3. KAPITEL

„Wie um alles in der Welt haben es eine unbewaffnete Frau und ein kleiner Junge geschafft, vier Männern mit Schusswaffen, zwei Bluthunden und einem mit einer Wärmebildkamera ausgestatteten Helikopter zu entkommen?“ Der Mann in dem italienischen Maßanzug und den glänzenden Budapestern tigerte auf und ab, während er die Worte knurrte.

Der rundliche Mann, der auf der anderen Seite des Schreibtischs stand, verlagerte sein Gewicht unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Es ist ein ziemlich unwegsames Gelände, außerdem war es dunkel, und es hat geregnet.“

„Kommen Sie mir nicht mit Ausreden, verdammt! Ihre Männer sind angeblich Profis. Wie erklären Sie mir diese Katastrophe?“

„Wir mussten uns in sehr kurzer Zeit um ziemlich viele Dinge kümmern.“

„Das ändert nichts an dem Problem, dem wir uns gegenübersehen.“

„Wir glauben, dass Atwood angeschossen wurde. Wir haben Blutspuren gefunden …“

Die Augen des Mannes im Anzug blitzten mit einer wilden Mischung aus Wut und Ungläubigkeit auf. „Ich will nicht, dass sie angeschossen wird! Angeschossene Menschen können immer noch reden. Ich will sie tot. Und ich will das Kind tot! Und zwar am besten gestern. Haben Sie das verstanden?“

„Bei allem Respekt, ein weiterer Tod nach so kurzer Zeit wird Fragen aufwerfen …“

„Atwood hat eine Polizistin aus Lighthouse Point erschossen und deren autistischen Sohn entführt. Sie ist bewaffnet und gefährlich und hat nichts mehr zu verlieren. Glauben Sie mir, ihr Tod durch die Hand eines Officers wird keine Fragen aufwerfen.“

Der Mann auf der anderen Schreibtischseite wirkte nicht überzeugt.

„Wenn Atwood mit den falschen Menschen spricht, könnte sie diese ganze Operation auffliegen lassen. Ich werde nicht den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen, weil Ihre Männer inkompetent sind.“

Sein Gegenüber spürte, wie ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern hinabrann. „Ich habe vier Männer abgestellt, die rund um die Uhr nach ihnen suchen.“

„Dann sollen sie sich mehr anstrengen. Niemand verschwindet einfach spurlos.“

„Sie könnten im Fluss ertrunken sein.“

Der Mann im Anzug wirbelte herum und trat auf seinen Lakaien zu. Schweißperlen glitzerten auf seinem Gesicht. Eine Ader an seiner Schläfe sah aus, als könnte sie jeden Augenblick platzen. „Machen Sie nicht den Fehler, davon auszugehen, dass sie ertrunken ist. Sie ist eine wandelnde Zeitbombe. Wenn sie redet, werden wir alle für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen. Der Geldfluss wird versiegen. Ich werde tun, was immer nötig ist, um beides zu verhindern. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“

Der rundliche Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ja, Sir.“

Der andere drehte sich um und schritt auf die Wand zu. „Nutzen Sie alle Ihre Ressourcen, um die örtlichen Krankenhäuser abzuklappern, ob irgendwo eine Schusswunde gemeldet wurde. Finden Sie heraus, wer ihre Freunde sind. Überprüfen Sie die Familienmitglieder. Suchen Sie sie persönlich auf. Erklären Sie ihnen, dass die Frau eine Flüchtige ist und die volle Macht des Gesetzes jeden treffen wird, der nicht mit uns kooperiert.“

„Wird gemacht.“

Mit zusammengebissenen Zähnen trat der Mann an die topografische Karte, die an der Wand hing. Er betrachtete die rot eingekreiste Gegend. Musterte den Fluss. „An der Flussmündung gibt es einen Hafen.“

„Das stimmt.“

„Haben Sie mit dem Hafenmeister gesprochen?“

„Ich kümmere mich sofort und persönlich darum.“

Der Anzugträger streckte einen Arm aus und legte seine Hand auf die fleischige Schulter des anderen Mannes. Doch der eisige Blick in seinen Augen strafte seine freundliche Geste Lügen. „Wir sind immer gut zu Ihnen gewesen.“

„Ja, das stimmt.“

„Wir haben Sie immer großzügig entlohnt.“

„Ihre Entlohnung hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen.“

„Wenn Sie wollen, dass das so bleibt, finden Sie die Frau und den Jungen und eliminieren Sie sie. Haben wir uns verstanden?“

„Haben wir.“ Schwitzend verließ der Mann den Raum.

Im gelblichen Licht der kleinen Lampe studierte Madrid das Foto. Die schlechte Auflösung und das Licht machten es schwer, Einzelheiten zu erkennen. Entweder war das Bild mit versteckter Kamera aufgenommen worden, oder der Fotograf hatte es eilig gehabt. Was gäbe er jetzt nicht für seinen Computer und die Bildbearbeitungssoftware. Unglücklicherweise stand ihm beides nicht zur Verfügung, also würde er sich mit dem zufriedengeben müssen, was er mit bloßem Auge erkennen konnte.

Auf dem Bild waren siebzehn junge Frauen meist asiatischer Herkunft zu sehen, die in einem kleinen dunklen Raum saßen. Mindestens neun von ihnen waren gefesselt. Zwei hatten sichtbare Prellungen im Gesicht. Wurden sie gegen ihren Willen festgehalten? Wenn ja, von wem? Und wo war das Foto aufgenommen worden?

Im Hintergrund sah er etwas, das eine nackte Matratze sein könnte. Ein zerbeulter Eimer. Es gab keine Fenster, und man sah nur eine Wand, die aussah, als wäre sie aus Wellblech.

Er fragte sich, ob Angela das Bild mit einer winzigen Kamera gemacht hatte, die sie an ihrem Körper versteckt hatte. War das Teil ihrer Mission gewesen? War ihre Tarnung aufgeflogen, und man hatte sie umgebracht, bevor sie der Agency Bericht erstatten konnte?

„Welcher Sache warst du da auf der Spur?“, flüsterte er.

Der Fußboden hinter ihm knackte. In einer fließenden Bewegung nahm Madrid die Pistole vom Tisch und drehte sich um. Er war überrascht, Jess Atwood an der Schlafzimmertür stehen zu sehen.

Ihr Blick flatterte zu der Waffe, die auf ihre Brust zielte, und sie wurde blass. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Stirnrunzelnd legte er die Pistole wieder auf den Tisch. „Es ist nicht sonderlich klug, sich an einen bewaffneten Mann heranzuschleichen.“

Sie hatte ein übergroßes T-Shirt und eine Jogginghose angezogen, die sie in einer der Schubladen gefunden haben musste. Ihre Füße waren nackt. Sie trug keinen BH. Noch etwas, das ihm gar nicht auffallen sollte.

Vor ein paar Stunden hatte er ihr erlaubt, sich zu Nicolas ins Bett zu legen und ein wenig zu schlafen. Er wünschte, sie wäre im Schlafzimmer geblieben. Sie war hübsch, und er wollte sich nicht von seiner Arbeit ablenken lassen.

Er wandte sich wieder dem Foto zu.

„Mein Fieber ist weg“, sagte sie. „Ich fühle mich besser. Klarer im Kopf.“

„Dann scheint das Antibiotikum zu wirken.“

Eine Pause. „Was tun Sie da?“

Madrid antwortete nicht. Er wollte sie nicht mit einbeziehen, denn er war immer noch nicht vollkommen von ihrer Unschuld überzeugt. Andererseits, je mehr er über die Umstände von Angelas Tod nachdachte, desto mehr glaubte er, dass in Lighthouse Point irgendetwas Finsteres vor sich ging. Etwas, das weit über Jessica Atwood hinausreichte.

„Verrät es Ihnen irgendetwas?“

Er drehte sich um und bedachte sie mit einem Blick, der, wie er hoffte, zeigte, wie genervt er war. „Was?“

„Das Foto.“

Er erkannte, dass er sie anstarrte – und dass sie es bemerkte –, und riss seinen Blick von ihr los, um erneut das Bild zu betrachten. „Vielleicht.“

„Bei diesem Licht und der miserablen Bildqualität ist das schwer zu sagen.“ Sie stellte sich neben ihn und schaute ebenfalls das Foto an. „Sie sehen verängstigt aus.“

Das war auch das Erste, was ihm aufgefallen war. Das Grauen in den Augen der Frauen. „Ich wette, sie werden dort gegen ihren Willen festgehalten.“

„An einem Ort ohne Fenster. Ohne Licht.“ Sie beugte sich vor. „Ich sehe auch keine Türen.“

Er ließ zu, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. „Abgesehen von da, wo derjenige gestanden hat, der das Foto gemacht hat. Vielleicht gab es dort eine Tür.“

„Vielleicht handelt es sich um eine Höhle? Einen Lastwagen?“

„Ein Container“, sagte er. „Ein Frachtcontainer.“

Sie schaute ihn an und nickte. „Sie haben recht.“

Madrid runzelte die Stirn. Menschenhandel war ein hässliches Geschäft. Er wusste, dass es in Übersee häufig dazu kam. Aber war es möglich, dass auch in den USA jemand damit zu tun hatte? Er würde Sean Cutter anrufen müssen. Er hoffte nur, dass der Chef von MIDNIGHT ihm alles sagen würde, was er wissen musste. Sie waren nicht gerade als Freunde auseinandergegangen.

„Glauben Sie, Angela ist über etwas gestolpert, was sie nicht hätte sehen dürfen?“, fragte Jess.

„Ich denke, ihre Ermordung ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich glaube, wir haben es hier mit etwas Großem zu tun, in das viele böse Menschen verwickelt sind.“

Sie dachte einen Moment lang darüber nach. „Ich verstehe nur nicht, was das mit Nicolas und mir zu tun hat. Wir wissen gar nichts.“

„Sind Sie sich da sicher?“

Ihr Blick flog zu ihm. Madrid wappnete sich gegen ihre Schönheit. Gegen die Anziehung, die tief in seinem Inneren siedete. Er bemühte sich, auf die Stimme zu hören, die ihm riet, diesen Weg nicht weiterzugehen.

„Was meinen Sie?“, fragte sie.

„Sind Sie sicher, dass Nicolas nichts gesehen hat?“

„Er kann nicht sprechen.“

„Vielleicht sind die nicht gewillt, ihr Leben darauf zu setzen, dass er es nicht eines Tages lernt. Oder auf andere Weise kommuniziert, was er gesehen hat.“

Ihre Augen weiteten sich. „Oh mein Gott! Sie glauben, er hat den Mord mit angesehen?“ Jess drückte eine Hand auf ihren Magen. „Armer kleiner Kerl!“

„Das ist nur eine Möglichkeit.“

„Wie lautet die andere?“

„Vielleicht sind sie gar nicht hinter Nicolas her. Vielleicht glauben sie, Angela hat Ihnen vor ihrem Tod etwas verraten.“

„Was denn?“

„Was sie entdeckt hatte. Namen. Orte. Etwas, das ihnen schaden könnte.“

„Das hat sie nicht.“

„Ihr Mörder weiß das aber nicht.“

Ein Zittern durchlief sie, doch in ihre Augen trat ein entschlossener Ausdruck. Gegen seinen Willen spürte er, wie sein Respekt für sie ein wenig stieg.

„Was für ein Mensch könnte so kaltblütig sein?“, fragte sie.

„Ein Mensch, der skrupellos genug ist, um mit menschlicher Fracht zu handeln.“

„Sie meinen Menschenhändler?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn ich raten müsste, würde ich Ja sagen.“

Gedankenverloren rieb sie sich mit der Hand über ihren Verband. „Wir können sie nicht damit durchkommen lassen.“

„Das habe ich auch nicht vor“, sagte er.

„Was, wenn sie fliehen?“

„Wenn irgendwo in den USA ein Schiff mit menschlicher Fracht im Hafen liegt, haben sie bereits zu viel investiert, um alles hinzuwerfen.“ Er sah sie scharf an. „Sie werden keine unwägbaren Risiken tolerieren.“

Erkenntnis verdunkelte ihre Augen. „Sie meinen Nicolas und mich.“

„Ja, genau das meine ich.“

Sie schüttelte den Kopf und nickte in Richtung der Tür, hinter der der Junge schief. „Er hat bereits so viel durchgemacht. Er ist ein unschuldiges Kind, das gerade seine Mom verloren hat. Er hat das alles nicht verdient.“

Madrid spürte, wie etwas in seiner Brust sich entspannte. Das war Mitgefühl, erkannte er. Für einen kleinen Jungen, der seine Mutter nie kennenlernen würde. Für eine Mutter, die ihr Kind nie aufwachsen sehen würde. „Glauben Sie, er ist in der Lage, uns irgendetwas mitzuteilen?“

„Ich weiß es nicht. Angela und ich haben uns erst kürzlich darüber unterhalten. Sie hat mir erzählt, dass autistische Kinder sehr oft Kommunikationsprobleme haben. Sie neigen dazu, sich in sich selbst zurückzuziehen, in ihre eigene Welt, und Nicolas ist da keine Ausnahme.“

„Kann er zeichnen? Oder – wenn wir ihm Fotos zeigen, würde er den Mörder erkennen?“

„Ich kenne ihn nicht gut genug, um das sagen zu können.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass Angela ihn mehr als alles auf der Welt geliebt hat. Sie hat täglich mit ihm gearbeitet, hat ihn auf eine spezielle Schule geschickt. Sie ist sogar zwei Mal die Woche mit ihm zur Reittherapie gegangen. Sie war eine tolle Mutter.“

„Hat sie Ihnen erzählt, dass Nicolas hochbegabt ist?“, fragte Madrid.

„Ja, das hat sie.“ Sie richtete ihre fragenden Augen auf ihn. „Woher wissen Sie das? Angela hat nicht oft darüber gesprochen.“

Er antwortete nicht. Angela hatte es ihm bei ihrem letzten Gespräch erzählt. Das war beinahe ein Jahr her. Madrid wünschte, er hätte den Kontakt zu ihr besser aufrechterhalten.

„Er spielt Klavier wie ein kleiner Teufel“, sagte sie liebevoll. „Vom Flohwalzer bis zu Chopin.“

„Und er hat Mathekenntnisse auf Highschoolniveau.“

Sie schaute ihn überrascht an. „Woher wissen Sie so viel über Nicolas?“

„Ich habe Angela mal gekannt“, gestand er. „Das ist schon lange her.“

„Sie hat Sie nie erwähnt.“

„Ich bin nicht die Art Mann, über die man gerne redet.“

Sie musterte ihn. „Woher kannten Sie sie?“

Weil er nicht sicher war, was er darauf antworten sollte, lenkte er die Unterhaltung wieder auf das aktuelle Thema zurück. „Wie auch immer, ich denke, Nicolas hat in jener Nacht etwas gesehen.“

„Den Mörder“, murmelte sie.

„Wir müssen einen Weg finden, ihn zu erreichen, ohne ihn weiter zu traumatisieren. Die Frage ist nur, wie?“

Jess zuckte zusammen, als eine Windbö an einem losen Fensterladen rüttelte. Madrid starrte sie an. Selbst schlaftrunken und noch ein wenig fiebrig war sie schön. Ihr Gesicht war so zart und blass wie Porzellan, ihr Mund so rot und weich wie eine exotische Frucht. Er fragte sich, wie sie wohl schmecken würde, wenn er sich jetzt vorbeugte und ihre Lippen mit seinen streifte.

Er riss sich von den Gedanken los, die er gar nicht haben sollte, stand abrupt auf und durchquerte das Wohnzimmer. „Gehen Sie wieder schlafen“, knurrte er.

„Madrid.“

Er hielt inne, drehte sich aber nicht zu ihr um.

„Warum haben Sie mich nicht festgenommen und zurück aufs Festland gebracht?“, fragte sie.

Er dachte an seine Unterhaltung mit Cutter und wusste, dass er die Dinge irgendwann klarstellen musste. „Ich würde gerne zuerst wissen, wer die Guten sind.“

„Die Guten schießen nicht auf eine unbewaffnete Frau und ein unschuldiges Kind.“

Er wollte nicht daran erinnert werden. „Eine unschuldige Frau läuft nicht weg, wenn die Polizei sie auffordert, stehen zu bleiben.“

„Sie hätten mich auf der Stelle erschossen. Ich wollte nicht wie Angela enden.“

Er drehte sich um und bedachte sie mit einem harten Blick. Er suchte nach einer Lüge, fand jedoch keine. „Legen Sie sich schlafen. Ich muss noch ein paar Anrufe tätigen.“

Damit nahm er das Handy von seinem Gürtel, drehte sich um und ging davon.

Nachdem Madrid gehört hatte, dass die Schlafzimmertür ins Schloss gefallen war, wählte er die Nummer aus dem Gedächtnis. Obwohl es in Washington, D. C. bereits ein Uhr morgens war, nahm Jake Vanderpol, sein Kollege von der MIDNIGHT-Zentrale, beim zweiten Klingeln ab.

„Ich dachte mir schon, dass du das bist“, knurrte er.

„Das kommt daher, dass ich der einzige Mensch bin, den du kennst, der in ausreichend Schwierigkeiten steckt, um dich um diese Uhrzeit anzurufen.“

„Cutter hat mir erzählt, was passiert ist.“

„Die Buschtrommeln müssen ganz schön beschäftigt gewesen sein.“

Er seufzte. „Madrid, du hast es wirklich vermasselt.“

„Nicht zum ersten Mal.“

„Aber vielleicht zum letzten. Cutter ist ziemlich sauer.“ „Er sollte eher sauer auf Angelas Mörder sein als auf mich.“

„Du weißt, dass Cutter ihr Gerechtigkeit zukommen lassen wird.“

„Cutter glaubt, das hier wäre ein Fall wie jeder andere. Aber das ist er verdammt noch mal nicht.“

„Er hält dich für eine tickende Zeitbombe.“

„Vielleicht bin ich das ja auch.“

„Deine Einstellung ist nicht hilfreich.“

„Ich mach das hier nicht, um mir Sternchen in der Personalakte zu verdienen.“

„Gut, denn die bekommst du so garantiert nicht.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Du musst mir einen Gefallen tun.“

Jake stöhnte. „Ich wusste, dass das kommt.“

„Ich muss wissen, woran Angela gearbeitet hat.“

Jake fluchte und räusperte sich dann lautstark. „Es tut mir leid, was mit ihr passiert ist, Mann. Sie war ein guter Agent.“

„Ja.“ Madrid schloss die Augen, überrascht von der Stärke der Trauer, die ihn überfiel. Er hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr geliebt, aber trotzdem war immer etwas zwischen ihnen gewesen, das weder Zeit noch Entfernung hatten auslöschen können. „Cutter redet nicht mit mir.“

„Und das sollte ich auch nicht tun, wenn ich meinen Job behalten will.“

„Ich muss wissen, woran sie gearbeitet hat, Jake.“

„Vielleicht solltest du Cutter die Sache so handhaben lassen, wie er meint, dass es richtig ist.“

„Ich muss das hier tun.“ Madrid versuchte, die Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhalten, doch es gelang ihm nicht ganz. „Verdammt, schließ mich nicht aus!“

Jake seufzte resigniert. „Ich werde ein wenig nachforschen und sehen, was ich herausfinde.“

„Ich muss wissen, was Angela in Lighthouse Point, Kalifornien, gemacht hat. Ich muss wissen, ob sie Berichte zurückgeschickt hat.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Finde alles über die örtliche Polizei heraus.“

„Haben sie Dreck am Stecken?“

„Das kann ich noch nicht sagen, aber mir gefällt nicht, wie die Punkte sich hier verbinden.“

„Mir gefällt das auch von Minute zu Minute weniger.“

„Und grab auch alles aus, was du über Jessica Atwood finden kannst. Sie stammt ursprünglich aus Phoenix, ist kürzlich geschieden worden. Sie und Angela sind gemeinsam aufs College gegangen.“

„Gibt es einen besonderen Grund, warum du an Atwood interessiert bist?“

„Sie steckt bis zum Hals in der Sache drin“, sagte Madrid.

„Ich hoffe, das ist es alles wert.“

„Das ist es.“

„Ich rufe dich morgen an.“

„Ich schulde dir was, Vanderpol.“

„Du kannst mich raushauen, wenn Cutter mich abstellt, um Berichte abzuheften und ans Telefon zu gehen.“

Damit legte Jake auf und ließ Madrid allein mit seinen Gedanken und dem auf das Dach trommelnden Regen zurück.

Jess wachte auf, weil ihr Herz wie wild gegen ihre Rippen schlug. Sie war nicht sicher, was sie geweckt hatte. In der Hütte war es ruhig. Die Dämmerung war noch nicht hereingebrochen, hinter dem einzigen Fenster war es noch dunkel. Sie hörte den Wind um die Ecken brausen, das tiefe Donnergrollen in der Ferne, den Regen, der gleichmäßig aufs Dach klopfte.

Erschrocken setzte sie sich auf, als sie auf der anderen Seite des Zimmers eine Bewegung wahrnahm. Einen Moment lang steckte ein Schrei in ihrer Kehle, bis sie erkannte, dass es Nicolas war. Der kleine Junge saß am Fenster und wiegte sich vor und zurück.

„Ma-maa“, sagte er. „Ma-maa.“

Das Mitgefühl brach mit so einer Wucht über sie herein, dass Jess einen Moment lang die Tränen zurückblinzeln musste. Er sah so klein und einsam aus. Er hatte so viel verloren.

Sie musste ihn halten, ihm versichern, dass alles gut werden würde. Also stieg sie aus dem Bett, kniete neben ihm nieder und legte einen Arm um seine Schultern. „Hey, Süßer. Geht es dir gut?“

„Ma-maa. Ma-maa.“

Sie schob ihm die Haare aus dem Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Was tust du denn so früh am Morgen schon hier?“

Jess wusste nicht viel über Kinder. Und noch viel weniger über Kinder wie Nicolas. Er schien aufgeregt zu sein, aber sie wusste nicht, warum. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn beruhigen konnte. „Alles wird wieder gut, Kleiner.“

„Maaa-maaa.“

Sie versuchte, ihn sanft zurück ins Bett zu führen, in der Hoffnung, dass er noch einmal einschlafen würde, doch er widersetzte sich. Es war, als wollte er das Fenster nicht verlassen. „Ma-maa. Ma-maa.“

„Ist schon okay, Süßer.“

„Ma-maa!“

„Liebling, was ist denn?“

Die Schlafzimmertür flog auf. Ein Schrei entfuhr Jess, als sie herumwirbelte. Mike Madrid stand im Türrahmen, eine große, bedrohliche Gestalt mit einer Pistole.

Sein Blick glitt von Nicolas zurück zu ihr. „Ziehen Sie sich an.“ Sein Ton riss sie aus ihrer momentanen Lähmung. „Was ist los?“, fragte sie leise.

„Wir haben Besuch.“

Einen Augenblick lang war sie zu schockiert, um etwas sagen zu können. Dann setzte die Angst ein. „Wer? Woher wussten sie …?“

„Ich weiß es nicht.“ Er ging zum Fenster und schob die Gardinen einen Spalt weit auseinander. „Sind Sie schon wieder kräftig genug, um zu laufen?“

„Ich denke schon.“ Sie schaute zu Nicolas. „Was ihn angeht, bin ich mir nicht so sicher. Er scheint … aufgewühlt zu sein.“

„Ich nehme ihn.“ Madrid drehte sich zu ihr um und zog den Schlitten der Pistole zurück. „Ich sagte, ziehen Sie sich an. Jetzt.“ Er wandte sich wieder zum Fenster.

Jess packte ihr Klamotten, die auf einem Stuhl neben dem Bett lagen. Sie stieg in ihre Jeans und zog sich das Sweatshirt über den Kopf. Dann schaute sie sich hektisch nach ihren Schuhen um, fand sie neben der Tür und schlüpfte hinein.

„Wo werden wir …?“

Das Fenster zersplitterte. Glas regnete auf Madrid hinab und landete auf dem Boden. Regen und Wind zerrten wie wild an den Vorhängen. Er taumelte zurück, nahm dann eine Schusshaltung ein und feuerte sechs Mal hintereinander.

„Verlassen Sie das Haus mit Nicolas durch die Vordertür“, sagte er. „Laufen Sie runter zum Strand.“

Jess sprintete quer durch den Raum und packte die Hand des Jungen. Er wiegte sich immer noch vor und zurück und wimmerte dabei wie ein verletztes Tier. Durch das zerborstene Fenster hörte sie Rufe. Ein Blick auf Madrid, und eine neue Welle der Panik packte sie. Wie in Zeitlupe sah sie, dass er die Pistole hob und erneut feuerte. Draußen wurde das Feuer erwidert.

Er wirbelte mit grimmigem Gesicht herum. „Laufen Sie, verdammt noch mal! Sofort!“

Sie verstärkte den Griff um Nicolas’ Hand, rannte zur Haustür und riss sie auf. Regen und Kälte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht, aber sie bemerkte es kaum. Alles, was sie im Moment interessierte, war, den kleinen Jungen in Sicherheit zu bringen.

„Komm, Süßer“, sagte sie, während sie über die Veranda lief und dann die steile Holztreppe hinunter, die zu dem wild an die Küste schlagenden Ozean unter ihnen führte.

Der Schmerz in ihrem Arm kehrte zurück, das Pochen war im perfekten Gleichklang mit dem Schlag ihres Herzens. Doch davon ließ Jess sich nicht zurückhalten.

Unten am lang gezogenen Strandstreifen war der Lärm der Brandung ohrenbetäubend, und die salzige Gischt durchfeuchtete ihre Kleidung. Am Horizont war das erste zarte Grau der Morgendämmerung zu sehen. Sie schaute sich um, wusste aber nicht, wohin sie laufen sollte.

Nicolas zog an ihrem Arm nach links. Einen Moment lang zögerte sie, dann folgte sie ihm. Der Sand zog an ihren Schuhen, als sie über den Strand liefen. Das Meer tobte zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken ragten zerklüftete Felsen aus dem Sand und boten die perfekte Deckung für einen Angriff.

Sie war auf halbem Weg zu der Holztreppe, die zum Haus eines Nachbarn führte, als ein Mann hinter einem Felsen hervor auf sie zusprang. Jess schrie laut auf und wirbelte in die entgegengesetzte Richtung herum. Die Kugel, die nur wenige Zentimeter neben ihr in den Sand einschlug, ließ sie abrupt innehalten.

„Stehen bleiben, oder ich schwöre, ich bringe euch beide auf der Stelle um“, sagte eine gutturale Stimme.

Blind vor Panik hob Jess ihre Hände auf Schulterhöhe und drehte sich langsam zu dem Mann um. „Was wollen Sie?“, keuchte sie.

„Ich will dich tot sehen.“ Sein Mund verzog sich zu einem hässlichen Grinsen, als er seine Pistole auf Nicolas richtete. „Euch beide.“

„Tun Sie ihm nicht weh“, rief sie. „Er ist nur ein unschuldiger kleiner Junge.“

Der Mann sah ungefähr so mitfühlend aus wie eine Schlange, die eine Maus verspeiste. Die Waffe immer noch auf Nicolas gerichtet, holte er sein Handy heraus. „Ich hab sie. Am Strand gleich südlich vom Haus.“ Er machte eine Pause, hörte zu. „Wollen Sie mit ihr reden, oder soll ich sie gleich hier unten erledigen? Okay …“ Damit legte er auf.

Erledigen …

Er wird uns töten, dachte Jess, und ihr Herz fing wie wild an zu schlagen.

Die zu Schlitzen verengten Augen des Mannes suchten ihren Blick, während er mit der Pistole auf ihre Brust zielte. „Das ist heute nicht dein Glückstag“, sagte er.