1. KAPITEL
In dem Moment, als der Anruf morgens um vier Uhr auf seiner sicheren Leitung einging, wusste Mike Madrid, dass etwas Großes im Gange war. Der Anruf selber war nicht ungewöhnlich, schließlich arbeitete er für eine streng geheime Agency. Doch als Sean Cutter sich weigerte, ihm über das Telefon nähere Einzelheiten zu nennen, wusste er, dass es schlimm war.
„Ich will dich um null fünfhundert hier im MIDNIGHT-Hauptquartier sehen“, sagte Cutter.
Madrid legte die Strecke von seiner Wohnung in einem schicken Viertel von Washington, D. C. zum Hauptquartier der MIDNIGHT Agency in Rekordzeit zurück. Er erwartete, dass Cutter bereits ein Team für die Aufgabe zusammengestellt hatte, die seine Anwesenheit erforderte, doch er fand nur ihn allein im Besprechungsraum. Als Sean Cutter aufschaute, wusste Madrid mit einem Mal, dass es nicht um eine Mission oder einen Auftrag ging. Dieses Mal war es etwas Persönliches.
„Was ist passiert?“, fragte er ohne Vorrede.
„Setz dich.“
„Ich will mich aber nicht setzen.“ Madrids Herz fing an zu pochen. „Ich will wissen, was zum Teufel los ist.“
Cutter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. In den Tiefen seiner Augen sah Madrid Wissen. Vorsicht. Und am schlimmsten: Er sah eine verdammte Menge Mitleid. „Wir haben letzte Nacht einen Agenten verloren.“
„Wen?“ Doch noch bevor Cutter antwortete, wusste er es.
„Angela Matheson.“
Der Name traf ihn wie ein Hieb mit einem Schlagring. Ungläubigkeit und Trauer erfüllten ihn, doch Madrid ließ sich keine Reaktion anmerken. Er war ein Meister darin, seine Mimik und seine Körpersprache unter Kontrolle zu halten, und so stand er ganz still da, das Gesicht ausdruckslos, den Blick ruhig auf seinen Vorgesetzten gerichtet.
„Bist du sicher?“, fragte er nach einem Augenblick und war überrascht, dass seine Stimme so normal klang, wo er doch innerlich gerade zusammenbrach.
„Ja.“
„Wie ist es passiert?“
„Sie hatte einen Auftrag in Nordkalifornien. Höchste Geheimhaltungsstufe.“
„Drückst du dich absichtlich so vage aus?“
„Du weißt doch, wie das hier läuft.“
Da er selber fast ausschließlich als verdeckter Ermittler bei Aktionen von höchster Geheimhaltungsstufe eingesetzt wurde, wusste er, je weniger Menschen von einer Operation wussten, desto besser standen die Chancen, die Tarnung des Agents aufrechtzuerhalten. Er sollte Cutters Schweigen nicht persönlich nehmen, doch das tat er.
„Hat jemand sie enttarnt?“, fragte er. „Ist ihre Deckung aufgeflogen? Was ist passiert?“
„Wir wissen noch keine Einzelheiten.“
„Ich bin nicht in der Stimmung, abgewimmelt zu werden.“
„Dann hör auf, Fragen zu stellen, die ich nicht beantworten kann.“ Cutter seufzte müde, und Madrid erkannte, dass sein Chef die ganze Nacht über auf gewesen war. „Sieh mal, ich wollte nicht, dass du über Umwege davon erfährst. Deshalb habe ich dich hergebeten.“
Madrid wollte nicht, dass es hier um Gefühle ging. Sie hatten einen weiblichen Agent verloren. Doch er spürte die Emotionen in sich aufwallen. „Hast du jemanden darauf angesetzt?“
„Ja.“
„Wen?“
Cutter runzelte die Stirn.
Madrid lächelte, doch die Gefühle, die in seinem Inneren tobten, straften dieses Lächeln Lügen. „Du weißt, dass du mich hier nicht raushalten kannst.“
„Ich weiß, dass ich besser einen Agent darauf ansetze, der keine persönliche Beziehung zu dem Fall hat.“
„Ich bin kein verdammter Anfänger, Sean. Ich kann damit umgehen.“
„Keine Chance, Mike.“
Wut gesellte sich zu den Emotionen, die durch seine Adern rauschten. „Was ist mit dem Jungen?“ Nicolas, erinnerte er sich. Ein niedlicher Junge mit besonderen Bedürfnissen.
„Er wird vermisst.“
Der Satz traf ihn wie ein Schlag. Angela hatte das Kind mehr als alles in der Welt geliebt. Er wischte sich die Handflächen an seiner Hose ab. „Warum sollte jemand ihren Jungen mitnehmen? Ist er entführt worden oder was?“
„Das wissen wir noch nicht.“
Lügner. „Habt ihr einen Verdächtigen?“
Der Muskel in Cutters Kiefer zuckte. Das Schweigen, das folgte, sagte mehr als tausend Worte.
„Zeugen? Irgendetwas, womit man was anfangen kann?“
„Wir glauben, der Junge hat den Mord beobachtet.“
Der Knoten in Madrids Brust zog sich fester zu. Armes Kind! „Verdammt!“
„Es tut mir leid“, sagte Cutter nach einer Weile.
Das Letzte, was Madrid gebrauchen konnte, war Mitleid. „Wenn du willst, dass ich mich besser fühle, gib mir den Auftrag.“
Cutter verzog das Gesicht und entspannte sich dann ein wenig. „Mike, ich weiß, dass du und Angela … Dass ihr euch nahegestanden habt.“
„Das ist schon lange her. Sie war eine Freundin, mehr nicht.“
Cutters Miene nach zu urteilen, glaubte er ihm nicht.
Madrid verschwendete jedoch keine Zeit damit, weitere Fragen zu stellen. Cutter würde ihm nicht sagen, was er wissen musste, und die Zeit drängte, wenn er den Jungen nach Hause bringen wollte. Es gab verschiedene Wege, an Informationen zu gelangen – eine Aufgabe, in der Madrid immer sehr gut gewesen war.
Er griff in seine Jacke und holte seine MIDNIGHT-Identifikationsmarke aus dem Portemonnaie. Als Nächstes nahm er seine Beretta aus dem Schulterholster und legte sie auf den Konferenztisch.
Cutter schüttelte den Kopf. „Tu das nicht, Mike.“
„Dann gib mir diesen Fall. Sag mir, was ich wissen muss.“
„Du weißt, dass ich das nicht tun kann. Verdammt, es geht hier nicht um Rache!“
Ein kleines Lächeln zuckte in Madrids Mundwinkeln. „Es geht immer um Rache“, sagte er und verließ ohne einen Blick zurück den Raum.
Mike Madrid war ein wahrer Bluthund, wenn es darum ging, einen Mörder aufzuspüren. Sobald er die Spur aufgenommen hatte, gab es für ihn kein Halten mehr. Nach dem Gespräch mit Cutter war er in sein Haus zurückgekehrt und hatte angefangen, Gefallen einzufordern. Er nutzte seine über Jahre erworbenen Computerkenntnisse, um sich in eine sichere Datenbank zu hacken, die vom FBI als unhackbar eingestuft worden war. Innerhalb weniger Stunden hatte er einen Namen.
Jessica Atwood.
Achtundzwanzig Jahre alt. Kellnerin. Kürzlich unschön geschieden. Aus Phoenix. Keine Kinder. Keine Angehörigen. Sie und Angela waren vor gut zehn Jahren gemeinsam aufs College gegangen. Atwood hatte keine Akte, aber Madrid wusste, das bedeutete nicht, dass sie nicht fähig wäre, einen Mord zu begehen. Unter den richtigen Umständen war jeder dazu fähig. Die brennende Frage war nur, was wollte sie mit dem Kind?
Er erwischte einen Flug von Washington D. C. nach Sacramento und fuhr direkt in das kleine Küstenstädtchen Lighthouse Point. Direkt am Luna Bay gelegen, handelte es sich um eine idyllische kleine Hafenstadt aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts.
Überraschenderweise war kein anderer MIDNIGHT-Agent in Sicht. Es könnten verdeckte Ermittler hier sein, das wusste er, doch seiner Meinung nach sollte es im Ort nur so vor MIDNIGHT-Agents wimmeln. Immerhin war eine der ihren von einem Mörder ausgeschaltet worden.
„Ich kann nicht glauben, dass Angela tot ist“, sagte Polizeichef Norm Mummert kopfschüttelnd.
Das Büro des Polizeichefs war Madrids erster Anlaufpunkt gewesen. Er hatte sich als Ermittler des Büros des Bundesanwalts aus San Francisco vorgestellt. Dank seiner üppigen Sammlung an gefälschten Ausweisen hatte er alle notwendigen Papiere, um die Geschichte abzusichern. Doch noch hatte niemand danach gefragt.
„Angela war Polizistin?“, fragte er.
„Ja. Eine meiner besten.“
„Erzählen Sie mir von Atwood“, bat Madrid.
„Sie wirkte sehr nett. Hübsch und jung. Sie wohnte bei Angela. Soweit ich das verstanden habe, sind sie zusammen aufs College gegangen.“
„Sie waren befreundet?“
Mummert nickte. „Ich habe ein paar Anrufe getätigt und herausgefunden, dass Atwood zu Hause ein paar Schwierigkeiten hatte.“
„Was für Schwierigkeiten?“
„Eine Scheidung. Es ist wohl ziemlich hässlich geworden. Sie hat sich ein wenig Geld geschnappt und ist weggelaufen. Sie brauchte einen Platz, wo sie unterkommen konnte, und Angela hat sie aufgenommen.“ Er schüttelte den Kopf so stark, dass sein Doppelkinn wackelte. „Ich hätte Atwood nie einen Mord zugetraut.“
„Haben Sie denn Beweise, dass sie es war?“
Der Chief schaute ihn an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. „Sie hat meinen Officer mit einem Messer angegriffen und sich dann mit dem Jungen aus dem Staub gemacht. Ihre Fingerabdrücke waren überall, einschließlich der Mordwaffe.“
„Das Motiv?“
„Schwer zu sagen. Wir nehmen an, sie hatte es auf das Kind abgesehen. Das ist das einzige Szenario, das diese Tragödie wenigstens ansatzweise erklären kann.“
Mummert war ein rundlicher Mann mit schweren Tränensäcken und einer schlaff herunterhängenden Unterlippe. Obwohl Angela vor weniger als vierundzwanzig Stunden ermordet worden war, sah er aus, als hätte er schon seit einer Woche nicht mehr geschlafen. „Angela war wie eine Tochter für mich. Sie war eine gute Polizistin und eine Freundin.“
„Haben Sie irgendeine Ahnung, wohin Atwood geflohen sein könnte?“, fragte Madrid.
Der Chief seufzte. „Ich habe jeden verfügbaren Officer auf diesen Fall angesetzt. Die State Police hat eine Fahndung nach ihr ausgerufen. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.“
„Vielleicht hatte sie einen Komplizen, der sie abgeholt hat.“
„Wir haben sehr schnell Straßenkontrollpunkte eingerichtet. Ich glaube nicht, dass sie mit jemandem davongefahren ist.“
Nachdem er alle Informationen gesammelt hatte, die er hier bekommen konnte, erhob Madrid sich und streckte dem Chief seine Hand hin. „Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben. Wir bleiben in Verbindung.“
Auf dem Bürgersteig vor dem Polizeirevier blieb Madrid stehen und schaute sich in dem kleinen Städtchen Lighthouse Point um. Er fragte sich, was Angela hier gemacht hatte. Sie hatte sich als Polizistin ausgegeben. Ob ihr Auftrag wohl der Grund für ihre Ermordung war? Die alten Gefühle packten ihn mit unerwarteter Wucht. Gefühle, auf die sich jetzt einzulassen dumm wäre. Jetzt, wo er einen Mörder finden musste.
Er stieg in seinen Mietwagen und startete den Motor. Am Tatort war er bereits gewesen, hatte die Blutflecken und das Chaos im Haus gesehen. Obwohl er im Laufe der Jahre Dutzende Tatorte besucht hatte, hatte dieser hier ihn bis ins Mark erschüttert.
Die Hände am Lenkrad schaute er sich noch einmal um. „Wo bist du hingelaufen?“, flüsterte er.
Er wusste, wo Atwood das letzte Mal gesehen worden war. Die Gegend war weiträumig von Polizisten zu Fuß und von einem mit einer Wärmebildkamera ausgestatteten Hubschrauber durchsucht worden. Man hatte Spürhunde eingesetzt. Die Polizei war ratlos, wie sie hatte verschwinden können.
Aber Madrid verfügte gegenüber der Polizei über einen entscheidenden Vorteil. Einen Vorteil, den nicht einmal seine Kollegen von der MIDNIGHT Agency besaßen. Er hatte Angela Matheson sehr persönlich gekannt. Er kannte ihre Wünsche. Ihre Träume.
Ihre Geheimnisse.
Er wusste, dass Angela, wie die meisten Undercover-Agenten, einen geheimen Rückzugsort hatte, für den Fall, dass sie während einer Mission eine Weile untertauchen musste.
Soweit ich es verstanden habe, sind sie zusammen aufs College gegangen.
Die Worte des Polizeichefs hallten in seinem Kopf wider. Worte, die bestätigten, dass Jessica Atwood und Angela einst Freunde gewesen waren. Es bestand die entfernte Chance, dass Angela ihrer Freundin von der Hütte erzählt hatte. Vor allem wenn Atwood vor ihrem Exehemann davongelaufen war. Das Häuschen auf Wind River Island, nur eine Meile vor der zerklüfteten Küste gelegen, wäre das perfekte Versteck.
Dass sie dort war, schien unwahrscheinlich, aber Madrid hatte die Erfahrung gemacht, dass es sich manchmal auszahlte, auf das Unwahrscheinliche zu setzen.
„Wo du auch bist“, sagte er laut und lenkte den Wagen auf die Straße, „ich werde dich finden.“
Das Wasser, das Wind River Island umgab, war bekannt für gefährliche Unterströmungen und starken Wellengang. Nicht viele Menschen trauten sich auf die kleine, dicht bewaldete Insel. In Lighthouse Point gab es zwei Häfen, und innerhalb einer Stunde hatte Madrid die Bestätigung, dass Angela ein kleines Angelboot namens Riptide besessen hatte. Obwohl sie sich nicht im Hafenlogbuch ausgetragen hatte, befand sich das Boot nicht an seinem Platz.
Er wartete bis zum Einbruch der Dämmerung und mietete sich dann ein mittelgroßes Motorboot, wobei er vorgab, rauszufahren, um die ersten Lachse der Saison angeln zu wollen. Doch anstatt flussaufwärts zu den Laichplätzen der Lachse zu fahren, fuhr er aufs offene Meer hinaus.
Vom Nordwesten zog ein Sturm auf und warf das Boot auf den Wellen hin und her, als wäre es nicht mehr als ein Spielzeug. Madrid musste all seine nautischen Fähigkeiten einsetzen, um auf dem heimtückischen Gewässer zu manövrieren. Der Leuchtturm auf der Südseite der Insel diente ihm als Wegweiser, und endlich fand er auch die Zufahrt in den kleinen Hafen. Kurz vor Mitternacht legte er schließlich an dem heruntergekommenen Steg an und vertäute das Boot. Im Licht des Dreiviertelmondes machte er sich auf die Suche nach Angelas Mörderin.
Die Insel war klein, aber zu Fuß und in völliger Dunkelheit brauchte er eine Stunde, um die Hütte zu finden. Es handelte sich um eine rustikale Holzkonstruktion, die in einem kleinen Wald aus Hemlocktannen und Zedern stand. An der Westseite des Grundstücks fielen Klippen über dreißig Meter tief ab und trafen unten auf die wütende See, die wie wild gegen die felsige Küste schlug.
Der perfekte Ort für ein sicheres Versteck.
Madrid nahm seinen Revolver aus dem Schulterholster und näherte sich der Hütte von hinten. Aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Falls Atwood wirklich hier war, war sie sehr vorsichtig. Als er genauer hinschaute, sah er gedämpftes Licht aus dem Inneren dringen.
„Hab dich“, flüsterte er und spürte, wie sein Körper in Erwartung der Begegnung mit Adrenalin geflutet wurde.
Er schlich an der rückwärtigen Wand der Hütte entlang und riskierte einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Eine mit einem Fliegennetz versehene Veranda ging zu einer Gruppe windzerzauster Hemlocktannen hinaus. Mit dem Revolver in der Hand trat er um die Ecke.
„Geben Sie mir keinen Anlass, Sie zu töten.“
Bei dem Klang der weiblichen Stimme, die direkt hinter ihm ertönte, blieb er wie angewurzelt stehen. Einen Moment überlegte er, herumzuwirbeln und auf gut Glück zu schießen, doch das Geräusch einer Pistole, die durchgeladen wurde, hielt ihn zurück.
„Lassen Sie die Waffe fallen“, sagte die Stimme. „Sofort.“ Madrid konnte nicht glauben, dass er sich von einer Frau hatte überrumpeln lassen. Von einer Zivilistin. Das war nicht nur peinlich, sondern auch gefährlich. Sein Ego war jedoch groß genug, um sich an Ersterem mehr zu stören.
„Erwischt“, sagte er und ließ den Revolver fallen.
„Heben Sie die Hände.“
Er tat wie geheißen.
„Jetzt drehen Sie sich um. Langsam.“
Eher von sich enttäuscht als verängstigt, drehte er sich um. Ihr Anblick durchfuhr ihn wie ein Stromschlag, der jeden Nerv in seinem Körper traf. Sie war nicht, was er erwartet hatte. Obwohl er im Zuge seiner Recherchen Fotos von ihr gesehen hatte, war keines davon der rehäugigen Schönheit gerecht geworden, die eine tödlich aussehende Pistole auf ihn gerichtet hielt.
„Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?“, wollte sie wissen.
„Mein Name ist Mike Madrid“, sagte er leichthin. „Ich bin Federal Agent und suche nach Ihnen.“
Sie blinzelte, als hätte sie nicht erwartet, dass er die Wahrheit so einfach zugeben würde. Madrid musterte sie. Selbst in dem dämmrigen Licht, das durch das Fenster fiel, sah er, dass sie klein, aber athletisch war. Sie trug enge Jeans und ein übergroßes Sweatshirt, das nur wenig von ihrer Figur enthüllte. Aber Madrid hatte eine ausgeprägte Fantasie, vor allem wenn es um Frauen ging. Er nahm an, sie verfügte über Kurven an all den richtigen Stellen. Ein höllischer Gedanke, denn er war sich ziemlich sicher, dass das hier böse enden würde.
Ihre Haare waren irgendwas zwischen blond und braun und fielen in ungezähmten Strähnen auf ihre zarten Schultern. Ihre Augen hatten die gleiche graublaue Farbe wie das Meer, das unter ihnen an die Klippen schlug. Ihr bogenförmiger Mund war voll und lud trotz ihrer besorgten Miene zum Küssen ein.
Eine Einladung, die ich selbstverständlich nicht annehmen werde, ermahnte er sich. Er mochte vielleicht eine Schwäche für schöne, gefährliche Frauen haben, aber bei einer Polizistenmörderin hörte auch für ihn der Spaß auf.
„Warum suchen Sie nach mir?“, fragte sie.
„Weil ich Sie festnehmen will.“
Sie lachte, aber es war ein hoffnungsloses, humorloses Geräusch. „Gehen Sie ins Haus. Jetzt.“ Sie zeigte mit der Waffe auf die Hütte.
„Was immer Sie wünschen.“
Erst da bemerkte er den feinen Schweißfilm auf ihrer Stirn. Ihre Haut war geisterhaft blass, doch ihre Wangen von einem tiefen Rosa überzogen. Ihre Augen hatten einen glasigen Schimmer, der nicht von Adrenalin oder Angst herrührte. Drogen? fragte er sich und betete, dass sie dem Jungen nichts angetan hatte.
„Wo ist das Kind?“, fragte er, als er die Tür öffnete.
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
Er trat ein und drehte sich mit immer noch erhobenen Händen zu ihr um. „Geben Sie ihn mir, und ich lasse Sie laufen.“
Zorn blitzte in ihren Augen auf. Doch die Waffe zitterte ein wenig, als sie die Tür hinter sich schloss. „Warum sind Sie so an dem Kind interessiert?“
„Weil ich nicht will, dass ihm wehgetan wird.“
„Oder vielleicht wollen Sie auch das beenden, was Sie angefangen haben.“ Sie stieß ihn mit der Pistole an. „Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ich werde nicht zulassen, dass Sie dem Kind wehtun. Haben Sie das verstanden?“
Madrid war gut darin, Menschen zu lesen. Jetzt verriet ihm sein Instinkt, dass diese Frau tatsächlich glaubte, er wolle dem Jungen etwas antun. Aber warum würde sie das denken, wenn sie doch diejenige war, die ihn entführt und seine Mutter ermordet hatte? War sie mental labil? Psychisch krank? Oder ging hier etwas vor sich, von dem er nichts wusste?
„Die Polizei hat Angelas Leiche gefunden“, sagte er. „Sie sind die Hauptverdächtige. Sicher wissen Sie, dass Sie hiermit nicht durchkommen werden.“
„Ich habe Angela nicht umgebracht.“ Ihre Stimme brach, als sie den Namen aussprach, aber sie nahm einen zitternden Atemzug und fuhr fort. „Sie war meine Freundin. Sie hat mir geholfen.“
„Ihre Fingerabdrücke befinden sich auf der Mordwaffe.“
„Ich habe sie aufgehoben, aber nicht benutzt.“
„Sie haben den Jungen mitgenommen.“
„Um sein Leben zu retten.“
„Vor wem?“
„Vor der Polizei. Sie haben versucht, uns beide umzubringen.“
„Sie sind weggelaufen. Man hält Sie für die Mörderin. So was passiert, wenn man sich verdächtig verhält.“
„Ich bin nicht weggelaufen. Ich meine, anfangs nicht. Erst als ich erkannt habe, dass sie uns kaltblütig erschießen würden.“
Er glaubte ihr kein Stück. „Warum sollten sie das tun?“
„Ich weiß es nicht.“ Sie zuckte leicht zusammen und zeigte auf einen kleinen Stuhl an einem schmalen Tisch. „Setzen Sie sich.“
Doch Madrid blieb stehen und schaute sie weiter unverwandt an. „Was haben Sie vor? Wollen Sie mich auch töten?“
„Ich habe niemanden getötet. Ich versuche nur, am Leben zu bleiben.“
Er beobachtete, wie sie einen Strick von der Garderobe neben der Tür nahm. Sie musste sich schwer auf den Tisch abstützen, als sie an ihm vorbeikam. Sie zitterte. Die Strähnen, die ihr Gesicht umrahmten, klebten feucht an ihrer Haut. Fieber, dachte er. War sie krank?
„Wie haben Sie mich gefunden?“
„Das ist mein Job. Ich finde Menschen.“ Er zuckte mit einer Schulter. „Es war nicht sonderlich schwer.“ Er bedachte sie mit einem ernsten Blick. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei herausfindet, wo Sie sind.“
Über die Schulter warf sie einen Blick zu den dunklen Fenstern hinter sich. In ihren Augen sah Madrid den gehetzten Ausdruck eines gejagten Tieres. Eines Tieres, das müde und kurz davor war, sich zu ergeben. Gut, dachte er. Sie war erschöpft und hatte Angst, das verschaffte ihm einen Vorteil. Er ging einen Schritt auf sie zu.
Sie drehte sich abrupt zu ihm um und zeigte mit der Waffe auf den Stuhl. „Ich habe gesagt, Sie sollen sich setzen. Nehmen Sie Ihre Hände auf den Rücken.“
„Damit kommen Sie nicht durch. Warum machen Sie es uns beiden nicht einfacher und geben auf, bevor noch jemand verletzt wird?“
„Es ist bereits jemand verletzt worden“, gab sie bissig zurück. „Angela ist tot, und aus mir unerfindlichen Gründen glaubt die Polizei, ich hätte es getan. Jetzt versuchen sie, mich und den unschuldigen kleinen Jungen umzubringen.“
Mit dem Ärmel ihres Pullovers wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Gesicht war so blass, dass die Haut beinahe durchsichtig wirkte. Die Hand mit der Pistole zitterte, und sie blinzelte, als hätte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.
Madrid trat auf sie zu. „Sie sehen aus, als müssten Sie zum Arzt.“
„Alles, was ich muss, ist, zu wissen, warum die Polizei mir das anhängen und dem kleinen Jungen wehtun will.“
„Lassen Sie mich Ihnen helfen, es herauszufinden.“
Mit einem verzweifelten Lachen hob sie die Pistole und trat einen Schritt zurück. „Bleiben Sie mir vom Leib, oder ich schwöre, ich drücke den Abzug.“
„Jessica, geben Sie mir die Pistole.“
„Zwingen Sie mich nicht …“
Er stürzte sich auf sie und drückte den Lauf in Richtung Decke. Ein Schrei entfuhr ihr, als seine Finger sich um die Hand schlossen, mit der sie die Waffe hielt. Ein Schuss löste sich, und Putz rieselte auf sie herab. Für ihre Größe war sie überraschend stark, doch Madrid überwältigte sie trotzdem mit Leichtigkeit. Eine Drehung, und die Waffe war seine. Dann packte er ihren anderen Arm an der Schulter und schob sie von sich.
„Beruhigen Sie sich“, befahl er.
Sie kämpfte weiter, aber er bezweifelte, dass sie mehr als fünfzig Kilo wog. Sie war kein Gegner für seine eins neunzig und neunzig Kilo.
„Ich verhafte Sie wegen des Mordes an Angela Matheson“, sagte er.
„Ich habe sie nicht umgebracht.“ Sie schwankte und stützte sich mit dem Arm an der Wand ab, um das Gleichgewicht zu halten. „Das müssen Sie mir glauben.“
„Erzählen Sie das dem Richter, Honey.“ Er zog die Handschellen aus seinem Gürtel und ging auf sie zu. „Drehen Sie sich um, und zeigen Sie mir Ihre Handgelenke.“
Bevor er den Befehl durchsetzen konnte, stolperte sie erneut. Sie packte den Türknauf, um nicht hinzufallen. Doch ihre Augen rollten in die Höhlen zurück. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie streckte die Hände aus, wie um den Fall abzufangen. Dann fiel sie einfach um wie tot.