8. KAPITEL

In Madrids Ohren klang das Zufallen der Tür so laut wie ein Schuss. Adrenalin rauschte durch seine Adern. Automatisch ging seine Hand zu seiner Waffe. Nur leider hatte er keine Betäubungspfeile mehr. Das Letzte, was er wollte, war, auf einen Polizisten zu schießen – selbst wenn die große Wahrscheinlichkeit bestand, dass er korrupt war. Dennoch zog er seinen Revolver aus dem Hosenbund.

Menschenhandel war ein lukratives Geschäft. Doch es war auch gewalttätig und unmoralisch. Er wusste, wer auch immer hierfür verantwortlich war, würde keine Zeugen hinterlassen. Zumindest keine lebenden.

Im Bruchteil einer Sekunde rasten die verschiedenen Szenarien durch seinen Kopf, und keines davon war gut. Das Beste, worauf er hoffen konnte, war, lebend hier herauszukommen.

„Klettern Sie aus dem Fenster.“ Er marschierte schnell zu dem Fenster über dem seitlich stehenden Aktenschrank und erkannte sofort, dass er dort nicht hindurchpassen würde, Jess jedoch schon.

Er legte den Griff um und öffnete es so weit, wie es ging. „Laufen Sie zum Wagen.“

„Ich gehe nicht ohne Sie.“

Er fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört. „Wenn ich in drei Minuten nicht bei Ihnen bin, möchte ich, dass Sie so schnell wie möglich den Küstenhighway hinauffahren. Halten Sie erst an, wenn Sie diesen Staat verlassen haben.“

„Madrid …“

„Wenn Sie gefasst werden, sagen Sie ihnen, dass ich Sie als Geisel genommen habe und Sie umbringen wollte.“

„Aber …“

„Wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren.“

Jess wurde vor seinen Augen leichenblass, und einen Augenblick lang hatte er das unbehagliche Gefühl, dass sie ohnmächtig werden würde. Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Er warf einen Blick über die Schulter und erwartete halb, einen Cop mit gezogener Waffe und nervösem Abzugsfinger zu sehen. Doch noch war alles ruhig, also zog er Jess zum Fenster. „Gehen Sie jetzt, verdammt noch mal! Ich kann schon auf mich aufpassen“, flüsterte er in der Hoffnung, sie zum Handeln zu animieren, bevor sie zu viel Zeit hatte, darüber nachzudenken. Das Letzte, was er brauchte, war, dass sie sich seinetwegen Sorgen machte.

Sie schaute ihn ein letztes Mal an, schüttelte den Kopf und krabbelte durch das offene Fenster. Er hoffte, dass sie sich an den Plan halten würde, und beschloss, sich keine Sorgen um sie zu machen. Dann eilte er zur Tür und linste um den Türrahmen herum.

Der Polizist stand an dem Tisch des Sergeants und schaute sich misstrauisch um. „Hey, Dex! Wo zum Teufel bist du?“ Er stemmte seine Hände in die Hüften und fing an, den Flur hinunterzugehen. „Muss wohl Vollmond sein. Da draußen ist die Hölle los.“

Madrid wirbelte herum, schnappte sich alle Dokumente aus dem Karton, die er greifen konnte, und stopfte sie sich in den Hosenbund. Jeder Nerv in seinem Körper war aufs Höchste gespannt, als er einen Ausruf auf dem Flur hörte. Zweifellos hatte der Polizist seine bewusstlosen Kollegen gefunden.

Mit einem unterdrückten Fluch, weil er wusste, dass ihm Zeit und Optionen davonliefen, schaute Madrid sich wild um. Doch es gab keinen Fluchtweg.

Vor der Tür zum Archiv erklangen Schritte, gefolgt von dem stählernen Klicken einer Pistole, die gespannt wurde.

Er zog seine falsche FBI-Marke aus der Hosentasche. „FBI!“, rief er. „SAC Magill! Nicht schießen!“

Der bullige Officer erschien in der Tür. Er schaute Madrid an, dann glitt sein Blick zu der Marke, die der in Händen hielt. Doch er machte keine Anstalten, die Pistole zu senken.

„Wer zum Teufel sind Sie?“

„Mike Magill, leitender Special Agent des FBI.“ Madrid erinnerte sich an das falsche Blut auf seinem Hemd und im Gesicht. „Ich habe Schüsse gehört. Jemand hat mich von hinten angegriffen.“

„Was tun Sie hier?“

„Ich hatte ein Treffen mit Norm Mummert.“

Die Hand, mit der der Polizist die Waffe hielt, entspannte sich ein wenig. Er schaute über die Schulter zu seinen bewusstlosen Kameraden. „Was ist hier passiert?“

„Zwei Männer, schwer bewaffnet. Ich habe mich hier im Archiv versteckt.“ Er zuckte dramatisch zusammen. „Ich bin getroffen worden.“

Der Cop senkte seine Pistole und griff nach seinem Funkgerät. „Hier ist zwei Adam vier. Ich habe eine …“

Madrid sprang vor und trat dem anderen Mann die Waffe aus der Hand. Die Augen des Cops weiteten sich. Er stolperte rückwärts und schrie in sein Funkgerät: „Code acht!“

Madrid kannte sich mit Polizeikürzeln gut genug aus, um zu wissen, dass ein Cop mit Code acht einen Notfall ausrief. Innerhalb von Sekunden würde es hier nur so vor Polizisten wimmeln, die einen der ihren beschützen wollten. Eine Situation, die den Einsatz von tödlicher Gewalt rechtfertigte. Verdammt!

Madrid wirbelte herum und trat dem Mann das Funkgerät aus der Hand. Nur am Rande hörte er es klackernd zu Boden fallen. Der Blick des Cops glitt zu seiner ebenfalls nur anderthalb Meter vor ihm am Boden liegenden Waffe.

„Denken Sie nicht mal dran“, grollte Madrid.

Der Cop hechtete los.

Fluchend setzte Madrid ihm nach, war aber nicht schnell genug, um ihn davon abzuhalten, sich die Pistole zu schnappen. Sie rollten in einem Wust aus Armen und Beinen und Fäusten über den Boden. Was dem Officer in der Kunst der Selbstverteidigung fehlte, machte er durch schiere Körpergröße wett.

In dem Kampf erhaschte Madrid einen Blick auf den blau schimmernden Lauf und dann auf eine Faust. Der folgende Schuss klingelte ihm in den Ohren, dann rieselte Putz von der Decke, wo die Kugel eingeschlagen war.

Madrid versuchte, ihm die Waffe zu entwenden, aber der Cop war zu groß. Er rammte Madrid mit seinem Knie, löste seinen Griff für eine Sekunde und rollte sich weg. In einer fließenden Bewegung hob er die Waffe und drückte ab. Einen Wimpernschlag später stand Madrids Arm gefühlt in Flammen. Es war, als hätte sich jemand von hinten an ihn herangeschlichen und ihn mit einem Brandeisen markiert.

Die Schmerzen kamen in Übelkeit erregenden Wellen. Was ihn wütend machte. Sehr wütend sogar. Er nutzte das überschüssige Adrenalin, um den anderen Mann auf den Rücken zu werfen.

„Sie mussten diese Grenze unbedingt überschreiten, oder?“

Er packte das Handgelenk des Polizisten und schlug es hart auf den Boden. Einmal. Zweimal. „Fallen lassen!“, rief er.

Die Hand des Polizisten öffnete sich, und die Pistole fiel klappernd zu Boden. Die Hand fest um den Hals des Cops gelegt, holte Madrid seine Handschellen heraus. Eine schloss er um das Handgelenk des Mannes, die andere um das Bein eines Archivregals.

„Das sollte Sie für eine Weile aufhalten.“ Ihm wurde schwindelig, als er sich erhob. Überrascht lehnte er sich gegen das Regal. Er schaute zu seinem Arm und fluchte unterdrückt, als er das Blut sah, das durch den Stoff seiner Jacke sickerte.

Der Cop zerrte an den Handschellen. „Damit kommen Sie nicht durch, Sie Scheißkerl!“

„Das bin ich schon“, sagte Madrid und verließ das Gebäude.

Jess war noch nie gut darin gewesen zu warten. Aber wenn Warten eine Folter war, war im Auto zu sitzen und zu sehen, ob Madrid es lebend aus dem Polizeirevier schaffte, die Vorstufe zur Hölle.

Von da, wo sie parkte, konnte sie die Vorderseite des Gebäudes nicht sehen, doch da sie das Fenster heruntergekurbelt hatte, hörte sie die Schüsse. Und der Gedanke daran, was alles schiefgehen konnte, verursachte ihr Übelkeit.

Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett verriet ihr, dass sechs Minuten vergangen waren, aber sie fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Steckte Madrid in Schwierigkeiten? Hatte der Cop ihn erschossen? Oder war der Agent mit den dunklen Augen gezwungen gewesen, das Undenkbare zu tun und einen Polizisten zu erschießen?

„Komm schon, Madrid.“ In der Stille des Wagens klang ihre Stimme angespannt. Sie versuchte, mit den Fingern aufs Lenkrad zu trommeln, aber dazu zitterten sie zu sehr. Sie konnte den Blick nicht von dem Stück Bürgersteig lösen, das zum Polizeirevier führte …

Ein erstickter Schrei entfuhr ihr, als sie das Klopfen am Beifahrerfenster hörte. Halb erwartete sie, einen Polizisten mit gezogener Waffe zu sehen, doch es war nur Madrid, der dort vor ihr stand. Vor Erleichterung ganz schwach öffnete sie ihm die Tür.

„Warum hat das so lange gedauert?“, zischte sie, während sie den Motor anließ.

Er ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. „Fahren Sie.“

Jess legte den ersten Gang ein. Die Reifen quietschten, als sie auf die Straße einbog.

„Ganz langsam“, sagte Madrid. „Wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen.“

„Gott verhüte, dass irgendjemand denken könnte, wir wären gerade ins Polizeirevier eingebrochen!“ Jess nahm an, sie würden schon sehr bald sehr viel Aufmerksamkeit erregen. Allerdings keine gute. „Was ist da drinnen passiert?“

Madrid verzog das Gesicht, lehnte sich im Sitz zurück und schaute nach unten. Jess löste kurz den Blick von der Straße und sah zu ihm herüber. „Oh mein Gott!“ Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, als sie die Menge an Blut sah, die sein Hemd durchtränkte. „Sie sind angeschossen worden.“

„Das kann man wohl so sagen.“

„Wie schlimm ist es?“

„Ziemlich schlimm.“

Im Halbdunkeln wirkte das Blut beinahe schwarz. Sie konnte nicht aufhören, es anzustarren.

„Passen Sie auf, wohin Sie fahren.“

Sie richtete den Blick gerade rechtzeitig zurück auf die Straße, um nicht gegen den Kantstein zu fahren.

„Sie müssen sich beruhigen“, sagte er. „Fahren Sie langsamer. Das hier hat noch ein Weilchen Zeit.“

Sie waren inzwischen auf der Küstenstraße angekommen. Jess schaute auf den Tacho und verringerte die Geschwindigkeit ein wenig. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war wegen Rasens rausgewunken zu werden. „Haben Sie die Papiere und die Fotos mitnehmen können?“, fragte sie.

Er sah finster drein und schüttelte den Kopf. „Ich habe mir geschnappt, was ich greifen konnte, aber das meiste davon habe ich verloren, als der Cop mich angegriffen hat.“

Sie starrte ihn an. „Sie sind von einem Polizisten angegriffen worden?“

„Lange Geschichte.“

Jess hoffte, dass er genügend Dokumente hatte mitnehmen können, um zu beweisen, worin die Polizei von Lighthouse Point verwickelt war.

„Wohin fahren wir?“, fragte sie.

„Fahren Sie einfach.“

Sorgen machten sich in ihr breit, als er sich weiter in den Sitz zurückfallen ließ und seinen Kopf gegen die Kopfstütze lehnte.

„Geht es Ihnen gut?“

„Mir geht es immer gut.“ Er grinste, aber sie sah, dass er Schmerzen hatte. Es konnte sein, dass die Kugel ihm den Arm gebrochen oder eine Ader durchtrennt hatte.

Mit seiner rechten Hand holte er sein Handy heraus, wählte eine Nummer und hielt es sich dann ans Ohr. „Ich bin’s.“ Seine Stimme klang tief und rau. „Ich brauche einen Unterschlupf. Code eins. Level Blackjack.“

Er lauschte eine Minute, dann klappte er das Handy zusammen, ohne noch etwas gesagt zu haben, und steckte es in seine Tasche zurück.

„Wer war das?“, fragte Jess.

„Die Kavallerie.“ Er deutete auf eine Schotterstraße. „Drehen Sie hier um, und fahren Sie nach Norden.“

Jess bog in die Straße ab, wendete und fuhr in die entgegengesetzte Richtung weiter. „Wohin fahren wir?“, hakte sie nach.

„Zur Kirche.“

„Zurück zu Father Matthew?“

Madrid schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn schon genug in die Sache hineingezogen. Eine Stunde nördlich von hier gibt es eine alte Mission. Ein Unterschlupf, der der MIDNIGHT Agency gehört.“

„Ich dachte, Sie hätten den Dienst quittiert?“

Er hob eine Schulter, zuckte dann aber zusammen. „Kurzer Dienstweg.“

Jess schaute ihn an. Ein leichter Schweißfilm bedeckte sein Gesicht. Sein Mund war zu einer dünnen angespannten Linie zusammengepresst, seine Augen waren dunkel und glasig vor Schmerzen. „Ich hoffe, es gibt dort einen Erste-Hilfe-Kasten“, sagte sie.

„Das sehen wir, wenn wir da sind.“ Er schloss die Augen und lehnte sich zurück.

In den sechs Jahren, die er bei der MIDNIGHT Agency war, hatte Madrid sich oft genug gezwungen gesehen, unter den widrigsten Bedingungen zu funktionieren. Dieses Mal jedoch ging der Schmerz, der von seiner Schulter bis in die Fingerspitzen ausstrahlte, weit über körperliches Unbehagen hinaus.

Als sie endlich auf den mit Unkraut überwucherten Parkplatz der winzigen Mission einbogen, hielt er sich gerade noch mit Mühe aufrecht. Mit jedem Herzschlag fühlte er seinen Puls durch seinen Körper rasen. Er schwitzte und war angespannt und wesentlich zittriger, als er zugeben wollte. Wenn es sich nicht um einen glatten Durchschuss handelte, würde er Jess überreden müssen, die Kugel herauszupulen. Bei dem Gedanken wurde er von einer Welle der Übelkeit gepackt.

Obwohl die verlassene Mission eine halbe Meile vom Küstenhighway entfernt lag, ließ er Jess den Wagen unter einer Gruppe Zedern parken, damit er aus der Luft nicht entdeckt werden konnte.

„Sie sehen fürchterlich aus“, sagte sie, als sie den Motor abstellte.

„Das sagen mir alle Frauen.“ Er versuchte zu lächeln, doch es misslang kläglich. Zu groß war seine Sorge, ob er es aus eigener Kraft ins Haus schaffen würde.

Die Uhr im Armaturenbrett zeigte drei Uhr morgens an. Es war zu dunkel, um die Wunde zu untersuchen, doch er spürte, wie das Blut langsam antrocknete und das Hemd an seiner Haut festklebte. Verdammt, er hoffte wirklich, dass es nicht so schlimm war, wie es sich anfühlte!

Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er nach der Tasche und holte eine kleine Taschenlampe heraus. „Gehen wir rein und gucken, was für eine Unterkunft die MIDNIGHT Agency uns zur Verfügung gestellt hat.“ Er drückte die Tür auf.

„Vielleicht sollten Sie sich von mir helfen lassen.“

„Mir geht es gut“, sagte er und stieg aus dem Wagen.

Madrid war nicht ganz sicher, was als Nächstes passiert war. In einem Moment ging er auf das einstöckige Gebäude zu. Im nächsten kniete er im Dreck, umklammerte seinen Arm und versuchte, sich nicht zu übergeben.

„Madrid!“ Jess eilte zu ihm und hockte sich neben ihn.

Hinter einer Nebelwand aus Schmerz bemerkte er, dass sie einen Arm um ihn legte. Sie fühlte sich so warm und weich an. Und sie roch wie Sandelholz, nur süßer. Trotz der Benommenheit nahm er wahr, wie ihre Brust seine Schulter streifte. Es war lange her, dass er einer Frau so nahe gewesen war, und es fühlte sich verdammt gut an.

Die Übelkeit ebbte langsam ab, und das Schwindelgefühl verging.

„Wie schlimm ist die Verletzung?“, fragte Jess nach einer Weile.

„Immer wenn ein Stück Blei Haut durchschlägt, ist es schlimm“, grummelte er.

„Schaffen Sie es ins Haus?“

„Wenn Sie nicht wesentlich stärker sind, als Sie aussehen, habe ich wohl kaum eine andere Wahl.“

Sie übernahm die Taschenlampe. „Ich leuchte uns den Weg.“

Ein Stöhnen kam über seine Lippen, als er sich vom Boden erhob. Jess legte einen Arm um seine Hüfte und schlang sich seinen gesunden Arm um den Hals. Madrid verbannte jeden Gedanken an Schmerzen oder Schwindel, während sie langsam auf die Mission zuhumpelten.

„Wir gehen hinten rein“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Okay.“ Jess drückte ein rostiges Eisentor auf und hielt den Strahl der Taschenlampe auf den Kiesweg gerichtet, der zu einem Innenhof führte. Madrid bemerkte den kaputten Springbrunnen kaum, der einmal sehr eindrucksvoll gewesen sein musste. Jess drückte die Klinke der Tür an der Rückseite des Gebäudes herunter, doch sie war verschlossen.

„Und jetzt?“, fragte sie.

Er schaute sich um, erblickte einen Stein von passender Größe, der einst Teil einer Blumenbeeteinfassung gewesen war, und erkannte dann, dass er sich nicht vorbeugen konnte, um ihn aufzuheben. „Wir schlagen eine Scheibe ein.“ Er nickte in Richtung des Steins.

Jess hob ihn auf.

Madrid nahm ihn ihr ab und warf ihn durch das Fenster, das dem Schloss am nächsten war. Dann steckte er seine Hand durch das Loch, ertastete den Riegel, schob ihn beiseite und drückte die Tür auf. Der Geruch von Schimmel und altem Holz stieg ihm in die Nase, nachdem sie eingetreten waren.

„Home sweet home“, bemerkte er sarkastisch.

„Bitte sagen Sie mir, dass es hier Strom gibt.“

„Das wäre viel zu komfortabel.“ Er gab ihr die Taschenlampe zurück. „Wir haben Glück, wenn wir hier irgendwo Kerzen finden.“

Der Raum, durch den sie hereingekommen waren, ähnelte einer Küche. Ein hölzerner Tisch mit abblätternder Farbe und vier nicht zueinanderpassenden Stühlen stand in der Mitte. Madrid zog einen der Stühle hervor und ließ sich darauf fallen. Vage bekam er mit, dass Jess hin und her ging und der Strahl der Taschenlampe immer wieder zu seiner Linken aufblitzte.

„Ich habe was gefunden!“

Er nahm den Kopf hoch und sah Jess auf sich zukommen. Sie hatte beide Hände voll und strahlte, als hätte sie gerade den Jackpot geknackt. Madrid starrte sie an. Die starke Anziehung, die er verspürte, verwirrte ihn. Verdammt, er wünschte, sie wäre nicht so hübsch! Von hübschen Dingen hatte er sich schon immer angezogen gefühlt.

Sie stellte die Sachen auf dem Tisch ab. Aus einer Kiste holte sie zwei Kerzen und zündete sie an. Gelbliches Licht erfüllte den Raum.

„Es sieht so aus, als wäre hier auch etwas zu essen drin“, sagte sie.

„Wie sieht es mit einem Erste-Hilfe-Kasten aus?“ Jeder Unterschlupf der MIDNIGHT Agency sollte für Notfälle damit ausgestattet sein.

„Auch dabei.“ Sie holte einen weiß-roten Kasten hervor. „Außerdem eine Taschenlampe und Wasserflaschen.“ Sie verstummte. „Und eine Pistole.“

„Heute muss unser Glückstag sein.“ Doch er hoffte, dass sie sie nicht brauchen würden.

Sie suchte seinen Blick. „Sind wir hier sicher?“

„Für heute Nacht, ja. Die Agency ist sehr gewissenhaft bei der Auswahl ihrer Verstecke. Sie können darauf wetten, dass dieses Haus auf keiner Landkarte und in keinem Grundbuch erwähnt ist.“

„Was genau macht die Agency eigentlich?“

„Die Sachen, die keine andere Agency anfassen will.“ Darüber dachte sie einen Moment nach. „Also die richtig schwierigen Aufträge.“

„Ja.“ Da es besser war, wenn sie nicht noch mehr wusste, wechselte Madrid das Thema. „Ich muss mir die Wunde ansehen und sie reinigen.“ Behutsam schälte er sich aus seiner Jacke.

„Vielleicht sollten wir Sie in ein Krankenhaus bringen.“

„Nein, das geht nicht.“

„Madrid …“

„Wenn Sie das nicht können, schaffe ich das auch allein.“

„Ich denke nicht, dass Sie in der Verfassung sind, irgendetwas allein zu tun.“

So ungern er es auch zugeben wollte, aber sie hatte recht. „Sehen Sie mal, wenn es schlimm ist, tun wir, was wir tun müssen. Doch für den Moment reinigen wir die Wunde erst einmal und gucken uns an, womit wir es hier überhaupt zu tun haben.“

Ihr entfuhr ein resignierter Seufzer. „Ich bin Kellnerin. Ich habe keine Ahnung von Schusswunden.“

Er brachte ein kleines Lächeln zustande. „Ja, aber Sie lernen schnell.“