können wir sogar ein paar Kostproben unserer Fracht nehmen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich mach das hier wegen des Geldes“, erwiderte der andere Mann, „und nichts anderem.“

„Ganz schön selbstgerecht für einen Schmuggler.“

„Tja, die Vorstellung, das Kind zu erledigen, gefällt mir nun mal nicht.“

„Dann denk an die Alternative, und schon wird es leichter.“ Er beugte sich vor und nahm sein Gewehr in die Hand.

Der zweite Mann steckte den Flachmann wieder weg und nahm auch seine Waffe. „Lass uns unsere Runde zu Ende drehen und dann nach unten gehen. Mir wird langsam kalt, und in der Messe ist ein Kartenspiel im Gange.“

Nachdem die Männer außer Sicht waren, blieb Jess noch eine weitere volle Minute reglos stehen. Als sie ihren Beinen wieder traute, trat sie aus der Nische. Ihr war ganz schwindelig von dem, was sie gehört hatte.

„Die Vorstellung, das Kind zu erledigen, gefällt mir nun mal nicht.“

„Denk an die Alternative, und schon wird es leichter.“

Sie wusste, dass sie über Nicolas sprachen. Was sie jedoch nicht verstand, war, wie zwei menschliche Wesen etwas so Grausames wie die Ermordung eines unschuldigen Kindes einfach so hinnehmen konnten. Der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen.

Doch Jess gestattete sich jetzt nicht zu weinen. Dazu hatte sie keine Zeit. Die Dorian Rae würde bald auslaufen. Sie musste Nicolas finden, bevor das Schiff den Hafen verließ.

Sie schaute zu der Luke, auf die der Mann gedeutet hatte. Ein Schauer überlief sie bei dem Gedanken, sich erneut unter Deck zu begeben. Sie und Madrid hatten gesehen, wo die Frauen gefangen gehalten wurden. Sie hatte das Blut gesehen, die Handschellen.

„Vielleicht könnten wir sogar ein paar Kostproben unserer Fracht nehmen, wenn du verstehst, was ich meine.“

Die Worte des Mannes hallten durch ihren Kopf. Hatten sie über menschliche Fracht gesprochen? Befanden sich derzeit Frauen an Bord? Bis zu diesem Moment war Jess davon ausgegangen, dass die Männer illegale Immigranten in die Vereinigten Staaten schmuggelten. Doch brachten sie auch Frauen außer Landes? Und wenn ja, wen? Ausreißer? Und wohin?

Das ganze Unterfangen bereitete ihr Übelkeit.

Nach einem stärkenden Atemzug drehte sie das Rad, öffnete die Luke und trat in das Halbdunkel hinein. Die Luke schloss sich mit einem lauten Klicken hinter ihr. Um sie herum quietschten und klopften die Stahlrohre, und die Decke knarrte. Jess wurde ein wenig panisch, doch sie unterdrückte das Gefühl mit reiner Willenskraft. Sie konnte jetzt nicht umkehren. Sie war Nicolas’ einzige Rettung.

Langsam und vorsichtig schlich sie den engen Korridor hinunter. Ihre Schuhe glitten beinahe lautlos über den Stahlboden. Nach fünf Metern kam sie an eine weitere Luke. Sie packte das Rad, drehte es zwei Mal, und die Luke öffnete sich ächzend. Sie ging hindurch. Ein weiterer Korridor erstreckte sich vor ihr. Der Geruch von Moder, öligem Wasser und etwas anderem, Dunklem, Erdigem stieg ihr in die Nase. Jess blinzelte in die Dunkelheit, doch der Gang war menschenleer. Sie zog die Taschenlampe aus dem Hosenbund und knipste sie an. Der Lichtstrahl erhellte stählerne Wände, die rot vor Rost waren und an denen das Kondenswasser stand.

Sie glaubte, dass sie und Madrid am Abend zuvor denselben Weg genommen hatten, doch irgendwie erkannte sie nichts wieder. Als sie den Korridor weiter hinunterschlich, wünschte sie sich verzweifelt eine Zeichnung, einen Plan des Schiffes. Nicolas konnte überall sein, und sie hatte keine Ahnung, wo sie nach ihm suchen sollte.

Der Klang von Stahl auf Stahl jagte ihren Puls in die Höhe. Keuchend wirbelte Jess herum und hob die Taschenlampe. Panik erfasste sie beim Anblick der zwei Männer, die den Gang versperrten und ihre hässlichen Gewehre auf sie gerichtet hielten.

„Sieh an, sieh an, wen haben wir denn da?“