6. KAPITEL
Mattie wusste nicht, wie sie es schaffte weiterzugehen. Die Kälte zehrte nicht nur an ihrem Körper, sondern auch an ihrem Willen. Sie musste ihre ganze Konzentration aufbringen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr war mehr als kalt, sie war mehr als erschöpft. Ihre Hände waren taub. Ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen und schmerzten bei jedem Schritt. Der Drang, einfach aufzugeben, wurde immer stärker. Doch Mattie war noch nie jemand gewesen, der einfach aufgab.
Vor ihr stapfte Cutter durch den tiefen Schnee. Er glich einer Maschine auf Autopilot und bewegte sich in steter Geschwindigkeit vorwärts. Sie wusste nicht, wie er das machte. Ihre Erschöpfung wuchs mit jedem Schritt. Ihre Arme waren wie Pudding. Ihre Beine fühlten sich bleischwer an. Obwohl sie sich bewegte, wurde sie von einer immer stärker werdenden Müdigkeit erfasst. Am Rande ihres Sichtfelds verschmolzen Bäume und Schnee zu einer grauen Masse.
Sie hatten gerade das Tal erreicht, als sie stürzte. Gerade noch schleppte sie sich voran, dachte an eine heiße Dusche und ein warmes Bett, im nächsten Moment lag sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Sie fühlte die aufsteigende Kälte an ihrer Haut, aber wenigstens konnte sie sich jetzt ausruhen. Sie kuschelte sich tiefer in den Schnee und schloss die Augen …
„Mattie, kommen Sie. Stehen Sie auf.“
Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr. Sie wusste, dass es Cutter war. Sie wusste, er wollte, dass sie aufstand. Aber verstand er denn nicht, dass sie sich einen Moment ausruhen musste? Sie hatte nicht die Kraft, um sich mit ihm zu streiten. Sie wollte einfach nur, dass er sie allein ließ.
Mit einem Mal riss er sie auf die Füße. „Aufstehen“, knurrte er. „Ich werde das nicht zulassen.“
„Müde“, murmelte sie, überrascht, wie lallend sie sprach.
„Ich weiß, dass Sie müde sind. Das bin ich auch. Aber wir können jetzt nicht stehen bleiben.“
„Muss mich ausruhen.“ Sie schloss im Stehen die Augen. „Nur ein kleines bisschen …“
Der sanfte Schlag seiner Hand gegen ihre Wange weckte sie. Mattie funkelte ihn an. Ihr lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch sosehr sie sich auch bemühte, sie brachte die Worte nicht heraus. Das Einzige, was sie wollte, war, zu schlafen …
„Sie haben eine Unterkühlung“, sagte er. „Verdammt, Sie müssen in Bewegung bleiben!“
Mattie versuchte, einen Schritt zu machen, um ihn zu beruhigen, doch ihre Knie gaben unter ihr nach, und sie sank wieder zu Boden. Ihre Hände waren von Schnee bedeckt. Seltsamerweise waren sie nicht länger kalt. Ihre Hose war an den Knien nass, doch der Schnee wirkte so einladend. „Lassen Sie mich in Ruhe.“
„Auf keinen Fall.“
Ehe sie sich versah, hatte er sie hochzogen und auf seine Arme genommen. Sie war nicht so weit weggetreten, als dass sie nicht erkannt hätte, dass sie in seiner schlechten Verfassung zu schwer für ihn war, aber sie war zu schwach, um zu protestieren.
Wärme strahlte von seinem Körper aus. Mattie entspannte sich. Sie spürte, wie ihr Kopf nach hinten rollte. Sie schaute in den wirbelnden grauen Himmel und erhaschte einen Blick auf Cutters Gesicht. Seine Lippen hatten eine leichte Blaufärbung, sein Kiefer war angespannt, seine Miene entschlossen.
Er rettet mir das Leben, dachte sie verschwommen.
Dann brach Dunkelheit mit aller Macht über sie herein, und sie dachte an gar nichts mehr.
Scheitern war etwas, das der Jaguar nicht tolerierte. Nicht bei sich. Und ganz sicher nicht bei anderen. Aber genau das war passiert. Sein Team war gescheitert. Was bedeutete, dass er gescheitert war.
Er saß in einem Touristenhotel zwanzig Meilen von der kanadischen Grenze entfernt und wartete darauf, dass der Sturm vorüberzog. Seine Laune war miserabel. Geduld hatte noch nie zu seinen Stärken gezählt, genauso wenig wie eine Niederlage zu verkraften. Oder zu scheitern. Er würde nicht zulassen, dass die amerikanische Wissenschaftlerin ihm entkam.
„Wie ist das passiert?“, fragte er und machte sich nicht die Mühe, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken.
„Wir sind ihnen zur Höhle gefolgt und waren nur wenige Minuten davon entfernt, sie zu fassen, als eine Lawine den Höhlenausgang blockierte.“ Das glänzend schwarze Haar des Mannes war zu einem Zopf zusammengefasst, was seine hohen Wangenknochen und dicken Augenbrauen betonte. Sein Blick und seine Stimme waren ruhig und ausgeglichen. Wie die anderen Männer, die für den Jaguar arbeiteten, war auch er ein Profi. Doch der Jaguar sah die Nervosität unter der Oberfläche. Das leichte Zittern der Hände, wenn er sprach. Die Bewegung seines Adamsapfels, wenn er schluckte.
„Eine Lawine?“
„Wir glauben, der Agent hat Sprengstoff benutzt, um eine Lawine auszulösen, die den Höhlenausgang versperrt und uns davon abhält, sie weiter zu verfolgen.“
„Ich verstehe.“
Der Blick des jungen Mannes ging zum Fenster, vor dem der Schnee unermüdlich fiel. „Vielleicht können wir nach dem Sturm …“
Der Jaguar wirbelte zu ihm herum. „Nicht nach dem Sturm. Jetzt. In einer Stunde will ich einen vollgetankten Hubschrauber bereitstehen haben.“
„Aber die FAA hat alle Flüge …“
Der Jaguar beugte sich vor, sodass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des jungen Mannes entfernt war. „Bist du ein Feigling? Hast du Angst, für deine Sache zu sterben?“
„Nein.“
„Gut. Tank den Hubschrauber auf. Brief den Piloten. Stell sicher, dass er innerhalb einer Stunde bereit zum Abheben ist.“
Der junge Mann nickte. „Jawohl.“
Doch der Jaguar war noch nicht fertig. „Sag dem Rest der Männer, dass ich jeden eigenhändig töten werde, der nicht bereit ist, für die Sache zu sterben.“
Der junge Mann nickte wieder und eilte aus dem Raum.
Cutter trug sie so weit, wie er konnte, und dann noch ein Stück weiter. Die Sichtweite war auf null gesunken, und der Wind klatschte ihm ins Gesicht wie eine gewaltige eisige Hand. Die Kälte durchdrang seinen Körper, paralysierte seine Muskeln.
An irgendeinem Punkt in den vergangenen Stunden hatte er die Möglichkeit akzeptiert, dass sie hier draußen sterben konnten. Die optimistische Seite in ihm fand Trost darin, dass sie ihr Leben somit wenigstens nicht unter der grausamen Hand des Jaguars beenden mussten. Eine Unterkühlung war nicht die schlechteste Todesart. Das einzige Problem an diesen Gedanken war, dass Cutter noch für mindestens dreißig oder vierzig Jahre nicht vorhatte zu sterben.
Aber er dachte daran aufzuhören. Einfach Mattie in den Schnee zu legen, sich an sie zu kuscheln und sie zu halten, bis die Kälte sie beide zu sich nahm. Das wäre der leichte Weg. Und den hatte er in seinem Leben noch nie beschritten.
Genau in dem Moment stolperte er über etwas, das unter dem Schnee verborgen war. Geschwächt von der Unterkühlung, ließ er Mattie los und fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Einige Sekunden lag er einfach da. Verdammt, das war schlimm! Er sollte aufstehen und etwas tun. Vielleicht ihnen eine Höhle graben. Wenigstens würde sie die vor dem Wind schützen.
Mattie lag neben ihm, das Haar nass, der Teint aschfahl. Guter Gott, war sie schon tot? Voller Sorge wollte er gerade die Hand nach ihr ausstrecken, als ihm das leichte Heben und Senken ihrer Brust auffiel. Gott sei Dank, sie atmete! Aber er wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Verdammt, so hatte das nicht enden sollen!
Er war nicht sicher, woher er die Kraft nahm, aber er wuchtete sich auf die Knie, nahm sie in seine Arme und kämpfte sich auf die Beine. Dann bemerkte er, dass er nicht über einen umgestürzten Baum gestolpert war, sondern über ein Stück Holz. Er blinzelte in den blendend weißen Schneewirbel. Anfangs dachte er, ein bizarres Trugbild zu sehen, doch dann erkannte er, dass das Holz von der Veranda einer kleinen Hütte abgefallen war. Er war über genau das gestolpert, wonach er seit Stunden suchte: die alte Jagdhütte.
Mit zittrigen Beinen schleppte Cutter sich auf die marode Veranda. Mit der Schulter stieß er die Haustür auf. Das verrottete Holz gab mit einem lauten Knacken nach. Er stolperte ins Innere. Staub und der muffige Geruch nach feuchtem Holz stiegen ihm in die Nase. Direkt vor ihm dominierte ein Kamin aus Steinen den Raum. Schmutzige Fenster ließen nur wenig Licht herein, doch es reichte, um neben der Hintertür einen klapprigen Tisch und Stühle zu erkennen. Eine kleine Spüle. Regale. Ein Bett.
Die Frau in seinen Armen regte sich. Cutter schaute sie an. „Halt durch, Blondie“, flüsterte er.
Er fegte Staub und Schmutz vom Bett und legte sie auf die Matratze. Dann schaute er sich um und erblickte eine abgewetzte Decke, die über der Rückenlehne eines Stuhls hing. Er entfaltete sie und deckte Mattie damit zu. Das musste reichen, bis es ihm gelungen war, ein Feuer zu machen.
Als er aufstand, wurde ihm kurz schwindelig, und er kämpfte darum, das Gleichgewicht zu behalten. Er brauchte Holz fürs Feuer. Auf Beinen so schwer wie Blei ging er zu dem Tisch und den Stühlen hinüber. Ungelenk hob er einen der Stühle auf Schulterhöhe und ließ ihn hart auf den Tisch hinuntersausen. Einmal. Zweimal. Beim dritten Versuch brach der Tisch in zwei Teile. Ein weiterer Schlag, und zwei der Stuhlbeine fielen klappernd zu Boden.
Cutter sammelte das Holz ein und schichtete es ordentlich im Kamin auf. Er fand noch ein paar alte Zeitungsseiten, mit denen jemand die Regale ausgelegt hatte, knüllte sie zusammen und legte sie unter das Holz. Ein Fluch entfuhr ihm, als er die Streichholzpackung aus der Tasche nahm und feststellte, dass die meisten der Streichhölzer feucht waren. Nach kurzer Suche fand er doch noch ein trockenes und riss es an den Steinen des Kamins an. Es brannte beim ersten Versuch. Vorsichtig hielt er die Flamme unter das Holz und sah zu, wie das Papier Feuer fing.
Sobald das Holz brannte, wandte er sich wieder Mattie zu. Sie sah unglaublich klein und verletzlich aus, wie sie da auf der Seite zusammengerollt unter der alten Decke lag. Er musste ihr die nasse Kleidung ausziehen. Das war zwar das Letzte, was er wollte – seine Reaktionen auf sie waren ihm nicht ganz geheuer –, aber er wusste genug über Unterkühlung, um zu wissen, dass nichts einem Körper schneller die Wärme entzog als Wasser.
Also kniete er sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mattie.“
„Müde …“, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Wir haben es geschafft“, sagte er. „Wir sind in der Hütte. Ich habe ein Feuer gemacht. Sehen Sie? Sie müssen Ihre nassen Klamotten ausziehen, damit Ihnen warm wird.“
Ihre Lider öffneten sich flatternd. Sie schien ihn nicht zu erkennen. Ihre geweiteten Pupillen machten ihm Sorgen. Ihre Körpertemperatur war gefährlich niedrig. Sie war nicht in der Lage, sich auszuziehen. Wenn ihr Herzschlag und die Sauerstoffaufnahme sich weiter verlangsamen würden …
„Ich werde Sie jetzt ausziehen, okay?“
„Muss … schlafen“, lallte sie.
„Nicht jetzt.“ Er schob seine Arme unter ihren Rücken und brachte sie in eine sitzende Position. Dann schaute er sich ihre Kleidung an. Den inzwischen zerknitterten und zerrissenen schwarzen Wollanzug. Die weiße Bluse. Sie war bis auf die Haut durchnässt.
Mit dem rechten Arm und der rechten Schulter hielt er sie und knöpfte mit der linken Hand ihr Sakko auf. Mattie war wie eine Puppe in seinen Armen und arbeitete kein Stück mit, als er ihr den Blazer auszog und auf den Boden warf. Die Bluse klebte an ihrer Haut. Darunter sah er den Hauch eines Spitzen-BHs und die Wölbung ihrer Brüste. Mit zitternden Fingern fing er an, die Bluse aufzuknöpfen.
„Was mach’n Sie da?“ Mattie zuckte zurück und versuchte, seine Hand wegzuschieben.
Cutter ließ sich nicht stören. „Sie sind unterkühlt“, sagte er mit fester Stimme. „Wir müssen Sie aus diesen nassen Klamotten rauskriegen, damit Ihr Körper sich aufwärmen kann.“
Er versuchte, nicht hinzusehen, als er anfing, ihr die Bluse auszuziehen, doch sein Blick wurde wie magisch von ihren großen Brüsten angezogen, die ganz in Spitze und Baumwolle gehüllt waren. Dazu ein flacher Bauch und die Art von Kurven, die ein Mann mit beiden Händen packen wollte.
Sie schlug ihm auf die Hand. „Bitte. Nicht.“
Er packte ihr Handgelenk. „Ganz ruhig“, sagte er. „Ich muss das tun. Danach legen wir Sie dicht ans Feuer, okay?“
Die Erwähnung des Feuers schien sie zu beruhigen. Cutter schob die Bluse über die Arme und ließ sie dann zu Boden fallen. Er versuchte, nicht ihre Haut zu berühren, als er ihre Hose öffnete. Und er strengte sich sehr an, nicht hinzusehen, während er den feuchten Stoff über ihre langen, wohlgeformten Beine zog. Auch wenn Cutter in erster Linie MIDNIGHT-Agent war, so war er doch auch ein Mann.
Die Erinnerung daran, wie ihr Körper sich an seinem angefühlt hatte, überfiel ihn mit aller Macht. Die Weichheit ihres Mundes. Die Wärme ihres Atems an seiner Wange. Nicht einmal eine Unterkühlung konnte sein Blut davon abhalten, heiß in seine Lenden zu schießen …
Wie konnte er sich nur so von einer Frau angezogen fühlen, die er eigentlich nur zurückbringen sollte? Einer Frau, die ihr Land verraten hatte?
Genervt von sich biss Cutter die Zähne zusammen. So schnell und unpersönlich wie möglich zog er ihr die Schuhe und dann die Hose aus. Ihr BH und ihr Slip waren auch nass, aber auf keinen Fall würde er die auch nur anfassen. Er hüllte sie in die Decke und zog das Bett dann näher ans Feuer, sodass sie maximale Wärme abbekam.
Ihre Kleidung hängte er über einen Stuhl und stellte den ebenfalls neben den Kamin, damit sie trocknen konnte. Dann machte er sich daran, sich aus seinen feuchten Klamotten zu schälen. Er hatte angefangen zu zittern, was ein gutes Zeichen war. Sein Körper taute langsam auf, versuchte, sich selber zu wärmen und die Körpertemperatur auf ein normales Level zu bringen. Doch selbst mit dem lodernden Feuer war die Temperatur in der Hütte noch unter dem Gefrierpunkt. Wenn sie sich ausreichend erholen wollten, um aus eigener Kraft irgendwann weiterzugehen, würde er sich etwas einfallen lassen müssen.
Die zweitbeste Wärmequelle neben einem Feuer war Körperwärme. So wenig er auch daran denken wollte, zu Mattie Logan unter die Decke zu kriechen, wenn sie nicht mehr anhatten als Unterwäsche, wusste er doch, dass es das Klügste wäre, was er tun konnte. Nicht nur für ihn, sondern auch für sie. Ihre Körpertemperatur war gefährlich niedrig. Wenn sie sich zu schnell erwärmte, könnte kaltes Blut von der Oberfläche zu ihren inneren Organen geleitet werden und einen Schock auslösen. Körperwärme war die perfekte Lösung dafür.
Am ganzen Körper unkontrolliert zitternd hob er die Decke an. Mattie lag zusammengerollt auf der Seite. Er versuchte, ihre Schönheit nicht wahrzunehmen, als er sich vorbeugte und ihre Schulter mit der Rückseite seiner Finger berührte. Ihre Haut war kalt, aber ihre Lippen waren nicht länger blau. Er überprüfte ihren Puls, der sehr langsam schlug. Zu langsam, dachte er.
Damit war die Entscheidung gefallen. Er stieg ins Bett und legte sich hinter sie. Dann zog er die Decke über sie beide und schlang seine Arme um ihren Oberkörper. Er zwang sich, nicht auf unangemessene Weise an sie zu denken, doch sein Körper spielte da nicht mit. Die Matratze roch muffig, aber es war der Duft nach Rosmarin und Zitrone, der ihm in die Nase stieg, als er sanft in einen traumlosen Schlaf hinüberglitt.