9. KAPITEL
Die nächsten Sekunden vergingen in einem Wirbel aus Rauch und Flammen. In der einen Minute war Cutter noch durch die Tür geeilt, in der nächsten flog er durch die Luft. Matties Hand wurde ihm gewaltsam entrissen. Etwas Großes, Hartes traf ihn am Rücken, und er landete in einer tiefen Schneewehe.
Schnell sprang er auf die Füße und schaute sich wild um. Die Hütte war nur noch ein brennender Scheiterhaufen. In der Ferne hörte er die Rotorblätter des Hubschraubers durch die Luft schneiden, als der große Vogel sich auf den nächsten Angriff vorbereitete. Dann sah er Mattie, und der Rest der Welt hörte auf zu existieren.
Sie lag keine fünf Meter von ihm entfernt mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Cutters Wege hatten sich mit denen des Sensenmannes zu oft gekreuzt, um es noch zählen zu können. Doch ihren kleinen Körper so verdreht und still dort liegen zu sehen hatte etwas Obszönes an sich.
„Oh nein“, hörte er sich sagen. „Mattie …“
Die Welt bewegte sich wie in Zeitlupe, als er zu ihr rannte. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Es konnte gut sein, dass sie unschuldig war. Er war für ihre Sicherheit verantwortlich gewesen. Deshalb war er auch für ihren Tod verantwortlich. Diese Last zu tragen, dafür war Cutter nicht gerüstet.
Er kniete sich neben sie. Sanft rollte er sie auf den Rücken. In der Ferne hörte er das Dröhnen des Hubschraubermotors und das Flap! Flap! Flap! des Rotors. Ohne hinzusehen, wusste er, dass der Helikopter sich näherte und der Pilot sich bereit machte, eine weitere Rakete abzuschießen.
Doch er konnte den Blick nicht von Mattie losreißen. Eine rote Spur zog sich von ihrem Mundwinkel zu ihrer Wange. Oh großer Gott, nein …!
Da er wusste, dass sie sich genau im Sichtfeld des Hubschraubers befänden, sobald der nah genug dran war, hob Cutter sie auf seine Arme und kämpfte sich auf die Beine. Mit einem Blick über seine Schulter sah er, dass der Helikopter hundert Meter entfernt in der Luft schwebte. Wind und Schnee zerrten an ihm. Er spürte förmlich das Fadenkreuz, das sich in seinen Rücken brannte …
Ihr Körper war so weich und warm. Er beeilte sich, die zwanzig Meter entfernte Baumlinie zu erreichen. Auf halbem Weg dorthin explodierte die zweite Rakete. Die Erschütterung schlug ihm gegen den Rücken wie die Hand eines Riesen. Schnee und Geröll prasselten auf ihn nieder. Er versuchte sein Bestes, um Mattie zu schützen, doch sein Fokus lag darauf, sie zwischen den Bäumen in Deckung zu bringen. Denn es war sehr wahrscheinlich, dass die nächste Rakete ihr Ziel nicht verfehlen würde.
Eine Kugel prallte vom Stamm einer nahe stehenden Espe ab. Der Klang von Maschinengewehrfeuer explodierte um ihn herum. Eine zweite Kugel sauste so nah an seinem rechten Ohr vorbei, dass er ihr tödliches Zischen hörte.
Dann ertönte das laute Knattern von Gewehrsalven, und Kugeln schlugen links und rechts in die Bäume und den Boden ein. Er rannte, bis seine Beine unter ihm nachgaben. Am Fuß des Abhangs, wo sich ein zu Eis erstarrter Fluss durch Felsen von der Größe eines Pick-up-Trucks wand, fiel er auf die Knie. Sein Atem ging in kurzen Zügen. Vorsichtig legte er Mattie auf den Boden und konzentrierte sich darauf, Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen.
„Cutter?“
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er nach unten schaute und sah, dass sie die Augen aufgeschlagen hatte. Erleichterung und ein anderes Gefühl, das er nicht näher analysieren wollte, schnürten ihm die Kehle zu, als sie sich langsam aufsetzte und umschaute.
„Was ist passiert?“
„Machen Sie ganz langsam“, hörte er sich sagen.
„Mein Kopf.“ Sie hob die Hand und berührte ihren Hinterkopf. „Autsch.“
Er rutschte zu ihr hinüber, und einen Moment lang konnte er sie nur anschauen. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er.
„Das kann ich noch nicht sagen.“ Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht und musterte ihn eindringlich. „Was ist passiert?“
„Sie haben die Hütte mit einer Rakete beschossen.“
„Einer Rakete? Klingt ein wenig übertrieben, finden Sie nicht?“
„Ich schätze, sie wollten auf Nummer sicher gehen.“ Cutter zuckte mit den Schultern. „Sie haben gewartet, bis wir draußen waren. Die wollen Sie lebend, Mattie.“
Aus großen, ängstlich dreinblickenden Augen sah sie ihn an. Cutter erwiderte den Blick, und Gefühle, die er nicht empfinden sollte, brannten in seinem Brustkorb. „Lassen Sie mich mal Ihren Kopf ansehen.“
Sie zog das Gummiband aus ihrem Zopf. „Ich glaube nicht, dass es eine Platzwunde ist.“
„Was auch immer Sie getroffen hat, es hat sie ausgeknockt.“ Er legte eine Hand an ihren Kopf. Die Beule hatte die Größe eines Hühnereis. „Keine Platzwunde“, bestätigte er, nahm seine Hand aber nicht weg.
„Es fühlt sich an, als wenn mein Kopf gleich explodiert.“
Ihr Haar fühlte sich unter seinen Fingerspitzen wie Seide an. Er konnte nicht anders und strich mit den Fingern hindurch. Doch plötzlich reichte ihm diese keusche Berührung nicht mehr.
„Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht“, sagte er mit belegter Stimme.
„‚Gut‘ ist im Moment ein ziemlich dehnbarer Begriff.“ Sie bedachte ihn mit einem fragenden Blick, als er eine Hand an ihre Wange legte.
Cutter wusste, dass er kurz davor stand, einen Fehler zu begehen. Wenn er sie jetzt küsste, würde er eine Grenze überschreiten, von der er sich geschworen hatte, es nie zu tun. Sobald er von ihren Lippen gekostet hatte, würde er mehr wollen. Doch mit den Überresten von Angst und Adrenalin, die durch seine Adern rauschten, war es ein Risiko, das er bereit war einzugehen.
Er beugte sich vor und presste seine Lippen auf ihre. Ein kurzes Aufkeuchen verriet ihm, dass er sie überrascht hatte, doch er hörte nicht auf – und sie entzog sich ihm nicht. Er fuhr mit der Zunge über ihre Unterlippe, begehrte Einlass. Sein Herz klopfte hart gegen seine Rippen. Blut rauschte heiß in seine Lenden. Er wollte seine Arme um sie legen. Wollte ihren Körper an seinem spüren. Wollte sich in ihr versenken …
Der Klang von Rotorblättern, die durch die Luft schnitten, riss ihn in die Realität zurück. Er löste sich von ihr. Sie schaute ihn verwirrt an. Er wollte etwas sagen oder sich vielleicht sogar dafür entschuldigen, eine Linie überschritten zu haben, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Doch er nahm an, sie wussten beide, dass dafür keine Zeit war.
„Kommen Sie.“ Der Kuss war vorbei, und er versuchte, wieder Distanz zwischen sie zu bringen. Er nahm ihre Hand und zog sie daran auf die Füße.
„Wohin gehen wir?“
„An einen Ort, wo uns der Scharfschütze in dem Heli nicht erwischen kann.“
Mattie wusste nicht, ob ihr von dem Schlag gegen den Kopf oder von dem Kuss schwindelig war, der sie genauso überraschend getroffen hatte. Doch in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander, als Cutter sie den schneebedeckten Pfad entlangführte. Sie konnte nicht glauben, dass der Jaguar sie gefunden hatte. Und dass sie nur Millisekunden davon getrennt hatten, in tausend Stücke zerrissen zu werden. Und sie konnte auch nicht glauben, dass der unbeirrbare Sean Cutter sie besinnungslos geküsst hatte. Es war das Letzte, was sie von ihm erwartet hätte. Andererseits hatte sie in den letzten sechsunddreißig Stunden gelernt, das Unerwartete zu erwarten.
Sie hörte den Helikopter. Das Dröhnen des Motors. Das immer wieder aufflammende Schnellfeuer eines Automatikgewehrs.
„Hier entlang!“
Cutter rief die Worte nur einen Moment, bevor er vom Pfad abwich. Die Bäume, die ihnen Schutz geboten hatten, wichen einer großen, offenen Lichtung. Die Szenerie wäre bestimmt hübsch gewesen, wenn ihnen nicht ein Wahnsinniger auf den Fersen wäre, der darauf aus war, sie umzubringen. Mattie kam sich auf einmal gefährlich schutzlos vor. Was dachte Cutter sich nur dabei?
„Wollen Sie, dass er uns umbringt?“, rief sie. „Wir sind hier wie auf dem Präsentierteller.“
„Vertrauen Sie mir.“
Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, doch er verstärkte den Griff und lief noch ein wenig schneller. Sie rannten durch knietiefen Schnee. Die Stützpfeiler einer Art Stahlturm blitzten in ihrem Augenwinkel auf. Sie wurde langsam müde.
Eine neue Salve Schüsse ging um sie herum nieder. Eine Kugel flog an ihrem Kopf vorbei. Eine weitere prallte von einem Felsen ab. „Cutter, sie schießen auf uns!“
„Nicht mehr lange.“
Er lief nach links und zog sie in einem wilden Sprint mit sich zu einem zweiten Turm. Irgendwo in ihrem Hinterkopf registrierte sie, dass es sich um Starkstrommasten handelte. Dies war eine Lichtung, die extra gerodet worden war, um die massiven Masten aufzustellen. Die Erkenntnis, dass Cutter den Hubschrauber absichtlich zu den Stromleitungen führte, kam ihr in dem Moment, in dem sie ein donnerndes Krachen hörte. Aus dem Augenwinkel sah sie den Hubschrauber sich gefährlich zur Seite neigen. Der Heckrotor zerbrach in zwei Teile. Funken flogen. Weißer Rauch stieg auf.
Einen Augenblick später explodierte der Rumpf. Ein orangefarbener Ball erhob sich wie ein brennender Ballon in die Luft. Trümmerteile regneten zu Boden. Der Hubschrauber barst mitten in der Luft auseinander und prallte in mehreren großen Einzelteilen auf der Erde auf.
„Oh mein Gott!“, stieß Mattie aus. „Sie haben die Stromleitungen berührt.“
Cutter beobachtete, wie auch die letzten Trümmerteile zu Boden fielen. „Wegen des Schnees war die Sicht nicht sonderlich gut. Sie haben die Leitungen wohl einfach nicht gesehen.“
Der Anblick einer solchen Zerstörung paralysierte sie. Auch wenn die Männer in dem Hubschrauber versucht hatten, sie zu töten, verspürte Mattie den unbändigen Drang, ihnen zu helfen. „Cutter, wir können nicht einfach weitergehen.“
Ohne auf eine Erwiderung von ihm zu warten, entzog sie ihm ihre Hand und lief auf den abgestürzten Hubschrauber zu. „Wir müssen ihnen helfen.“
Cutter holte sie ein, packte ihren Arm und wirbelte sie zu sich herum. „Da wollen Sie nicht hingehen“, sagte er.
„Diese Männer könnten … verletzt sein oder im Sterben liegen.“
„Glauben Sie mir, Mattie. Es hat keine Überlebenden gegeben.“
Keine Überlebenden.
Sie wusste, es war dumm, aber der Gedanke, dass noch mehr Menschen gestorben waren, brachte sie an den Rand der Tränen. „Wie viele Menschen werden noch sterben, bevor das hier vorbei ist?“
Cutter schüttelte den Kopf. „Für den Jaguar sind alle Menschen ersetzbar.“ Er schaute zu dem qualmenden Wrack. „Das hier beweist, dass er sich durch nichts aufhalten lassen wird, um an die Informationen in Ihrem Kopf zu gelangen.“
Seine Worte verursachten ihr Übelkeit. „Wenn er mich so sehr will, wieso stellen wir ihm dann nicht einfach eine Falle? Mit mir als Köder?“
Cutter konnte nicht sagen, dass er darüber nicht auch schon nachgedacht hatte. Er wollte den Jaguar so sehr zur Strecke bringen, dass er es förmlich schmecken konnte. Er schuldete es sich, und er schuldete es dem Mistkerl, der für die Narben verantwortlich war, die seinen Körper bedeckten. Martin Wolfe hatte es sehr deutlich gemacht, dass, sollte es zu einer Entscheidung zwischen Matties Leben und dem Jaguar käme, die Frau entbehrlich wäre.
Warum hast du sie dann nicht als Köder benutzt? fragte eine spöttische kleine Stimme.
Die Antwort, die ihm dazu durch den Kopf schoss, gefiel ihm überhaupt nicht. „Weil ich den Auftrag habe, Sie zurückzubringen.“
„Das können Sie doch trotzdem.“ Ihre Miene erhellte sich. „Cutter, der Jaguar ist einer der wenigen Menschen, die meinen Namen reinwaschen können. Er weiß, wer aus dem Verteidigungsministerium ihm die Pläne fürs EDNA-Projekt verkauft hat. Wenn er dazu aussagen würde …“
„Das wird er nicht.“
„Vielleicht wird der Bundesanwalt ihm einen Deal vorschlagen.“
„Nein, Mattie“, gab er kurz angebunden zurück.
„Aber …“
„Verdammt, nein!“
Sie starrte ihn mit einer Mischung aus Kränkung und Zorn an. Sie war zu eifrig, zu gewillt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Diese Mischung verursachte Cutter ein unangenehmes Gefühl im Magen. Er redete sich ein, das käme daher, weil er eher konservativ dachte und kein unnötiges Risiko eingehen wollte. Doch in Wahrheit konnte er sie nicht in die Schusslinie stellen, weil er etwas für sie empfand.
„Ich werde mal sehen, ob ich das Funkgerät des Hubschraubers retten kann“, sagte er.
„Ich komme mit.“
„Sie bleiben hier“, befahl er.
„Cutter, ich kann Ihnen helfen.“
„Verdammt, Mattie, ich will nicht, dass Sie das Wrack sehen!“ Damit stapfte er durch den Schnee zu dem abgestürzten Hubschrauber.
„Idioten! Alle miteinander!“ Der Jaguar klappte sein Handy zu und warf es quer durch den Raum. Das Einzige, was er nicht ertrug, war Inkompetenz, und doch schien er davon umgeben zu sein.
Die beiden Männer, die vor seinem Tisch standen, verlagerten unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während sie auf neue Instruktionen warteten.
Wütend starrte der Jaguar sie an. „Sie hatten Funkkontakt, als der Hubschrauber abstürzte?“
Einer der Männer nickte. „Das ist korrekt.“
„Wie ist es passiert?“
„Einer der Männer im Hubschrauber hatte gerade auf dem Boden die Wissenschaftlerin entdeckt. Sie sind ihr gefolgt. Die Sicht war sehr schlecht. Ich kann nur vermuten, dass der Pilot die Stromleitungen nicht gesehen hat.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe die Schreie gehört …“
Die Männer, die gestorben waren, interessierten den Jaguar nicht. Ihn interessierte nur die Wissenschaftlerin. Und Sean Cutter, dieser Mistkerl. Er wusste, Cutter war gut genug, dass der Absturz auf sein Konto ging. Obwohl er den Mann hasste, musste er ihm auch widerwillig Respekt zollen. „Der Hubschrauber war mit GPS ausgerüstet?“
Der größere der beiden Männer trat vor. „Wir haben die Koordinaten bereits abgerufen.“
„Schickt ein Team zur Absturzstelle. Ich will, dass jeder verfügbare Mann nach ihnen sucht.“
„Wir haben zwei Teams mit Schneemobilen losgeschickt.“
„Ich will noch zwei weitere Teams da draußen haben.“
„Wird erledigt“, sagte der zweite Mann.
Die beiden Männer tauschten einen Blick. „Was ist mit den Leichen?“, fragte einer.
Der Jaguar winkte ab. „Lasst sie da. Ich brauche jeden verfügbaren Mann für die Suche nach der Wissenschaftlerin und dem verdammten Agent.“
„Aber Sir …“
„Ich sagte, lasst sie da!“ Er ging zu einer Landkarte, die an der Wand hing. „Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?“
„Sechs Meilen. Zu weit, als dass die beiden das bei diesem Wetter schaffen könnten.“
Er wandte sich zu den Männern um. „Begeht nicht den Fehler, Sean Cutter zu unterschätzen“, sagte er kalt.
„Wir geben unser Bestes, sie abzufangen, bevor sie die Stadt erreichen.“
„Der Erfolg eures Vorhabens misst sich an der Ergreifung der Wissenschaftlerin. Der nächste Mann, der sie entkommen lässt, wird von mir eigenhändig umgebracht. Sorgt dafür, dass das jeder weiß.“
„Ja, Sir.“
„Ich will, dass sie gefunden werden. Und ich will, dass ihr sie zu mir bringt.“
Und nachdem er die Informationen zu dem EDNA-Projekt aus ihr herausgeholt hatte, würde er sich schön viel Zeit lassen, die beiden zu töten.