9. KAPITEL

Bis vor zwei Tagen hatte Jess noch nicht einmal eine Schusswunde gesehen, ganz zu schweigen davon, selber eine erlitten zu haben oder bei jemandem, der angeschossen worden war, Erste Hilfe leisten zu müssen. Aber der Mord an Angela hatte alles verändert. Sie war nicht zimperlich; erst vor wenigen Tagen hatte sie ihre eigene Schusswunde versorgt. Doch jemand anderen zu verarzten war etwas vollkommen anderes.

Madrid hatte seine Jacke über die Rückenlehne des Stuhls gehängt und war gerade dabei, sein Hemd auszuziehen. In dem gelblichen Schein der Kerzen sah sie breite Schultern und eine kräftige Brust mit feiner dunkler Behaarung. Sie schluckte schwer, als er seinen Waschbrettbauch entblößte. Er war muskulös, aber nicht zu sehr. Sie wusste, angesichts der Umstände war es albern, darüber überhaupt nachzudenken, aber sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen so attraktiven männlichen Körper gesehen.

Sie wusste nicht, ob es an seiner Männlichkeit lag oder an dem Gedanken, eine potenziell gefährliche Wunde verarzten zu müssen, aber sie fing auf einmal an zu zittern. Ihre Nerven waren bis aufs Äußerste gespannt, ihre Knie weich – und ihre Finger bebten. In Anbetracht dessen, was sie gleich zu tun gedachte, waren das keine guten Voraussetzungen.

Sie nahm den Erste-Hilfe-Kasten, öffnete ihn, schloss ihn und wiederholte das Ganze. Als sie nicht mehr wusste, was sie tun sollte, drehte sie sich wieder zu Madrid um.

Er hatte sich auf den Stuhl gesetzt, und so, wie er sich zurücklehnte, hätte es fast entspannt gewirkt, wenn er nicht seinen linken Arm halten würde. Jess wollte das nicht tun. Sie wollte ihn nicht behandeln oder die Wunde anschauen. Aber sie hatten niemanden, den sie um Hilfe bitten, keinen Ort, an den sie gehen konnten. Daher wusste sie, dass sie keine Wahl hatte.

Sie zog einen Stuhl neben seinen, setzte sich und schaute sich die Wunde an. Im Kerzenlicht sah das Blut schwarz aus. Die Haut um die Wunde herum war geschwollen, doch es war zu viel Blut, um die Verletzung wirklich beurteilen zu können.

„Im Erste-Hilfe-Kasten befindet sich vermutlich Alkohol.“

Der Klang von Madrids Stimme erschreckte sie. Sie schaute ihn an und sah, dass sein Blick auf ihr ruhte. Die Reste ihrer Selbstbeherrschung mühsam zusammenhaltend, griff sie nach dem Kasten. Und tatsächlich, ein gutes Dutzend verpackte Alkoholtupfer lagen neben einer Rolle steriler Gaze und einem Set zum Nähen von Wunden.

„Ein ganz schön umfangreiches Erste-Hilfe-Set“, murmelte sie.

„Für unseren Beruf ist das ganz hilfreich.“

Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, während sie das Päckchen öffnete und sorgfältig ihre Hände desinfizierte.

„Ihre Hände zittern.“

„Tja, Schusswunden machen mich nun mal nervös.“

Er streckte seinen guten Arm aus und berührte sie. „Für den Moment sind wir sicher“, sagte er, den Grund für ihre Anspannung fehlinterpretierend. „Wir haben ein paar Stunden. Versuchen Sie, sich zu entspannen.“

„Das ist nur ein Teil von allem, Madrid.“ Sie zeigte auf seine Wunde. „Die sieht böse aus. Und ich bin in dem hier nicht gut. Ich will Ihnen nicht wehtun.“

„Ich sage Bescheid, wenn es schmerzt.“

„Falls Sie nicht vorher ohnmächtig werden.“

„Ich werde nicht ohnmächtig, okay?“

„Als ob Sie das kontrollieren könnten.“

Mit verzerrtem Gesicht verdrehte er seinen Arm so, dass er die Wunde inspizieren konnte. „Ist die Kugel rein-und wieder rausgegangen?“

Sie hatte bislang vermieden, so genau hinzuschauen, aber jetzt hatte sie keine andere Wahl mehr. „Es ist ein bisschen geschwollen. Ich muss erst das Blut abwischen, bevor ich Näheres sagen kann.“

Er reichte ihr einen Alkoholtupfer. „Tun Sie, was Sie können. Und machen Sie sich keine Gedanken darüber, dass Sie mir wehtun könnten. Ich halte das aus.“

Aber würde er es auch aushalten, wenn sie anfinge, in der Wunde herumzustochern? Sie atmete tief durch und fing an, das Blut mit dem alkoholgetränkten Tuch abzuwischen.

Madrid saß ruhig wie ein Stein da und beobachtete sie. „Keine Austrittswunde“, sagte er. „Probieren Sie mal, ob Sie die Kugel ertasten können.“

Jess befühlte den Arm so vorsichtig wie möglich und zog die Hand schnell weg, als Madrid einen zischenden Laut ausstieß. „Tut mir leid.“

„Holen Sie sie raus.“

Sie schaute auf. Er sah sie eindringlich an. In dem dämmrigen Licht sah sie den Schweißfilm auf seiner Stirn. Den grimmigen Zug um seinen Mund. „Madrid …“

„Wenn Sie es nicht tun, wird die Wunde sich entzünden.“ Er hielt inne. „Kommen Sie, Jess. Sie steckt nicht tief drin.“

Ihre eigene Verletzung war nicht ansatzweise so schlimm gewesen. Sie hatte stark geblutet, aber die Kugel hatte ihren Arm nur gestreift. Trotzdem hatte sich die Wunde entzündet, und es hätte wirklich gefährlich werden können, wenn Madrid ihr nicht das Antibiotikum gegeben hätte.

„Madrid, wir müssen Sie zu einem Arzt bringen.“

„Ich muss funktionieren“, gab er angespannt zurück. „Also entweder Sie holen das verdammte Ding da jetzt raus oder ich tue es.“

Jess konnte sich nicht mal ansatzweise vorstellen, welche Schmerzen es ihm bereiten musste, wenn sie die Kugel herausholte. Doch wie bei so vielen Dingen, die im Moment passierten, war ihr die Entscheidung längst abgenommen worden.

Im Erste-Hilfe-Kasten fand sie eine Schachtel Ibuprofen und reichte sie ihm. „Die werden Sie brauchen.“

„Das ist ein bisschen wie der Versuch, einen Waldbrand mit einer Wasserpistole zu löschen.“ Er schluckte die Tabletten trocken hinunter und legte seinen Arm dann vorsichtig auf dem Tisch ab. „Stellen Sie sich einfach vor, es wäre ein Splitter.“

„Das ist nicht hilfreich.“

Im Licht der Taschenlampe suchte Jess eine sterile Nadel, Pinzette und Schere heraus. Ihr Herz klopfte schnell und hart, als sie sich wieder Madrid zuwandte. Doch ihre innere Anspannung war nicht allein auf die Wunde zurückzuführen. Ein Teil, das wusste sie, kam daher, dass er kein Hemd trug. Und er einfach zu nah war. Zu männlich. In den gesamten achtundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie noch nie eine Brust wie die von Mike Madrid gesehen.

Sie zog die Kerze ein wenig näher heran und legte seinen Arm so hin, dass sie besser drankam. Jetzt sah sie es auch, die Beule unter der Haut, wo die Kugel steckte. Sie nahm die Pinzette in die Hand und berührte die Wunde. Als er nicht zuckte, schob sie die sterile Spitze durch das Loch in der Haut. Sie spürte, wie seine Muskeln sich unter ihren Fingern anspannten, doch er gab keinen Laut von sich.

„Gleich haben wir’s.“ Sie schob die Pinzette tiefer in die Wunde. Ein Seufzer löste sich zischend von seinen Lippen, doch sie hörte nicht auf. Noch ein kleines Stück, dann berührte die Pinzette die Kugel. Jetzt musste sie sie nur noch zu fassen kriegen.

Als sie die Pinzette öffnete, keuchte Madrid laut auf. Sie packte die Kugel, und frisches Blut rann an seinem Arm herab. „Mein Gott …!“

„Lassen Sie es bluten“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Holen Sie die Kugel raus. Jetzt.“

Obwohl es in dem Haus kalt war, sammelten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn, als sie die Pinzette vorsichtig herauszog. Ein kurzer Widerstand, dann schaute die bleierne Spitze heraus.

„Ich hab sie.“

Madrid verlagerte das Gewicht ein wenig, und Jess hatte den Eindruck, er halte den Atem an. Schnell riss sie ein weiteres Alkoholpäckchen auf und betupfte damit die Wunde. „Ich denke nicht, dass Sie genäht werden müssen.“

„Gut, denn ich würde Ihnen nur ungern zumuten, mich vom Boden aufzuheben.“

Sie schaute ihn an – er war kalkweiß im Gesicht. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen wehgetan habe.“

„Ist schon okay.“ Er warf einen Blick auf die Wunde und schloss für einen Moment die Augen. „Das haben Sie gut gemacht.“

„Lassen Sie mich die Verletzung noch schnell säubern.“ Sie öffnete ein weiteres Päckchen. „Der Alkohol wird ein wenig brennen.“

„Besser, als an einer Infektion zu sterben.“

„Oder das Richtige zu tun und in ein Krankenhaus zu fahren.“ Er zuckte nicht einmal, als sie die offene Wunde säuberte. Einer von ihnen zitterte, das merkte sie, aber sie hätte nicht sagen können, ob er oder sie es war.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie den Verband angelegt hatte, und als sie fertig war, erhob sie sich mit zittrigen Beinen. Madrid beugte sich auf dem Stuhl vor und legte seinen Kopf auf dem Tisch ab, als wenn die Tortur ihn sämtliche Kraft gekostet hätte.

„Eines müssen Sie mir versprechen …“, sagte sie und fing an, die Sachen zurück in den Erste-Hilfe-Kasten zu packen.

Doch als sie sich zu ihm umdrehte, war Madrid ohnmächtig geworden.

Madrid wachte bei Tageslicht auf. Für einen Moment war er leicht überrascht, dass er die Nacht überstanden hatte. Schmerz pochte in seinem linken Arm. Über ihm tanzten Staubflocken in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen.

Er setzte sich auf und fluchte, als der Schmerz durch seinen Arm schoss. Schnell legte er sich wieder hin und war sich einen unbehaglichen Augenblick nicht sicher, wo er war. Dann kamen die Erinnerungen an alles, was in der Nacht zuvor geschehen war, mit aller Macht zurück. Er und Jess, wie sie erst in Angelas Haus und dann in das Polizeirevier eingebrochen waren. Das Geräusch eines Schusses. Wie er durch die Nacht gerannt war. Der Notruf an die Agency. Jess, die ihm die Kugel aus dem Arm geholt hatte.

Die Erkenntnis, dass sie immer noch in Gefahr schwebten, ließ ihn sich wieder hinsetzen – dieses Mal etwas vorsichtiger. Er lag auf einem alten Sofa und war mit einem Laken zugedeckt. Auf dem Boden neben ihm lag Jess auf der Seite und zitterte im Schlaf. Sie hatte keine Decke. Kein Kissen. Beides hatte sie ihm gegeben.

„Verdammt!“, flüsterte er, und irgendetwas in seiner Brust wurde ganz weich.

Selbst mit den zerzausten Haaren und vollkommen ungeschminkt traf ihn ihre Schönheit mitten ins Herz. Sie hatte sich in seine Jacke eingewickelt, doch diese bedeckte sie nicht vollständig, sodass er sich ihrer kurvigen Hüften und der sanften Wölbung ihrer Brust nur zu bewusst war. Dass sie ihm ihre eigene Bequemlichkeit geopfert hatte, berührte ihn auf eine Weise, wie er lange nicht mehr berührt worden war.

Eine mächtige Welle der Zuneigung erfasste ihn, gefolgt von einem Anflug sexuellen Interesses. Keines von beidem wollte er zugeben. Er wusste nur zu gut, was den Leuten zustieß, an denen ihm etwas lag. Aus irgendeinem Grund hatte Gott dafür gesorgt, dass Menschen, die er liebte, nie lange genug überlebten, damit er ihnen ihre Gefühle gestehen konnte. Erst seine Eltern. Dann seine Frau und sein Kind. Angela. War diese Frau die Nächste auf seiner schicksalshaften Liste?

„Guten Morgen!“

Die unerwartete Begrüßung ließ ihn zusammenzucken. Sein Blick glitt zu ihr. Sie hatte die Jacke bis ans Kinn gezogen und streckte sich wie eine Katze. „Wie geht es Ihnen?“

Angesichts dessen, wie eng die Jeans sich über ihre Hüften spannten, glaubte er nicht, dass die Wahrheit angemessen wäre, also sagte er nur: „Noch ein wenig wie durch den Wolf gedreht.“

Er sah zu, wie sie aufstand. Jedes männliche Hormon in seinem Körper erwachte zum Leben, als sie durch den Flur ging, wo sich, wie er vermutete, das Badezimmer befand. Er lag einen Moment lang da und befahl seiner Libido, sich wieder zu beruhigen. Einen Herzschlag später hörte er das Rauschen von Wasser und stellte fest, dass die Mission über eine funktionierende Dusche verfügte.

Stumm dankte er der MIDNIGHT Agency und rappelte sich auf. Der Schmerz in seinem Arm flammte wieder auf, als er sich auf den Weg in die Küche machte und dort in den Schränken nach Kaffee suchte. Und tatsächlich, zwei Packungen Instantkaffee funkelten ihm wie Goldbarren entgegen.

Als er zwei Tassen davon zubereitet hatte, war Jess auch mit ihrer Dusche fertig. Ihr Haar war nass und lockig, ihre Wangen waren rosig. Madrid schob ihr eine der Tassen hin und versuchte, nicht darauf zu achten, wie das alte Sweatshirt sich an ihre Kurven schmiegte.

„Wo um alles in der Welt haben Sie Kaffee gefunden?“, fragte sie.

„Direkt neben den Energieriegeln und dem Campingkocher.“ Er schaute ihr in die Augen, und auf einmal fiel es ihm ganz leicht zu lächeln, obwohl sein Arm höllisch wehtat und er dringend eine Dusche brauchte.

„Schokolade?“

„Natürlich.“ Er reichte ihr einen der Riegel.

Etwas Warmes, Behagliches flatterte in seinem Magen auf, als sie sein Lächeln erwiderte. Verdammt, sie hatte das hübscheste Lächeln, das er je gesehen hatte!

Ihm fiel auf, dass er das Einzige tat, was er nicht tun sollte, und ging hinüber zur Arbeitsplatte, wo die Fotos lagen, die er letzte Nacht aus dem Polizeirevier in Lighthouse Point hatte mitnehmen können.

„Ich dachte, wir schauen uns das hier noch mal genauer an und sehen, ob wir herausfinden, was zum Teufel hier los ist.“ Er ließ sich auf einem der Stühle nieder und breitete die sechs Fotos auf dem Küchentisch aus. „Ich wünschte, ich hätte noch mehr mitnehmen können.“

„Das ist nicht so leicht, wenn auf einen geschossen wird.“ Jess nahm den Stuhl neben seinem und betrachtete die Fotos. „Wonach suchen wir?“

„Nach etwas, das uns einen Hinweis darauf geben kann, wo diese Frauen festgehalten werden.“ Jetzt könnte er wieder gut die Bildbearbeitungssoftware aus dem MIDNIGHT-Haupt-quartier gebrauchen, aber er wusste, er würde sich auch dieses Mal auf sein bloßes Auge verlassen müssen. „Logos auf TShirts. Autokennzeichen. Straßenschilder.“ Er seufzte. „Wir wissen ja nicht einmal, ob die Frauen sich überhaupt in den Vereinigten Staaten befinden.“

„Aber Sie glauben, dass sie schlussendlich hier landen werden, oder?“

Er verzog das Gesicht. „Ja.“

Sie studierten die spärlichen Beweise, die vor ihnen lagen. Nach einer Weile beugte Jess sich vor und legte ihren Finger auf eines der Fotos. „Was ist hiermit?“

Auf dem Bild waren zwei verängstigt aussehende Frauen mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen zu sehen. Madrid hatte nicht erkennen können, wo sie standen, weil der Hintergrund so verschwommen war. Doch in der rechten hinteren Ecke befand sich ein rundes Bullauge. Und durch dieses Bullauge waren einige Buchstaben zu erkennen. „X-A-N-A“, buchstabierte er.

„Was soll das heißen?“

Sein Herz klopfte schneller. „Ich kann nicht glauben, dass mir das nicht früher aufgefallen ist.“

„Was denn?“

„Das sieht aus wie ein Teil eines Namens von einem Schiff.“ Er schaute sie an.

„Das Schiff, auf dem die Frauen festgehalten werden?“, fragte sie aufgeregt.

Er musste den Blick förmlich von ihr losreißen, um sich wieder auf das Foto zu konzentrieren. „Was wir da durch das Fenster sehen, ist der Rumpf eines anderen Schiffes.“

„Und wie soll uns das helfen?“

„Wenn wir den vollständigen Namen des Schiffes herausfinden, können wir vielleicht den Hafen ausfindig machen, in dem es liegt.“

„Das klingt mir angesichts unserer Ressourcen nach einem ziemlich großen Unterfangen.“

„Es ist ein Schuss ins Blaue, aber vielleicht haben wir ja Glück.“

Das Einzige, was Madrid wusste, war, dass er ohne die MIDNIGHT Agency nicht weiterkommen würde. Eigentlich hatte er nicht noch einmal Kontakt mit ihnen aufnehmen wollen, aber er hatte keine andere Wahl. Der Verdacht, dass Angela einer wesentlich größeren Sache auf der Spur gewesen war, als alle angenommen hatten, wurde immer stärker.

„Mal sehen, ob der Weihnachtsmann uns auch ein Handy dagelassen hat, das nicht nachverfolgt werden kann.“

Jess runzelte fragend die Stirn. „Der Weihnachtsmann?“

Da die Mission ein Versteck der MIDNIGHT Agency war, standen die Chancen nicht schlecht, dass sich irgendwo ein Wegwerfhandy befand. Madrid ging als Erstes die Kiste durch, die Jess am Vorabend gefunden hatte. Und tatsächlich, unter den Wasserflaschen und einer Packung Batterien lag ein winziges Telefon.

Schnell wählte er die Nummer und wartete. Jake Vanderpol antwortete beim zweiten Klingeln. „Sag es nicht“, meldete er sich. „Ich soll dir einen Gefallen tun.“

Madrid musste breit grinsen. „Eigentlich brauche ich ein Wunder, aber ein Gefallen ist für den Anfang nicht schlecht.“

„Cutter hat gestern ein Meeting einberufen und uns befohlen, dir nicht zu helfen.“

„Ich hatte mich schon gefragt, warum du mich nicht zurückgerufen hast.“

„Cutter ist in dieser Hinsicht nicht nur ziemlich unerbittlich, es ist auch schwer, überhaupt an Informationen zu gelangen. Ich arbeite immer noch an ein paar Dingen.“

In Madrid stieg ein unbehagliches Gefühl auf. „Ich würde dich nicht in diese Lage bringen, wenn es nicht wichtig wäre.“

Einen Atemzug lang herrschte Schweigen, dann seufzte Jake. „Madrid, jetzt schuldest du mir wirklich was.“

„Ich muss den Namen des Hafens wissen, in dem ein bestimmtes Container-oder Frachtschiff liegt.“

„In den USA?“

„Vermutlich.“

„Wie lautete die Registriernummer?“

„Ich habe leider nur einen Teil eines Namens. X-A-N-A.

„Tja, das sollte doch ein Leichtes sein“, sagte Jake trocken.

„Wie schnell kannst du mir die Information besorgen?“

„Gib mir eine Stunde.“

„Okay. Ich warte.“ Madrid gab ihm die Nummer des Handys und klappte dieses dann zu.

Jess lauschte dem Ächzen der alten Wasserleitungen und versuchte, sich Mike Madrid nicht nackt unter der Dusche vorzustellen. Soweit es sie betraf, hatte sie in der vorherigen Nacht schon viel zu viel von ihm gesehen, als sie seine Wunde versorgt hatte. Sie redete sich ein, dass sie nicht mehr von ihm sehen wollte. Doch bisher war Jess immer ehrlich zu sich gewesen, und so gestand sie sich dann auch schnell ein, dass sie gerne nicht nur mehr, sondern sehr viel mehr von ihm sehen würde. Ihr gefiel nur diese Sehnsucht nicht, die sie jedes Mal verspürte, wenn sie ihn anschaute. Sie hatte in ihrem Leben genügend Beziehungen verkorkst, um zu wissen, dass mehr als die zögerliche Freundschaft, die sie jetzt hatten, nie zwischen ihnen sein konnte.

Also konzentrierte sie sich auf die Fotos, während Madrid duschte. Sie würde so gerne Father Matthew anrufen und sich nach Nicolas erkundigen, aber das wollte sie erst mit Madrid absprechen.

„Jess.“

Beim Klang seiner Stimme wirbelte sie herum und sah ihn in der Küchentür stehen. Sein Haar war feucht und ringelte sich im Nacken. Obwohl er dasselbe Hemd und dieselbe Jacke hatte anziehen müssen, sah er … sexy aus.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja, ich habe nur gerade an Nicolas gedacht. Ich würde ihn gerne anrufen. Geht das?“

„Solange wir es kurz halten.“ Er nahm das Handy von seinem Gürtel, wählte die Nummer und hielt sich das Telefon dann ans Ohr. „Hey. Ich bin’s. Alles okay?“ Er fing Jess’ Blick auf. „Gut. Ich habe hier jemanden, der mit dir reden will.“

Er reichte das Telefon weiter. Er roch nach Seife und Mann, und in seiner Nähe spannten sich sämtliche ihrer Nerven an.

„Father Matthew?“

„Hallo, Jessica. Wie geht es Ihnen?“

„Gut, danke. Aber wie geht es Nicolas?“

„Ihm geht es auch gut. Eine der Schwestern hat sehr viel Zeit mit ihm verbracht.“ Er lachte leise. „Der Junge hat einen gesunden Appetit.“

Sie lächelte. Appetit zu haben war etwas so Normales, Wundervolles. Sie wünschte, sie könnte mit Nicolas sprechen, doch sie glaubte nicht, dass er mit ihr telefonieren würde.

„Ich verstehe seine Worte zwar nicht ganz, aber ich glaube, er möchte etwas sagen.“

Im Hintergrund hörte sie Nicolas’ Stimme. „Ma-maa.“

Bei der Erinnerung schloss Jess die Augen. „Ich denke, dass er nach seiner Mutter fragt. Angela.“

Der Priester gab ein mitfühlendes Geräusch von sich. „Der arme Junge.“

„Father Matthew, wir glauben, er hat gesehen, was ihr zugestoßen ist.“

„Wie schrecklich für ein Kind, so etwas mit ansehen zu müssen. Ich werde alles tun, was ich kann, um ihm Trost zu spenden.“

„Danke, dass Sie für uns auf ihn aufpassen.“

„Ist mir ein Vergnügen. Geben Sie auf sich acht.“

Nach dem Telefonat mit Father Matthew fühlte Jess sich besser. Wenigstens wusste sie jetzt, dass Nicolas in Sicherheit und in guten Händen war. Wenn sie und Madrid jetzt noch die Leute finden würden, die für den Mord an seiner Mutter verantwortlich waren, könnten sie alle mit ihren jeweiligen Leben fortfahren. Vielleicht sogar auf gewisse Art einen Abschluss finden.

Madrid saß am Tisch und ging noch einmal die kläglichen Beweise durch, die er aus dem Polizeirevier hatte schmuggeln können. Er schaute auf, als sie ihm das Telefon reichte.

„Alles in Ordnung?“, wollte er wissen.

Sie nickte. „Ihr Bruder ist ein Lebensretter.“

„Ja, er hat schon bei verschiedenen Gelegenheiten meinen Hintern gerettet.“

Der Gedanke daran ließ sie lächeln. Der Kontrast zwischen den beiden Männern war stark. Obwohl sie sich körperlich so ähnlich waren, hätten Persönlichkeit und Lebensstil nicht weiter auseinanderliegen können. „Sie können sich glücklich schätzen, ihn zu haben.“

Er grinste. „Andersrum denkt er das selten.“

Sie schaute die Fotos auf dem Tisch an. „Haben Sie noch etwas gefunden?“

„Nur den Namen des Schiffes. Aber ich denke, wir sind hier einer großen Sache auf der Spur, Jess. Etwas Gefährliches, von dem jemand nicht will, dass es bekannt wird.“

„Wer?“

„Die Polizei von Lighthouse Point. Wir wissen, dass sie darin verwickelt ist, aber wir wissen nicht, wer genau von ihnen.“ Er verzog das Gesicht. „Und sie sind bestimmt nicht die Hauptverantwortlichen in der Sache.“

„Wie finden wir heraus, wer die Hauptverantwortlichen sind?“

Er schaute sie an und runzelte dann die Stirn. „Zuerst einmal gibt es kein ‚wir‘.“

Sie erwiderte den skeptischen Blick. „Ich bin in diese Sache involviert, ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.“

„Ich hätte gerne“, sagte er, „dass Sie zur Kirche zurückfahren und bei Father Matthew bleiben.“

Es wäre so leicht gewesen, Ja zu sagen. Sie hatte Angst. In den letzten zwei Tagen war sie mehr Kugeln ausgewichen als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben. Sie machte sich Sorgen um Nicolas. Er war nicht nur allein, so kurz, nachdem er seine Mutter verloren hatte, sondern sie sorgte sich auch um seine Sicherheit. Immerhin könnte es sein, dass der Junge einen Mord mit angesehen hatte.

Dann erinnerte Jess sich an Angelas letzte Bitte – ihren Sohn zu beschützen –, und sie wusste, dass sie ihn auf keinen Fall im Stich lassen konnte. Sie durfte nicht den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass alles gut werden würde. Das hatte sie in ihrem Leben zu oft getan, und dadurch war immer alles nur schlimmer geworden.

„Ich möchte das hier zu Ende bringen“, sagte sie.

Er schaute sie finster an. „Die Sache hätte gestern Nacht wesentlich übler ausgehen können.“

„Ich bin mir der Gefahren wohl bewusst.“

„Sie haben keine Vorstellung davon, wo wir hier hineingeraten sind oder zu was diese Menschen in der Lage sind.“

Sie ließ ihren Blick zu der Stelle schweifen, an der die Kugel ihren Arm gestreift hatte. „Doch, ich denke, das habe ich.“

„Hören Sie, Jess, es ist wirklich bewundernswert, dass Sie Angelas Mörder nicht seiner gerechten Strafe entgehen lassen wollen. Ich respektiere das. Aber Sie müssen das realistisch sehen. Sie sind nicht darin ausgebildet, solche Aktionen durchzuführen.“

„Versuchen Sie gar nicht erst, mir das auszureden. Ich werde es bis zum Ende durchziehen.“

„Ich will nicht, dass Sie verletzt werden.“

„Das wurde ich schon.“ Sie ging zu ihm und hielt sich in allerletzter Sekunde zurück, ihn zu berühren. „Viele Menschen sind verletzt worden. Angela. Nicolas.“ Sie deutete auf den Tisch, auf dem die Bilder wie eine Fotostrecke aus einem billigen Magazin ausgebreitet lagen. „Die jungen Frauen auf den Bildern. Wie können Sie da erwarten, dass ich alldem einfach den Rücken kehre?“

„Weil Sie klug sind. Weil Sie wissen, dass ich mich darum kümmern werde.“

„Sie vergessen eines, Madrid.“

Er hob fragend eine Augenbraue.

„Ich habe Angela ein Versprechen gegeben.“

„Sie hätte nicht gewollt, dass Sie Ihr Leben riskieren, nur um es zu halten, verdammt noch mal! Sie hat Sie gebeten, sich um ihren Sohn zu kümmern, und nicht, sich umbringen zu lassen.“

„Madrid, sollte Nicolas den Mord an Angela beobachtet haben, werden diese Menschen nicht eher aufgeben, bis er tot ist.“ Sie zuckte unter ihren eigenen Worten zusammen. Der Gedanke, dass der unschuldige kleine Junge verletzt werden könnte – oder Schlimmeres –, verursachte ihr Übelkeit. Aber Jess wusste, jetzt war nicht der Zeitpunkt, um ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Was auch immer auf dem Polizeirevier von Lighthouse Point vor sich ging, musste aufgedeckt und gestoppt werden.

„Ich werde das hier zu einem Ende bringen“, sagte sie. „Es liegt an Ihnen, ob ich das allein oder mit Ihnen zusammen tue.“