4. KAPITEL
Jess konnte nicht glauben, dass ihr Leben so enden würde. Die einzige Entscheidung, die ihr blieb, war, ob sie versuchen sollte, wegzulaufen, um in den Rücken geschossen zu werden, oder ob sie ihre Arme um das verängstigte Kind an ihrer Seite schlingen und auf den tödlichen Schuss warten sollte.
„Bitte nicht“, sagte sie.
Nicolas klammerte sich an ihr Bein und gab hohe klagende Geräusche von sich, während er sich vor und zurück wiegte. Es tut mir leid, Angela, dachte sie. Im Hinterkopf fragte sie sich, wo Madrid steckte. Ob er angeschossen worden war oder vielleicht getötet …
Jess fiel auf die Knie und schlang ihre Arme um den kleinen Jungen. Dann drehte sie sich zu dem Mann um. Sie schloss die Augen und hielt Nicolas ganz fest an sich gepresst. „Alles wird gut“, flüsterte sie.
Aber die Lüge brach ihr das Herz.
Zu ihrer Rechten donnerte eine Welle heran. Der Wind zerrte an ihr. Ohne dass sie es bemerkt hatte, hatte der Regen sie bis auf die Knochen durchnässt. Die kostbaren letzten Sekunden ihres Lebens …
Ein Schuss riss sie aus ihren Gedanken. Jess öffnete die Augen und sah, dass der Mann mit der Waffe auf dem Strand zusammensackte. Ein zweiter Mann kam blitzschnell die Holztreppe herunter, auch er hatte eine Pistole in der Hand.
Ohne nachzudenken, packte Jess die Hand des Jungen, sprang auf die Füße und zog ihn mit sich den Strand hinunter. „Lauf!“, rief sie. „Schneller!“
Sie versuchte, nah an den Felsen und damit in Deckung zu bleiben. Der Sand behinderte sie, doch sie lief einfach weiter.
„Jess!“
Wie aus weiter Ferne registrierte sie, dass jemand ihren Namen gerufen hatte. Doch sie agierte aus reiner Panik und dem Willen zu überleben. Ein Blick über ihre Schulter verriet ihr, dass der Mann zu ihnen aufschloss.
Guter Gott, er wird uns kriegen!
„Stopp!“
Sie schrie, als eine schwere Hand sich auf ihre Schulter legte. Mitten im Laufen drehte sie sich herum, ließ Nicolas’ Hand los und schubste den Jungen von sich. „Lauf!“
In der Hoffnung, dass der Junge sie verstanden hatte, stellte sie sich ihrem Angreifer und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. „Lassen Sie mich los!“, rief sie.
Der Mann legte sie mit einer kurzen Bewegung flach in den Sand. „Ganz ruhig!“ Ich bin’s. Madrid.“
Der Nebel des Grauens lichtete sich, und Jess hörte auf, gegen ihn anzukämpfen. Schwer atmend schaute sie den Mann an, der auf ihr lag. Irgendwann in den letzten Minuten hatte sie angefangen zu weinen. Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. „Er wollte … er wollte …“
„Aber er hat nicht.“ Madrid richtete sich auf und kniete sich neben sie in den Sand. „Atmen Sie ganz ruhig durch.“
„Er wollte uns umbringen.“ Jess wusste, es war dumm, immerhin war sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen, aber trotzdem konnte sie nicht aufhören zu weinen. „Er wollte einen unschuldigen kleinen Jungen töten.“
„Jetzt ist alles gut.“ Madrid streckte ihr die Hand hin und half ihr aufzustehen.
„Wo ist Nicolas?“
„Gleich hier. Ihm geht es gut.“
Ein weiterer Schluchzer schüttelte sie, als der kleine Junge ihr Bein umfasste und sich an ihr festklammerte. „Sind da noch mehr von denen?“ Sie legte eine Hand auf Nicolas’ weiches Haar und schaute sich um.
„Nein.“
„Oh Gott, Madrid. Ich hatte solche Angst.“
„Jetzt sind Sie beide sicher.“
Es kam ihr ganz natürlich vor, dass er sie in die Arme nahm. Sein Körper war fest und warm. Sie war sich vage bewusst, dass er auch Nicolas an sich zog. Der kleine Junge gab wieder diese klagenden Geräusche von sich. Jess hatte einen Arm um Madrid gelegt. Den anderen schlang sie um Nicolas’ Schulter und drückte ihn leicht.
„Alles wird wieder gut“, sagte Madrid.
Doch Jess hatte das Gefühl, als wenn nie wieder etwas gut werden würde.
Madrid war nicht ganz sicher, was vor einigen Minuten am Strand passiert war, aber er bekam es nicht mehr aus dem Kopf. Selbst als Angelas Boot auf dem Rückweg zum Festland von beinahe zwei Meter hohen Wellen überspült wurde, ertappte er sich dabei, daran zu denken, wie Jess sich in seinen Armen angefühlt hatte. Er wusste nicht, was er deswegen unternehmen sollte. Wenn er klug war, nichts. Aber Madrid war noch nie sonderlich klug gewesen, wenn es um Frauen in Gefahr ging.
Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie herausfinden mussten, wer versuchte, Jess und Nicolas zu töten. Denn sie würden garantiert zurückkommen, um den Job zu beenden. Um alles andere würde er sich später kümmern.
Anstatt in den Hafen zurückzukehren, in dem die Riptide bislang gelegen hatte, steuerte er in Richtung Süden, wo der Strand weniger felsig war und er das Boot auf Grund laufen lassen konnte, ohne Gefahr zu laufen, den Rumpf zu beschädigen.
„Wohin fahren wir?“
Er schaute auf und sah Jess und Nicolas zusammengekuschelt im Heck des Bootes sitzen. Vorhin hatte er eine Regenjacke gefunden, in die Jess den Jungen eingewickelt hatte. Was keine sonderlich große Hilfe war. Sie alle drei waren bis auf die Haut durchnässt. Der Wind kam aus Nordwesten und sorgte dafür, dass sich die Temperatur anfühlte wie maximal vier Grad.
„Wir lassen das Boot zurück und gehen an Land“, sagte er.
„Woher wissen wir, dass die dort nicht auf uns warten?“ Ihm gefiel nicht, dass ihre Zähne klapperten und sie vollkommen nass und ungeschützt war. Die Unterkühlung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Das können wir nicht wissen.“ Aber ihre Verfolger waren einfallsreich; es würde nicht lange dauern, bis sie ihnen wieder auf den Fersen wären.
Jess gab Nicolas einen Kuss auf das feuchte Haar und stand dann auf, um zu Madrid zu gehen. „Wir müssen ihn an einen warmen, sicheren Ort bringen“, sagte sie. „Er hat Fürchterliches durchgemacht. Ihm ist kalt, und er hat Angst …“
„Ich weiß“, gab Madrid angespannt zurück. Er hasste es, den kleinen Jungen so aschfahl und still zu sehen, vor allem nachdem er seine Mutter verloren hatte. Das Problem war, er wusste gerade einfach nicht, was er dagegen unternehmen sollte.
„Es muss doch irgendjemanden geben, der uns helfen kann.“
Madrid kannte jemanden. Nur wollte er diesen Menschen nicht auch noch in Gefahr bringen. Allerdings, so wie die Dinge liefen, blieb ihm vermutlich keine andere Wahl. „Ich habe da eine Idee.“
Die Dämmerung brach herein und malte ein Mosaik aus Pastellfarben an den Himmel. Madrid steuerte das offene Fischerboot durch den schweren Wellengang und hielt dann in östlicher Richtung auf den Strand zu, als er den alten Pier erblickte. Diesen als Deckung nutzend, lenkte er das Boot an den Strand. Er sprang in das knietiefe Wasser und half Jess und Nicolas vom Boot. Dann nahm er die Tasche mit den verschiedenen Gegenständen, die er aus Angelas Hütte mitgenommen hatte.
„Was ist in der Tasche?“, wollte Jess wissen.
„Lassen Sie uns einfach sagen, dass Angela der Überzeugung war, dass bestimmte Dinge irgendwann mal von Nutzen sein würden.“
Sie schaute ihn fragend an. „Wenn etwas zu essen dabei ist … Nicolas könnte gut was gebrauchen …“
„Kein Essen“, unterbrach Madrid sie. „Mehr müssen Sie darüber nicht wissen.“
„Gut.“
Sie trotteten durch den Sand in Richtung Küstenstraße, die knappe hundert Meter entfernt lag. „Ich muss für Nicolas irgendwoher trockene Kleidung bekommen.“
Als sie ihn so anschaute, bemerkte Madrid, dass Jess’ Zähne klapperten wie kleine Presslufthämmer. Sie schloss zu ihm auf, und Madrid blieb stehen, um den kleinen Jungen auf den Arm zu nehmen. „Meine Körperwärme wird ihn warm halten.“
Jess blinzelte. „Gut.“
Selbst kalt und nass und verängstigt war sie wunderschön. Ihr blasser Teint betonte ihre dunklen Augen, und ihre Lippen wurden langsam blau. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie gut sie sich in seinen Armen angefühlt hatte.
Er schalt sich für diese Gedanken, die in dieser Situation vollkommen unangemessen waren. Inzwischen waren sie an der Hauptstraße angekommen, und er wandte sich nach rechts in Richtung des kleinen Fischerortes Rocky Fork, der eine halbe Meile die Straße hinunter lag. Madrid war nicht sicher, ob er dort willkommen sein würde. Er war vor elf Jahren nicht gerade im Guten gegangen.
Aber mit einer verletzten Frau und einem Kind, das ein warmes Dach über dem Kopf und etwas zu essen brauchte, fiel ihm nichts anderes ein. Er hoffte nur, dass man sie an der Tür nicht abweisen würde.
Als sie Rocky Fork endlich erreicht hatten, stand Jess kurz davor, vor Kälte und Erschöpfung zusammenzubrechen. Ihr Arm pochte mit jedem Schlag ihres Herzens. Madrid, der neben ihr ging und Nicolas trug, wirkte hingegen kein bisschen müde oder verkühlt. Was ihr jedoch auffiel, war die Achtsamkeit in seinen Augen und die Tatsache, dass er sich alle paar Minuten umschaute. Das reichte, um sie weitergehen zu lassen.
„Glauben Sie, die werden zurückkommen?“, fragte sie.
„Ich denke, das ist nur eine Frage der Zeit.“ Er deutete auf eine alte, aus Steinen erbaute Kirche, auf die sie über einen Kopfsteinpflasterweg zugingen.
„Was wollen wir hier?“
„Ich kenne hier jemanden“, war alles, was er sagte.
Auf der Rückseite des Gebäudes drückte Madrid eine schwere Holztür auf und ließ Jess eintreten.
Im Inneren der Kirche war es schummrig, aber warm. Der Geruch von Weihrauch und Kerzenwachs schwebte durch die Luft. Hinter dem kleinen Mittelschiff und den altmodischen Bänken stand ein Altar, der von Buntglasfenstern eingerahmt wurde, die sechs Meter in die Höhe ragten.
„Willkommen in St. Augustine. Kann ich Ihnen helfen?“
Jess wirbelte herum und sah einen großen Mann näher kommen. Die dunklen Haare und Augen passten farblich zu seiner Hose und Jacke. Sie hätte ihn nie für einen Priester gehalten, wenn ihn der weiße Kragen nicht verraten hätte.
Sein freundliches Lächeln schwand, als er Madrid erblickte, und für einen Moment sahen die beiden Männer sich sehr ähnlich.
„Überrascht, mich zu sehen?“, fragte Madrid.
„Ich bin überrascht, dass du überhaupt noch am Leben bist“, erwiderte der Priester.
„Das war nicht leicht.“ Madrid streckte seine Hand aus. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Natürlich tust du das.“ Der andere Mann ergriff die dargebotene Hand. „Das sind die einzigen Gelegenheiten, zu denen ich dich sehe. Wenn du etwas brauchst oder wenn du blutest.“
„Dieses Mal geht es nicht um mich.“
Der Blick des Priesters wanderte zu Jess, dann zu Nicolas. „Wo hast du dich dieses Mal hineingeritten?“
„Das erzähle ich dir später.“ Madrid wandte sich an Jess. „Matt, darf ich dir Jess Atwood vorstellen. Jess, das ist mein Bruder, Father Matthew Madrid.“
Einen Moment war Jess so geschockt, dass sie nicht sprechen konnte. Sie hatte alles Mögliche erwartet, aber das hier nicht. Sie versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, und streckte ihm die Hand hin. „Hallo.“
Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. Sein Lächeln war das offenste, wärmste Lächeln, das sie je an einem Mann gesehen hatte. „Willkommen in St. Augustine.“ Father Matthew deutete auf Nicolas. „Und wer ist der Junge?“
„Angelas“, sagte Madrid.
Madrids Miene verdunkelte sich. „Sie ist tot.“
„Das tut mir leid.“ Father Matthew wirkte erschüttert. „Wie …?“
„Gibt es hier einen Ort, an dem wir reden können? Unsere Kleidung trocknen?“ Madrid schaute zur Tür, eine Geste, die an seinem Bruder nicht unbemerkt vorüberging.
Der Priester zögerte.
„Bitte.“ Jess streckte ihre Hand aus und berührte den Mann am Arm. „Nicolas braucht etwas Trockenes zum Anziehen und etwas zu essen.“
„Natürlich.“ Father Matthew deutete auf eine Tür rechts von der Kanzel. „Das alte Pfarrhaus wird nicht benutzt.“
Er führte sie über einen Innenhof zu einem quadratischen Gebäude, das nicht größer war als eine Einzelgarage. Küche und Wohnzimmer waren ein Raum und mit alten, aber funktionalen Möbeln eingerichtet. Es roch ein wenig nach Staub und Raumerfrischer, aber es war warm und trocken, und im Moment konnte Jess sich keinen einladenderen Ort vorstellen.
„Die Handtücher befinden sich im Schrank im Flur“, sagte Father Matthew. „Decken liegen auf den Betten, in den Schränken gibt es noch weitere.“
„Danke“, sagte Jess.
Father Matthew lächelte. „Gern geschehen.“
Madrid trat auf ihn zu und drückte ihm mehrere Geldscheine in die Hand. „Kannst du uns etwas zu essen besorgen?“
Die Blicke der Brüder trafen sich. „Du schuldest mir eine Erklärung.“
„Die bekommst du. Versprochen.“
„Ich weiß, was für ein Leben du führst, Mike. Ich verurteile das nicht, aber es gibt hier Frauen und Kinder. Ich will nicht, dass sie in Gefahr gebracht werden.“
„Niemand weiß, dass wir hier sind.“ Er verzog das Gesicht. „Und wir werden auch nicht lange bleiben.“
Father Matthews Blick wanderte zu Jess. Er nickte ernst. „Wir sprechen später weiter“, sagte er und ging.
Nach einer heißen Dusche fühlte Jess sich wieder wie ein Mensch. Und nachdem sie ihren Arm neu bandagiert hatte, der dank Angelas Antibiotikum bereits wesentlich besser aussah, sah sie, dass Madrid ihre Kleidung gewaschen hatte. Sie zog sich an und badete Nicolas, dann setzten sie sich zu dritt an den kleinen Küchentisch und genossen das Festmahl, das aus heißer Suppe und Sandwiches bestand, die Father Matthew besorgt hatte.
„Wir müssen reden.“
Jess saß neben Nicolas und beobachtete, wie er mit einem Spielzeuglaster spielte, den Father Matthew für ihn gekauft hatte, als Mikes Stimme hinter ihr ertönte. Sie gab dem Jungen einen Kuss auf den Scheitel, erhob sich und drehte sich zu Madrid um. Er wirkte unglaublich groß, und sie widerstand dem Drang, den Blick abzuwenden, als seine dunklen Augen ihre suchten. „Okay“, sagte sie.
Er zeigte auf den Küchentisch, auf dem zwei dampfend heiße Becher Kaffee standen. „Ist leider nur Instantkaffee.“
„Solange er heiß ist, ist es mir egal.“ Sie warf Nicolas einen letzten Blick zu, dann ging sie zum Tisch und setzte sich. „Es war nett von Ihrem Bruder, uns aufzunehmen.“
Madrid lächelte. „Er hat gute Gene.“
„Er weiß, dass Sie einen gefährlichen Job haben.“
Er setzte sich ihr gegenüber. „Mehr als einmal hat er mir den Hintern gerettet.“
„Was er über die Kinder gesagt hat …“
Er schnitt ihr das Wort ab. „Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“
Jess spürte, sie würde nicht mögen, was er ihr als Nächstes zu sagen hatte.
„Ich muss arbeiten“, fing er an. „Ich möchte, dass Sie und Nicolas hier bei Father Matthew bleiben.“
„Nein.“ Das Wort war raus, bevor sie darüber nachgedacht hatte. Doch das musste sie auch nicht. Auf keinen Fall konnte sie das hier nach allem, was passiert war, einfach hinter sich lassen.
„Nicolas hat genug durchgemacht.“ Er schaute zu dem kleinen Jungen. „Er braucht Normalität. Einen geregelten Tagesablauf. Den wird er bei mir nicht bekommen.“
„Das alles wurde ihm in der Nacht genommen, in der jemand seiner Mutter eine Kugel in den Bauch geschossen hat“, gab Jess kurz angebunden zurück.
„Sie sind die einzige Erwachsene, die er kennt. Er braucht Sie hier bei sich.“
„Er kann für ein paar Tage bei Father Matthew bleiben“, sagte sie. „Zumindest, bis wir herausgefunden haben, was hier überhaupt gespielt wird.“
„Jess, das könnte länger dauern als nur ein paar Tage. Mein Bruder ist für ihn ein Fremder.“
„Madrid, versuchen Sie nicht, mich über das Kind zu manipulieren. Ich muss dieser Sache auf den Grund gehen. Verdammt, mein Leben hängt davon ab! Für mich steht viel zu viel auf dem Spiel, um die Sache allein Ihnen zu überlassen.“
„Ich bin ein ausgebildeter Profi.“
„Warum haben Sie dann nicht Ihre Vorgesetzten angerufen und um Verstärkung gebeten?“, gab sie zurück.
Sein Kiefer verspannte sich, und ein Gefühl, das Jess nicht ganz deuten konnte, blitzte in seinen Augen auf. Überraschung? Bedauern? Es war vorbei, bevor sie es benennen konnte.
„Ich kontaktiere meine Vorgesetzten, sobald ich ihnen etwas Handfestes zu berichten habe.“
„Ich werde mich nicht hier in dieser Kirche verstecken und Däumchen drehen, während ich als flüchtige Mörderin gesucht werde. Falls Sie diese Verbindung noch nicht hergestellt haben: Ich bin die Hauptverdächtige im Mord an Angela. Offensichtlich glaubt die Polizei, ich sei bewaffnet und gefährlich, denn sie schießen erst und stellen später Fragen.“
„Vielleicht wollten die Sie auch nur aus dem Weg räumen.“
Das machte sie sprachlos, aber nicht für lange. „Umso mehr Grund für mich, weiterzumachen und herauszufinden, worum es hier überhaupt geht.“
„Das können Sie aber nicht, wenn Sie tot sind!“, rief er.
„Ich habe nicht vor, mich umbringen zu lassen.“
„Als wenn das irgendjemand vorhätte.“ Ein Seufzer löste sich von seinen zusammengepressten Lippen. „Verdammt!“
„Madrid, bitte, schließen Sie mich nicht aus. Ich werde beschuldigt, meine beste Freundin ermordet und ihren Sohn entführt zu haben. Da draußen sind Menschen, die mich töten wollen, und ich weiß nicht, warum. Wenn ich meinen Namen nicht reinwaschen kann, werde ich den Rest meines Lebens auf der Flucht sein.“
Fluchend stand er auf und ging zur Spüle, um aus dem Fenster zu starren. Es hatte aufgehört, zu regnen, aber der Tag blieb trotzdem trüb und feucht.
„Wir brauchen einen Plan“, sagte sie nach einer Weile.
„Ich habe einen Plan.“ Er drehte sich zu ihr um und schaute sie streng an. „Und in dem kommen Sie nicht vor.“
„Dann ändern Sie ihn, damit ich es doch tue.“
„Verdammt noch mal, Jess, das ist gefährlich!“
Sie schaute ihn an und fragte sich, ob er sie nicht dabeihaben wollte, weil er sich Sorgen um ihre Sicherheit machte oder weil er sie für unfähig hielt. „Noch gefährlicher ist es, nichts zu tun.“ Als er nichts erwiderte, ging sie zu ihm. „Ich bin niemand, der seinen Kopf in den Sand steckt, Madrid. Ich muss das hier tun. Bitte. Wenn ich helfen kann, lassen Sie mich helfen.“
Mit einem unterdrückten Fluch kehrte er zum Tisch zurück und setzte sich. „Ich habe mir alles, was passiert ist, tausend Mal durch den Kopf gehen lassen. Und alles führt immer wieder zum Polizeirevier von Lighthouse Point zurück.“
Sie setzte sich ihm gegenüber. „Das sehe ich genauso.“
„Die verbergen etwas.“
„Und Angela ist dahintergekommen. Sie hat etwas gesehen. Oder Nicolas hat etwas gesehen.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Etwas, das mit dem Foto zu tun hat?“
Madrid fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. „Wenn Sie Polizistin wären und etwas verstecken müssten, wo würden Sie das tun?“
„An dem sichersten Ort, den ich kenne.“ Mit einem Mal richteten sich Jess’ Nackenhaare auf. „Ein Bankschließfach. Ein Safe im Haus.“
Er schüttelte den Kopf. „Auf dem Polizeirevier.“
Ihre Augen weiteten sich, als sie auf einmal verstand. „Sie wollen ins Polizeirevier einbrechen?“
Er schaute sie nur an und sagte nichts.
Jess stieß ein ungläubiges Lachen aus. „Das ist reiner Selbstmord.“
„Haben Sie einen besseren Vorschlag?“
„Es wäre leichter, wenn wir uns einfach eine Pistole an den Kopf halten würden.“
„Ach nein, das ist zu blutig.“ Er lächelte, doch in seinen Augen war kein Anzeichen von Humor zu sehen.
„Mit einem haben Sie allerdings recht“, sagte sie.
Er hob fragend die Augenbrauen.
„Ihr Bruder hat die besseren Gene abbekommen.“
„Zumindest die klügeren.“ Doch dann wurde er wieder ernst. „Jess, ich denke, das Team vom Lighthouse-Point-Revier steckt bis zum Hals in der Sache drin.“
„In welcher Sache?“
Er tippte auf das Foto, das Angela ihr gegeben hatte. „Was auch immer das hier ist.“
Sie schaute das Bild eine Weile an, dann hob sie den Blick und sah Madrid in die Augen. „Was ist mit Angelas Haus?“
„Was soll damit sein?“
„Wenn sie über eine Unregelmäßigkeit auf dem Revier gestolpert ist, würde sie sich doch sicher Notizen gemacht oder irgendetwas aufgeschrieben haben.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Wenn die Cops hierin verwickelt sind, haben sie ihr Haus vermutlich bereits gründlich durchsucht und observieren es vielleicht weiterhin.“
„Sie überlegen, ins Polizeirevier einzubrechen, haben aber Angst vor einer kleinen Observation?“, fragte sie trocken.
„Ich mache mir hauptsächlich Sorgen, erschossen zu werden. Für den Fall, dass Sie es nicht wissen, wenn ein Stück Blei vom Kaliber neun Millimeter den menschlichen Körper mit einer Geschwindigkeit von über dreihundert Kilometern pro Stunde durchschlägt, kann das tödliche Folgen haben.“
Obwohl er das ganz sachlich gesagt hatte, durchlief sie ein Schauer.
„Erst muss ich einen Weg in Angelas Haus finden.“ Er lehnte sich zurück und kippelte auf den Hinterbeinen seines Stuhls.
„Das klingt nicht nach Teamarbeit.“
„Das sollte es auch nicht.“
„Ich habe drei Wochen lang in der Wohnung über Angelas Garage gewohnt, Madrid. Ich kenne mich dort aus.“
„Ich finde das auch allein heraus.“
„Ich kenne einen Weg hinein, der von der Straße aus nicht einsehbar ist.“
„Ich werde diese Unterhaltung nicht mit Ihnen führen.“ Er erhob sich, aber sie streckte eine Hand aus, packte seinen Arm und erhob sich ebenfalls.
Er blinzelte ein paar Mal, dann blitzte etwas Heißes in seinen Augen auf. Mit einem Mal war sie sich bewusst, wie hart sich seine Muskeln unter ihren Fingerspitzen anfühlten. Wie die Energie stromgleich durch seinen Körper in ihren schoss. Sie spürte es bis in die Knochen.
Sie wollte es nicht wahrhaben, aber ihr Herz pochte. Eine Reaktion, die nichts mit der Vorstellung zu tun hatte, in ein Polizeirevier einzubrechen, sondern einzig mit dem Mann, der so nah vor ihr stand, dass sie die Wärme spürte, die von seinem Körper ausging.
Sie ließ ihre Hand fallen. „Ich weiß, wie man reinkommt, ohne gesehen zu werden.“
Er musterte sie aus kühlen dunklen Augen. „Okay. Sie haben mich an der Angel.“
„Ich verrate es Ihnen nur, wenn wir gemeinsam gehen.“
„Verdammt, Jess!“ Seufzend rieb er sich das Kinn. Jess hörte das Kratzen seiner Bartstoppeln. Erst da wurde ihr bewusst, dass er sich nicht rasiert hatte. Dass sein Haar nach Kiefernnadeln roch. Dass seine Muskeln hart wie Stahl waren …
„Es … es gibt eine Kellertür auf der Nordseite des Hauses.“
„Die ist mir bereits aufgefallen.“
„Dann wissen Sie auch, dass es eine Hecke gibt, die vom hinteren Zaun direkt bis zur Tür verläuft. Das Schloss an der Kellertür ist kaputt, sie ist also unverschlossen.“
„Woher wissen Sie das?“
„Weil Angela und ich eines Tages ein wenig im Garten gearbeitet haben und sie darüber klagte, dass sie das Schloss reparieren müsste.“
„Gelangt man durch diesen Keller auch ins Haus?“
Jess nickte. „Auch die innere Kellertür ist unverschlossen.“
Sie spürte, dass sie jetzt seine Aufmerksamkeit hatte, also fuhr sie fort. „Angela hatte sich im Erdgeschoss ein kleines Büro eingerichtet. Darin steht ein Schrank, der immer verschlossen ist.“
„Wissen Sie, was sie darin aufbewahrte?“
„Nein. Ich weiß nur, dass ich eines Abends bei ihr reinschaute, um ihr Gute Nacht zu sagen, und sie … sie tat sehr geheimnisvoll.“
Er wirkte nicht überrascht, und Jess hatte das Gefühl, dass hier mehr vor sich ging, als man ihr erzählte. Was verheimlichte er ihr?
„Ich habe das Gefühl, als würde Sie das alles nicht sonderlich überraschen“, sagte sie.
„Das mit der Kellertür wusste ich nicht.“
Aber er wusste, dass Angela geheime Akten führte, fügte eine misstrauische kleine Stimme hinzu. „Raus damit – was verheimlichen Sie mir?“
„Sehr viel.“
Mit der Antwort hatte sie nicht gerechnet. Sie schaute ihn an, ihr Puls raste, ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. „Was?“
Er zeigte auf den Stuhl. „Setzen Sie sich.“
Jess nahm wieder Platz und fragte sich, welche Überraschung er als Nächstes für sie parat hatte.
„Angela war keine Polizistin“, sagte er.
„Sie hat sich als Polizistin ausgegeben, aber das war nur Teil ihres Auftrags.“
„Wovon reden Sie da? Was für ein Auftrag?“
„Sie hat undercover für dieselbe Organisation gearbeitet, für die ich auch tätig bin. Sie nennt sich MIDNIGHT Agency. Wir sind eine Bundesbehörde und Teil der CIA.“
„Angela war Federal Agent?“ Sie konnte es nicht fassen. „Was hat sie in Lighthouse Point gemacht?“
„Ich weiß es nicht. Wie gesagt, es handelte sich um eine verdeckte Ermittlung. Aber ich glaube, sie war etwas Großem auf der Spur.“
Jess war ganz schwindelig von all den neuen Informationen. „Warum können Sie dann nicht Ihre Agency anrufen und um Hilfe bitten?“
Er senkte den Blick. „Als ich von ihrem Tod erfahren habe, bin ich zu meinem Vorgesetzten gegangen und habe ihn gebeten, auf den Fall angesetzt zu werden. Er hat sich geweigert, weil ich seiner Meinung nach zu persönlich involviert bin.“
Eine weitere Überraschung, die sie traf wie ein Glas Eiswasser über den Kopf. „Und sind Sie das?“ Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie seine Beziehung zu Angela ausgesehen hatte.
„Nein.“ Er verzog das Gesicht. „Aber mein Vorgesetzter wollte das nicht einsehen. Es wurde etwas hitzig, und das Temperament ist mit mir durchgegangen.“
„Sie haben gekündigt?“
„Ich habe den ersten Flug in Richtung Westen genommen, um ihren Mörder zu finden. Egal, was es kostet.“
Seine Worte jagten Jess einen Schauer über den Rücken. Sie starrte ihn an. Das Wissen, dass er noch vor zwei Tagen davon ausgegangen war, sie wäre Angelas Mörderin, schnürte ihr den Magen zusammen.
Er schaute sie an, als wenn er ihre Gedanken lesen würde. „Ich weiß, dass Sie sie nicht getötet haben.“
Die Erleichterung erfasste sie mit solch einer Macht, dass sie einen Moment lang nicht sprechen konnte.
Er fuhr fort. „Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Das hat ein korrupter Police Officer zu seinem Vorteil ausgenutzt.“
„Um einen Mord zu vertuschen?“
Er nickte. „Sie sind nicht mehr als ein Sündenbock.“
„Glauben Sie, irgendjemand hat herausgefunden, dass Angela ein Federal Agent war?“
Madrid schüttelte den Kopf. „Ich denke, jemand hat erkannt, dass sie hinter ihr dreckiges Geheimnis gekommen war.“
„Was für ein Geheimnis?“
„Das gilt es noch herauszufinden.“