12. KAPITEL
Das Wasser versetzte ihr mit eiskalter Hand eine schallende Ohrfeige und verschluckte sie dann. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, und die Kälte stahl den kleinen Rest, der noch übrig war.
Es war, als würde sie in einen bodenlosen eisigen Abgrund gezogen. Jede Faser ihres Körpers schrie vor Schock. Sie wusste nicht, wie tief sie unter Wasser war. Sie wusste nicht, welches Grauen sie über ihr erwartete – oder unter ihr. Das Einzige, was sie in diesem Moment wusste, war, dass sie leben wollte.
Jess strampelte mit aller Macht, doch ihre Kleidung und Schuhe fühlten sich an wie Bleigewichte. Sie wusste nicht, ob sie irgendwelche Fortschritte machte, doch die Alternative, nämlich zu ertrinken, war zu schrecklich, um überhaupt darüber nachzudenken.
Einen Augenblick später durchbrach sie hustend und keuchend die Wasseroberfläche. Regen und Wind peitschten auf sie ein. Eine Welle brach über ihr zusammen, und sie schluckte einen Mundvoll Meereswasser. Auf ihrer Zunge lag der Geschmack nach Salz, Panik und ihrer eigenen Angst. Sie fragte sich, ob Madrid vom Schiff heruntergekommen war. Ob er überlebt hatte. Ob sie ihn je wiedersehen würde. Der Gedanke an ihn gab ihr die Kraft, die sie brauchte.
Wasser tretend schaute sie sich um und versuchte sich zu orientieren. Über ihr erhob sich das Schiff wie ein gigantischer Eisberg. Ein einziger Scheinwerfer schien nach unten, doch er war gute zwanzig Meter von der Stelle entfernt, an der sie ins Wasser gesprungen war. Sie suchten nach ihr. Was bedeutete, sie hatte nicht viel Zeit.
Schnell drehte sie sich um und erblickte den Pier in knapp fünf Metern Entfernung. Da er sich zwei Meter über der Wasseroberfläche befand, würde es kein leichter Ausstieg werden. Doch Jess hoffte, dass es irgendwas gab, vielleicht ein loses Seil, an dem sie sich hinaufhangeln könnte.
Zum Pier zu schwimmen schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Kälte raubte ihr schnell die Kraft. Einmal glitt der Lichtkegel des Suchscheinwerfers nur wenige Meter an ihr vorbei, und sie musste sich unter die Wasseroberfläche ducken. Sie wusste, Haie waren ihre geringste Sorge, wenn sie bedachte, dass Männer mit automatischen Waffen hinter ihr her waren. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, an die ganzen unheilvollen Kreaturen zu denken, die in der Dunkelheit unter ihr lauerten.
Als ihre Hände endlich Kontakt mit dem Beton des Piers hatten, war sie nicht sicher, ob sie noch die Kraft hatte, aus dem Wasser zu klettern. Mehrere Sekunden klammerte sie sich einfach an den Pier, zitternd vor Kälte und Erschöpfung und heftig nach Luft schnappend. Ihre Zähne klapperten, als sie sich umschaute.
An Bord der Dorian Rae waren immer noch Lichter zu sehen, doch der Suchscheinwerfer war ausgeschaltet worden. Hieß das, sie hatten aufgehört, nach ihr zu suchen? Und wo war Madrid?
Sie wusste, das Wasser stahl ihr wertvolle Körperwärme und Kraft. Deshalb tastete Jess sich an dem mit Muscheln und Algen besetzten Pier entlang, bis sie an ein Seil kam, das von einer alten Klampe herunterbaumelte. Wenn sie jetzt nur die Kraft finden könnte, sich aus dem Wasser nach oben zu ziehen.
Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als etwas Großes sie streifte. Hai! war der einzige Gedanke, zu dem ihr Kopf in der Lage war. Sie griff nach dem Seil, doch bevor sie es erreichte, legte sich eine Hand über ihren Mund.
„Ruhig, Jess. Ich bin’s.“
Einige panikerfüllte Sekunden verstrichen, bevor die Worte bei ihr ankamen und die vertraute Stimme ihre angegriffenen Nerven beruhigte. Als er seine Hand von ihrem Mund löste, wäre Jess an ihrer Erleichterung beinahe erstickt. „Madrid …“
„Bist du verletzt?“
„N-nein. Mir ist n-nur k-k-kalt.“
Er schaute sich um. „Ich bringe dich hier raus.“
Sie griff nach dem Seil. „Wir können herausklettern.“
Er zog sie ins kalte Wasser zurück. Der Drang, sich zu wehren, war stark. Mehr als alles andere wollte sie endlich aus diesem eisigen Wasser raus. Doch seine Worte ließen sie innehalten. „Wir sind keine zehn Meter von der Hafenpolizei entfernt. Wenn du hier rauskletterst, fängst du dir für deine Mühe lediglich eine Kugel ein.“
Das überzeugte sie.
„Halt dich an mir fest“, sagte er leise.
Sie schaute ihn an, und ihre Blicke trafen sich. Ohne zu zögern, hakte sie ihre Finger hinter seinen Gürtel.
„Nein, so.“ Er nahm ihre Hände und zog sie um seine Taille. Dann zeigte er nach rechts. „Ich werde dich zu der alten Slipanlage bringen.“
Die Anlage war ihr bisher gar nicht aufgefallen. Der Beton war bröcklig und von hüfthoch wachsendem Unkraut überzogen. Doch es war der einfachste Weg aus dem Wasser. Der Bewuchs würde ihnen sogar ein wenig Deckung bieten.
Er schob sie vom Pier weg, und sie spürte, wie seine Muskeln sich unter ihren Handflächen anspannten, als er losschwamm. Jess wollte ihn mit einem leichten Beinschlag unterstützen, doch ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie Bleigewichte an den Knöcheln. Ihre Füße waren komplett taub. Das Eiswasser schnitt wie eine Rasierklinge in ihre Haut. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zittern. Es war, als wäre sie aus ihrem Körper herausgeglitten und schaute nun von oben auf ihn herab; sie sah zwei Fremde, die sich durch das kalte schwarze Wasser kämpften.
Madrid benötigte nur wenige Minuten, um die Slipanlage zu erreichen, doch es fühlte sich wie Stunden an. Er betrat die Betonrampe. „Ganz vorsichtig.“
Jess hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich noch immer an ihm festhielt. Doch als sie losließ, sank sie sofort zurück ins Wasser. Die Erschöpfung zerrte an ihr, und die Dunkelheit lockte sie, bot ihr einen Platz, der warm und sicher war.
„Verdammt noch mal!“ Madrids Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr durch.
„Was ist los?“ Überrascht merkte sie, dass sie lallte.
„Die Kälte hat dich erwischt. Du bist unterkühlt.“
„Bin okay.“ Aber egal, wie sehr sie sich bemühte, sie bekam die Beine nicht unter ihren Körper.
Starke Arme umschlangen sie. Dann wurde sie hochgehoben. Sie wollte Madrid fragen, was er da tat, wohin er sie brachte, aber ihr Mund hatte mit einem Mal vergessen, wie man sprach. Ihr Geist war wirr und durcheinander; sie schien keinen klaren Gedanken fassen zu können.
Wie im Traum bekam sie mit, dass er sie über den unkrautüberwucherten Asphalt trug. Sie sorgte sich, dass die Männer vom Schiff sie sehen konnten, als er sie ins Auto setzte. Doch sie nahm an, keiner von ihnen beiden war in der Verfassung, etwas dagegen zu unternehmen. Sie hörte den Motor starten und sah, dass Madrid in den Rückspiegel schaute.
Und dann glitt sie, wie in das Wasser, das ihr beinahe das Leben genommen hätte, in die Dunkelheit hinab und trieb davon.
Madrid brachte sie an den einzigen Ort, der ihm einfiel. Als Agent hatte er mehrere Zufluchtsorte. Geheime Plätze, von denen niemand außer ihm etwas wusste. Das Wohnmobil gehörte nicht zu seinen Lieblingen, aber es war einsam, mobil und sicher. Für den Moment musste es reichen.
Er war sich nur zu bewusst, wie gefährlich eine Unterkühlung war. Vor fünf Jahren hatte er deswegen einen Kollegen verloren. Kälte und Wasser waren lautlose Mörder, die ein Leben stehlen konnten wie ein Dieb in finsterer Nacht. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass sie ihm Jess nahmen.
Ihr Gewicht spürte er gar nicht, als er sie zum Wohnmobil und die Stufen hinauftrug. Er schloss die Tür auf und öffnete sie. Die Luft roch ein wenig abgestanden, aber es war warm und trocken. Das war mehr, als er im Moment verlangen durfte.
Auf der schmalen Sitzbank legte er Jess ab. Sie sackte wie ein nasser Sack zusammen. „Halt durch, Baby“, flüsterte er. „Ich bin gleich wieder da.“
Schnell sprang er die Stufen hinunter und ging zu dem Generator, der am Heck des Wohnmobils stand. Er sprang beim ersten Versuch an. Madrid sorgte immer dafür, dass seine Sachen voll funktionstüchtig waren. In seinem Beruf wusste er nie, wann er sie brauchen würde, und Murphys Gesetz war ihm nur zu vertraut.
Zurück im Inneren schaltete er die Lichter an. Ein Anflug von Panik ergriff ihn, als er sah, wie blass Jess war. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, abgesehen von ihren Lippen, die ganz blau waren. „Verdammt!“
Er überlegte nicht lange, sondern fing an, ihr die nasse Kleidung vom Leib zu ziehen. Seine Hände zitterten, als er das durchweichte Sweatshirt über ihren Kopf zog. Sie wehrte sich und versuchte, ihn von sich zu stoßen, doch Madrid legte sie sanft wieder hin. „Ganz ruhig“, sagte er. „Ich muss dich abtrocknen und wieder warm kriegen.“
„Geh weg.“
„Keine Chance.“
Doch seine Hände zögerten. Jess lag nur in Jeans und BH vor ihm. So verletzlich, wie eine Frau nur sein konnte. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um die weiche seidige Haut ihres Bauchs zu bemerken – oder wie lang und schlank ihre Beine waren. Sie befanden sich mitten in einer lebensbedrohlichen Extremsituation. Doch als er nach dem Knopf ihrer Jeans griff, fielen ihm all diese Dinge und noch viel mehr auf.
Sie schob ihn von sich, als er sich an ihrem Reißverschluss zu schaffen machte. „Nicht.“
„Ich muss dich aufwärmen“, sagte er und nahm sanft ihre Hände fort.
Breite Hüften und ein flacher Bauch wurden sichtbar. Mit zusammengebissenen Zähnen bemühte er sich, die Anziehung zu ignorieren, die an ihm zerrte. Die Lust, die ihm heiß durch die Adern schoss, gab ihm das Gefühl, ein Spanner zu sein. Doch obwohl Madrid sich immer als Profi ansah, war er sich doch auch stets seiner diversen Schwächen bewusst.
„Den Weg solltest du lieber gar nicht erst einschlagen, Kumpel“, murmelte er.
Zu spät. Er hatte sie bis auf die Unterhose und den BH ausgezogen, und für eine volle Minute konnte er nichts anderes tun, als dazustehen und ihre Schönheit in sich aufzunehmen.
Erschüttert von seiner Reaktion auf sie, gab er sich eine mentale Ohrfeige. Sie brauchte Wärme und Ruhe und keinen ausgebrannten Exagent, der sie anstarrte, während sie halb bewusstlos vor ihm lag.
„Niedriger kannst du echt nicht mehr sinken, Madrid“, grollte er und öffnete einen Oberschrank. Er zog zwei Decken und ein Kissen aus dem Regal und kehrte zu der Sitzbank zurück. Jess rührte sich, als er das Kissen unter ihren Kopf schob, doch sie behielt die Augen geschlossen. Was vermutlich ganz gut war, denn sonst hätte er sich nur in ihnen verloren.
Erst als er sie zugedeckt hatte, fiel ihm auf, dass es ihm selber nicht viel besser ging. Seitdem sie den Hafen verlassen hatten, lief er auf Autopilot, doch die Kälte hatte auch an seiner Kraft gezehrt. Er fühlte sich, als würde er durch dichten Nebel waten. Wenn jetzt jemand mit einer Waffe vor ihm stünde, könnte er nicht viel gegen ihn ausrichten.
Er ließ Jess auf der Sitzbank zurück und zog sich aus. Dann trat er unter die Dusche. Das Wasser war noch nicht richtig heiß, aber warm genug, um seine Körpertemperatur wieder in den Normalbereich zu bringen. Auf mehr konnte er im Moment nicht hoffen.
Das Gesicht dem Duschstrahl zugewandt spürte er, wie seine Muskeln sich langsam entspannten. Er wusste, er sollte darüber nachdenken, das Geheimnis um Angelas Tod zu lösen. Darüber, wie er mit dem Ende seiner Karriere umgehen sollte.
Doch ihm ging Jess einfach nicht aus dem Kopf. Er sah ihr Gesicht vor sich. Das Bild seiner Hände, wie sie über ihre milchige Haut glitten. Ihre Seufzer, als er sie berührt hatte. Die Art, wie seine Finger durch ihr seidiges Haar streiften …
Es hatte ihn schwer erwischt. Was die MIDNIGHT Agency betraf, war sie eine von den Strafverfolgungsbehörden gesuchte Mordverdächtige. Er fragte sich, ob Sean Cutter es inzwischen rausbekommen hatte. Ob seine Beziehung zu Jess seinen Sturz in Ungnade noch beschleunigen würde.
„Erst einmal musst du die Nacht überleben“, murmelte er und ließ das Wasser auf seinen Nacken prasseln.
Alles, wofür er je gearbeitet hatte, begann, auseinanderzubrechen. Ein Geschäft, in das er beinahe zehn Jahre investiert hatte. Ein Unternehmen, das ihm einen Lebensstil ermöglichte, von dem er ansonsten nicht einmal hätte träumen können.
Und alles nur wegen eines zweitklassigen Agents und dieser Jess Atwood. Eine kleine Kellnerin, verflucht noch mal!
Sie waren an Bord der Dorian Rae gewesen. In der Hand seiner Männer sogar. Aber die hatten versagt, und nun waren die beiden entwischt. Er konnte nur davon ausgehen, dass sie alles wussten. Dass sie gefährlich nah dran waren, alles auffliegen zu lassen, für das er so hart gearbeitet hatte.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Überlegungen. „Es ist offen“, sagte er barsch.
Ein Mann in Uniform betrat das elegant eingerichtete Büro mit Blick über die San Francisco Bay. „Wir haben ein Problem.“
„Nach dem, was gestern Nacht passiert ist, haben wir kein Problem, sondern eine verdammte Katastrophe.“ Er lehnte sich in seinem mit Leder bezogenen Bürostuhl zurück und funkelte den Polizisten an. „Wie in Teufels Namen haben Sie es so weit kommen lassen?“
„Ich habe meine besten Männer darauf angesetzt.“
„Einige meiner Kunden werden langsam ungeduldig. Und nervös. Nervöse Kunden zahlen nicht.“
„Ich brauche nur noch ein wenig Zeit …“
„Wir haben aber keine Zeit mehr!“ Er richtete sich wieder auf, legte seine Hände auf die Schreibtischplatte und verschränkte die Finger. „Sie ist eine Kellnerin, verdammt noch mal!“
Der andere Mann errötete. „Es ist der Agent, der uns Probleme bereitet.“
„Ich brauche niemanden, der mich auf Probleme hinweist. Ich brauche jemanden, der sie löst, und zwar gestern schon. Haben wir uns verstanden?“
„Wir tun alles, was wir können.“
„Und wieder einmal haben Sie Ihre Inkompetenz bewiesen.“ Als er das kalte Aufblitzen in den Augen des Cops sah, ermahnte er sich, vorsichtig zu sein. Der andere konnte gefährlich sein, wenn er zu stark unter Druck geriet. Deshalb beschloss er, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Sobald die Krise vorüber war, würde er sich um ihn kümmern. Im Moment interessierte ihn nur, wie er sein Projekt und seinen Ruf retten konnte.
„Lassen Sie mich ein paar Anrufe tätigen“, sagte er. „Ich hole ein paar Spezialisten dazu.“
Der Cop schaute ihn fragend an. „Was für Spezialisten?“
„Spezialisten, die helfen können, Madrid ein für alle Mal von der Bildfläche verschwinden zu lassen.“
Der Uniformierte nickte. „Was wollen Sie, dass ich in der Zwischenzeit tue?“
„Ich möchte, dass Sie die beiden finden.“ Er nahm den Telefonhörer in die Hand. „Und wenn Sie das getan haben, möchte ich, dass Sie sie beide töten.“