8. KAPITEL
„Sie müssen mich jetzt einen Blick auf Ihre Schusswunde werfen lassen.“ Das Letzte, was Mattie wollte, war, eine Schusswunde zu reinigen, aber sie nahm an, sobald sie die Hütte verlassen hatten, würden sie so schnell keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.
Cutter schaute von seinem Beobachtungsposten am Fenster zu ihr. „Das kann warten.“
„Es hat ganz schön geblutet.“
„Das war nur ein Streifschuss.“
„Auch die können sich entzünden.“ Sie sah an seiner Miene, dass sie recht hatte.
Er wirkte nicht allzu erfreut darüber, sich von ihr verarzten zu lassen, und doch setzte er sich auf den Stuhl am Feuer. „Na gut. Wenn es Sie glücklich macht, sehen Sie es sich an.“
„Was mich glücklich machen würde, ist, aus diesen gottverlassenen Bergen herauszukommen, damit ich meinen Namen reinwaschen und mein Leben wieder leben kann.“
Er beobachtete sie, als sie auf ihn zuging, und Mattie wurde ein wenig unsicher. Er hatte den durchdringendsten Blick, den sie jemals gesehen hatte.
„Ich weiß, es ist kalt hier drinnen, aber Sie werden Ihr Hemd ausziehen müssen“, sagte sie.
Mit ausdrucksloser Miene knöpfte er das Flanellhemd auf. Doch anstatt es ausziehen, öffnete er es nur.
Alle Gedanken an Schusswunden, Terroristen und daran, ihren guten Ruf wiederherzustellen, lösten sich in nichts auf, sobald sein Brustkorb zum Vorschein kam. Mattie hatte in ihren einunddreißig Lebensjahren viele männliche Oberkörper gesehen, aber nie einen, der so perfekt geformt war wie der von Sean Cutter. Er war wie eine Skulptur, die ein Meisterbildhauer mit einem Blick für die männliche Schönheit aus einem Stein herausgehauen hatte.
„Und, werde ich überleben, Frau Doktor?“, fragte er.
Seine Worte holten sie aus ihrer momentanen Starre. Mattie streckte eine Hand aus und schob das Hemd über seine verletzte Schulter nach unten. Beim Anblick der Wunde keuchte sie auf. Die Kugel hatte einen gezackten, knapp fünf Zentimeter langen Riss in seinem Fleisch hinterlassen. Die umgebende Haut war dunkelviolett verfärbt und mit getrocknetem Blut bedeckt.
„Wenn das ein Streifschuss ist, möchte ich lieber keine ernsthafte Wunde sehen“, sagte sie.
„Ich bin gegen Tetanus geimpft.“
„Was ist mit Tollwut?“
„Ich beiße nicht.“ Sein Lächeln war schwach. „Oder zumindest nur sehr selten.“
„Das werden wir noch sehen.“
Er hob den Arm und schaute sich die Wunde auf seinem linken Trizeps an. „Wir können hier nicht mehr machen, als sie zu reinigen und zu hoffen, dass sie sich nicht entzündet.“
Mit zitternden Händen griff sie nach der Seife. Sie tauchte das winzige Stück in die Wasserschüssel, bis ein wenig Schaum entstand, und legte dann ihre Finger an die Wunde. „Tut das weh?“, fragte sie.
„Was glauben Sie?“
„Ich glaube, das war vermutlich eine dumme Frage.“
Als sie anfing, mit ihren Fingerspitzen in kleinen, kreisenden Bewegungen um die Wunde herum zu arbeiten, spürte sie, wie seine Muskeln sich anspannten. Sie wusste, die Seife brannte in der Wunde, und der Druck, den sie ausübte, verursachte ihm vermutlich Schmerzen. Doch anders ging es nicht, also fuhr sie mit der Reinigung der Wunde fort.
„Erzählen Sie mir von Daniel Savage.“
Sie erstarrte sofort. „Er war mein Kollege.“
„War er Ihr Chef?“
„Ich war seine Chefin.“
Er nickte. „Waren Sie befreundet?“
„Ja.“
„Waren Sie mehr als Freunde?“
„Ja“, sagte sie nach einem Moment.
„Okay.“
Sie wusste nicht, was diese schlichte Bemerkung zu bedeuten hatte, doch sie wollte auch nicht nachfragen. Sie wollte überhaupt nicht über Daniel sprechen oder darüber, wie dumm sie gewesen war, ihn in ihr Herz zu lassen.
„Haben Sie Beweise dafür, dass er Sie hereingelegt hat, oder basiert Ihre Theorie auf Vermutungen?“
„Meine Theorie beruht auf Logik. Ich hatte viel Zeit, über alles nachzudenken, deshalb bin ich mir sicher. Jeder Beweis, der gegen mich verwendet wurde, deutet auf ihn.“ Sie seufzte und hörte erstaunt das Zittern in ihrer Stimme. „Ich denke, Ihre Wunde ist jetzt so sauber, wie es unter den gegebenen Umständen möglich ist.“
„Danke.“ Er verzog das Gesicht, als er sein Hemd wieder über die Schulter zog und zum Fenster schaute. „Sieht aus, als würde der Sturm langsam nachlassen.“
Erleichtert, das Thema „Daniel“ fallen lassen zu können, folgte Mattie seinem Blick. Es schneite immer noch, aber nicht mehr so stark. Sie hörte den Wind zwar noch, doch er rüttelte nicht mehr an den Wänden der Hütte. „Glauben Sie, wir können weitergehen?“
„Ich denke, wir sollten versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen. Wenn das Wetter weiter besser wird, können wir in ein paar Stunden aufbrechen.“
Obwohl Mattie erschöpft war, konnte sie nicht einschlafen. Sie lag ein paar Meter vom Kamin entfernt auf der kratzigen Decke und starrte in die glühende Asche. Dabei versuchte sie, nicht daran zu denken, wie ihr Leben im Moment aussah. Draußen hatte der Wind aufgehört, um die Ecken zu heulen, doch sie hörte ihn noch durch die Ritzen der alten Hütte flüstern. Das Prasseln des Schnees gegen die Fenster war verebbt, aber sie sah ihn noch hinter den schmutzigen Glasscheiben fallen.
Sie war gerade dabei, einzunicken, als ein Geräusch von der anderen Seite des Raumes sie weckte. Es war ein Geräusch, das ein verletztes Tier im Todeskampf von sich gab. Alarmiert setzte sie sich auf und schaute sich um. In dem dämmrigen Licht des Feuers sah sie Cutter ein paar Meter entfernt am Boden liegen. Sie wollte gerade nach ihm rufen, als sie erkannte, dass er der Verursacher des Geräuschs war.
Da war es wieder. Teils Stöhnen, teils Schrei, ein Klang, der voller Schmerz und Grauen war. Ein hoffnungsloses Geräusch voller Resignation und Leiden, bei dem sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Sie sah seinen Körper zucken. Einmal. Zweimal. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle. „Monique!“, keuchte er. „Oh Gott …! Monique …“ Er murmelte etwas auf Französisch.
Nicht sicher, ob er sich gerade in einem Albtraum befand oder sich die Wunde entzündet hatte und er unter Fieber litt, erhob Mattie sich und ging zu ihm. „Cutter?“
Er bewegte sich so schnell, dass sie keine Zeit hatte zu reagieren. Gerade noch beugte sie sich über ihn und berührte seine Schulter, besorgt, dass er sich im Fieberdelirium befand. Im nächsten Augenblick lag sie auf dem Rücken und spürte die Klinge eines Messers gegen ihre Kehle drücken.
Er starrte sie volle fünf Sekunden lang an, bevor er blinzelte. Sie sah, wie er sich zusammenriss. Fluchend schüttelte er sich, stand dann auf und ging zum Fenster, wo er sich gegen die Scheibe lehnte.
Mattie lag mit klopfendem Herzen auf dem Rücken, unfähig zu glauben, was gerade passiert war. Etwas Grauenhaftes war in ihm losgelassen worden. Etwas, das nichts mit der Schusswunde oder Fieber oder gar der Situation, in der sie sich befanden, zu tun hatte. Er dachte, sie wäre jemand anderes. Jemand, den er umbringen wollte. Sie hatte die Überraschung in seinen Augen gesehen, sobald er sie erkannt hatte. Den Anflug von Bedauern. Die Erkenntnis, dass er die Kontrolle verloren hatte und kurz davor stand, eine Grenze zu überschreiten.
Langsam stand Mattie auf. „Was zum Teufel war das?“
„Tun Sie das nie wieder“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.
„Was soll ich nie wieder tun? Mich um Sie sorgen?“
Cutter stützte sich mit den Armen auf der Fensterbank auf. „Ich brauche Ihre Fürsorge nicht.“
„Sie haben im Schlaf geschrien. Ich dachte, Sie hätten vielleicht Fieber, und habe nur versucht zu helfen.“
„Ihre Hilfe brauche ich auch nicht.“
Mattie berührte die Stelle an ihrem Hals, gegen die er das Messer gedrückt hatte. Zorn gesellte sich zu Schock und Angst, als sie das Blut an ihren Fingerspitzen sah. Mit zitternden Händen und Beinen ging sie zu ihm. „Sie waren kurz davor, mir die Kehle durchzuschneiden.“
„Ich habe es aber nicht getan.“
„Aber fast.“ Sie streckte ihm ihren Finger hin.
Sein Blick flackerte zu dem Blut. In seinen Augen blitzte ein Anflug von Reue auf. „Tut mir leid. Ich dachte, Sie wären … jemand anderes.“
„Wer?“
„Es war ein Traum“, sagte er. „Lassen Sie es gut sein.“
„Es war mehr als ein Traum, Cutter. Es war ein Albtraum. Sie waren schweißgebadet und haben im Schlaf geschrien.“
Er richtete sich auf und drehte sich zu ihr um. „Mattie, das geht Sie nichts an. Lassen Sie es gut sein.“
„Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn ich mir Sorgen machen muss, dass Sie mir aus Versehen den Hals aufschlitzen könnten.“
Als er sich mit der Hand durch das kurze Haar fuhr, sah Mattie, dass sein Arm zitterte. Was hatte diesen scheinbar so unerschütterlichen Mann dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht?“
„Cutter, Sie zittern.“
„Ist ja auch verdammt kalt hier drin.“ Er bedachte sie mit einem schneidenden Blick. „Was zum Teufel erwarten Sie?“
„Die Wahrheit wäre schon mal ein guter Anfang.“
Er gab ein kleines bitteres Lachen von sich und wandte den Blick ab. „Aus Ihrem Mund ist das schon beinahe wieder witzig.“
Mattie ließ die Beleidigung an sich abprallen. „Sie haben im Schlaf einen Namen gerufen“, sagte sie.
Sofort verspannten sich seine Schultern. Ein Mann aus Stein, der kurz davor steht, zusammenzubrechen, dachte sie.
„Monique“, fuhr sie fort. „Sie haben Französisch gesprochen.“
Er wandte sich von ihr ab und schaute aus dem Fenster in den noch immer leicht vom Himmel fallenden Schnee.
„Wer war sie?“, wollte Mattie wissen.
„Ich kenne niemanden mit diesem Namen. Und habe auch nie jemanden gekannt.“
Mattie wusste, dass er log. Und sie wusste auch, wer immer Monique war, sie hatte einen starken Einfluss auf diesen Mann. Die Beziehung zwischen den beiden hatte nicht gut geendet.
„Hat das was mit dem Jaguar zu tun?“, fragte sie.
Sein Blick war hart wie Stahl, als er sich zu ihr umdrehte. Jegliches Gefühl war aus seiner Miene verschwunden. „Der Sturm hört auf“, sagte er. „Packen Sie Ihre Sachen, wir müssen los.“
„Sie werden nicht darüber reden, oder?“
„Nein.“ Er wandte sich von ihr ab und fing an, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen.
Seufzend schaute Mattie aus dem Fenster. Die Aussicht, wieder in die Kälte und den Schnee hinauszumüssen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Wir haben nicht die entsprechende Ausrüstung, um bei diesem Wetter zu wandern. Wir haben ja nicht mal anständige Jacken.“
Cutter ging zu der Decke, die auf dem Boden lag, kniete sich daneben, zog sein Messer hervor und fing an, ein Loch in die Mitte zu schneiden.
„Warum zerschneiden Sie unsere Decke?“
„Ich mache Ihnen einen Poncho.“
„Machen Sie mir danach auch noch ein Frühstück und ein paar Stiefel?“
„Vielleicht nächstes Mal.“ Er stand auf, ging zu ihr und zog ihr den Poncho über den Kopf. Sie zuckte zusammen, als er ihre Haare aus dem Kragen schob.
„Die Farbe steht Ihnen“, sagte er mit belegter Stimme.
„Ja, in staubigen alten Decken habe ich schon immer gut ausgesehen.“
Er lächelte nicht, doch in seinen Augen funkelte es amüsiert.
Das unverkennbare Geräusch eines sich nähernden Hubschraubers zerriss den Moment. Cutter zuckte zusammen und eilte ans Fenster. „Verdammter Hurensohn!“, zischte er.
„Bitte sagen Sie mir, dass das jemand ist, der uns retten kommt.“ Aber nach seiner Miene zu urteilen, wusste sie, dass es nicht so war.
„Raus hier!“, rief er und rannte auf sie zu. „Laufen Sie! Jetzt!“
Er packte ihre Hand und zog sie daran mit sich zur Tür. Sie hatten gerade die halbe Strecke zurückgelegt, als die Hütte explodierte.