5. KAPITEL

Madrid hatte seinen Bruder nicht in die Sache hineinziehen wollen, doch er brauchte einen sicheren Hafen für Nicolas, während er und Jess nach Lighthouse Point zurückkehrten. Father Matthew war nicht glücklich über das Arrangement, aber er war ein zu guter Mensch, um Madrid die Hilfe zu verweigern, und er würde niemals ein Kind von der Schwelle seiner Kirche zurückweisen.

„Wie lange werdet ihr weg sein?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht.“

Father Matthew schaute kurz zu Jess. „Was ist mit ihr?“ Madrid riskierte ebenfalls einen Blick. Jess saß auf dem Boden, den Arm um Nicolas’ schmale Schultern gelegt, und hielt ein kleines violettes Nilpferd in der Hand. Nicolas hatte sich in seine eigene Welt zurückgezogen, aber das hielt Jess nicht davon ab, mit ihm zu sprechen, zu versuchen, zu ihm durchzudringen.

„Sie begleitet mich.“

Father Matthew schaute seinen Bruder ungläubig an. „Ich muss dir nicht sagen, dass das eine schlechte Idee ist, oder?“

„Nein.“

„Du hast nicht gerade die beste Erfolgsbilanz, was das Thema ‚Frauen‘ und richtige Entscheidungen treffen angeht.“

Da Madrid das nicht abstreiten konnte, sagte er nichts.

Als hätte er erkannt, dass er zu weit gegangen war, seufzte Father Matthew. „Wie kann ich euch helfen?“

„Ich brauche ein Auto.“

„Ich habe eins. Es ist nicht toll, aber es läuft.“

„Das reicht.“

„Noch was?“

Madrid legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte. „Du könntest für uns beten.“

Madrid wartete bis Mitternacht, bevor er die Stadtgrenze von Lighthouse Point überquerte. Bei dem Auto seines Bruders handelte es sich um einen unauffälligen Kleinwagen, aber Madrid hielt sich trotzdem auf den Nebenstraßen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass irgendeinem Cop das Auto auffiel, hatte er die Kennzeichen gegen welche ausgetauscht, die er an einem Wrack an einer Tankstelle gefunden hatte. Er wollte auf alle Fälle verhindern, dass einer der Mörder entdeckte, dass sein Bruder etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte.

Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Jess ganz still und ließ die von Regen durchtränkte Landschaft an sich vorüberziehen. Seitdem sie die Kirche vor einer Stunde verlassen hatten, hatte sie kein Wort gesagt. Er spürte, dass sie Nicolas nur ungern zurückließ. Sie wollte es nicht zugeben, aber der Art nach zu urteilen, wie ihre Hände verknotet in ihrem Schoß lagen, war sie nervös. Hatte vielleicht sogar Angst. Und er konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen; ihm ging es genauso.

Er wünschte, er hätte sie nicht mitgenommen. Er genoss ihre Gesellschaft, und ehrlich gesagt wäre sie vermutlich sogar hilfreich, sobald sie das Polizeirevier erreicht hatten. Doch seine größte Angst war, dass es gefährlich werden könnte. Es lag in seiner Verantwortung, das zu verhindern.

Er löste den Blick kurz von der Straße. „Alles in Ordnung?“ Beim Klang seiner Stimme zuckte sie zusammen, versuchte aber, es mit einem schnellen Lächeln zu vertuschen. „Ich habe nur gerade an Nicolas gedacht.“

„Ihm geht es gut“, sagte Madrid. „Mein Bruder hat eine natürliche Begabung im Umgang mit Kindern.“

„Es ist nur … er hat so viel durchgemacht.“

„Matt wird sich gut um ihn kümmern, Jess.“

Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Ich schätze, ich sollte lieber darüber nachdenken, wie wir das hier durchziehen können.“

„Ich dachte, wir sehen zuerst in Angelas Haus nach, gucken, was wir dort noch finden. Wir können am Ende der Allee parken und dann in einem weiten Bogen hinter der Hecke herumgehen.“

Sie nickte und war jetzt wieder ganz bei der Sache.

Als sie sich Angelas Haus näherten, umkreiste er den Straßenzug drei Mal, um nach verdeckten Polizeiwagen Ausschau zu halten, konnte aber keinen sehen.

„Es sieht nicht so aus, als ob sie Wachen aufgestellt hätten“, sagte Jess.

„Was nicht heißt, dass nicht irgendein mit einer 45er bewaffneter Kerl auftaucht, sobald wir das Haus betreten.“

„Wir müssen einfach gut achtgeben und aufpassen.“

„Wenn das nur reicht!“ Madrid schaltete die Scheinwerfer aus, bog in die Allee am Ende der Straße von Angelas Haus ein und stellte den Wagen außer Sicht hinter einer kleinen Garage ab. „Den Rest des Weges legen wir zu Fuß zurück.“

Jess griff nach dem Türöffner.

„Warten Sie.“ Bevor Madrid sich dessen bewusst war, hatte er schon die Hand ausgestreckt und ihren Arm gepackt.

Sie drehte sich zu ihm um. Selbst im Halbdunkeln des Wagens berührte ihn ihre Schönheit auf eine Weise, wie es seit Jahren keine Frau mehr getan hatte. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf zusammengebunden, und ihr Gesicht war nur ein blasses Oval. Ihre Augen suchten seinen Blick. Er sah die Feuchtigkeit auf ihren Lippen.

„Ich muss die Innenbeleuchtung ausschalten“, sagte er plötzlich eigenartig ungelenk.

„Oh.“

Doch einige angespannte Sekunden lang rührte sich keiner von ihnen. Seine Hand lag immer noch auf ihrem Arm. Durch den Stoff fühlte er sie zittern. Sie hat Angst, dachte er und wurde kurz von Schuldgefühlen übermannt, weil er sie in diese Situation gebracht hatte.

„Sie zittern“, flüstert er.

„Nun ja, schließlich mache ich so etwas hier ja auch nicht jeden Tag.“

„Was vermutlich ganz gut ist.“

Es war ein seltsamer Moment, aber sie lächelten einander an. Madrid verspürte ein Kribbeln in der Magengegend, als sie sich mit der Zunge die Lippen befeuchtete. Er wusste, er stand kurz davor, einen Fehler zu begehen. Doch mit dem Adrenalin, das durch seine Adern schoss, und der Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, konnte er die Hitze in seinem Blut nicht länger leugnen – und wollte es auch gar nicht.

Er verstärkte seinen Griff um ihren Arm und beugte sich vor, bis seine Lippen ihre berührten. Sie waren so unglaublich weich und warm und feucht. Madrid hatte in seinem Leben schon viele Frauen geküsst, aber kein Kuss hatte jemals eine solche Wirkung auf ihn gehabt wie dieser. Er spürte, wie das Verlangen an ihm zerrte, die Lust sich heiß in seinen Lenden sammelte. Der Drang, seine Arme um sie zu legen und sie an sich zu ziehen, wurde immer stärker. Doch er wusste, wenn er nicht aufpasste, würde er in diesen Gefühlen versinken und den Blick dafür verlieren, was wichtig war.

Ihre Augen waren groß und schauten überrascht, als er sich wieder zurückzog. Ihr Atem hatte sich beschleunigt, und ihre Nasenflügel bebten mit jedem Atemzug. „Warum haben Sie das getan?“, fragte sie.

„Einfach so.“ Er hob die Hand, öffnete den Deckel der Innenbeleuchtung und entfernte die kleine Glühbirne. „Bereit?“

„Äh … ja.“

Er öffnete die Tür. „Steigen Sie auf dieser Seite mit aus.“

Dann standen sie neben dem Auto. Der Nieselregen machte die Nacht kalt und feucht, und um die Straßenlaternen bildeten sich helle Lichthöfe.

„Folgen Sie mir, aber vorsichtig.“ Er nahm sie an der Hand und lief in geduckter Haltung auf das Tor zu, das in Angelas Garten führte.

Jess’ Herz klopfte heftig, als sie zusah, wie Madrid an dem Schloss hantierte. Das Tor öffnete sich quietschend, und einen Moment später liefen sie an der Hecke entlang zur Rückseite des Hauses. An der Kellertür blieb er stehen, und einige Herzschläge lang lauschten sie.

„So weit, so gut“, flüsterte er und griff nach der Klinke der Kellertür.

Die Angeln knarrten, als er die Tür öffnete. Eine enge Treppe führte in totale Dunkelheit hinab. Jess überlief ein Schauer, als sie daran dachte, die Stufen hinunterzugehen. Vorhin in der Kirche hatte es noch wie eine gute Idee geklungen. Der beste Weg, um Angelas Mörder zu finden und der Gerechtigkeit zuzuführen. Jetzt, wo sie in die kalte Finsternis des Kellers hinabstarrte, war sie sich nicht mehr so sicher.

Sie zuckte zusammen, als Madrid ihre Hand berührte. „Ich gehe zuerst“, sagte er.

„Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.“

Die Stufen knackten wie alte Knochen, als er in den tintenschwarzen Abgrund hinabstieg. Sie schloss kurz die Augen, nahm einen stärkenden Atemzug und folgte ihm. Der muffige Geruch nach feuchtem Erdreich füllte ihre Nase. Sie hörte ihre Schritte auf dem alten Holz und spürte das Rauschen des Adrenalins in ihren Adern.

Erneut zuckte sie zusammen, als Madrid die Kellertür über ihnen schloss und sie in totale Dunkelheit hüllte. „Ich sehe die Hand vor Augen nicht“, flüsterte sie.

„Das war der Plan.“

Erleichterung überkam sie, als der kleine Strahl einer Taschenlampe die Finsternis durchschnitt. „Sie haben doch keine Angst im Dunkeln, oder?“, fragte er.

„Nur wenn ich erwarte, dass mir jeden Moment jemand mit einer gezückten Waffe in den Weg springt.“

Er nahm ihre Hand, und gemeinsam überquerten sie den feuchten Boden in Richtung der Treppe, die sie in den Hauswirtschaftsraum neben der Küche führen würde. „Beeilen wir uns lieber.“

Oben an der Treppe ließ er ihre Hand los und zog eine bedrohlich aussehende Pistole aus dem Hosenbund, bevor er den Hauswirtschaftsraum betrat. Das gedämpfte Licht, das durchs dahinter liegende Küchenfenster fiel, reichte aus, um wieder etwas sehen zu können. Da sie sich jetzt wieder auf vertrautem Terrain befand, machte Jess sich auf den Weg zur Tür, doch Madrid hakte einen Finger in den Kragen ihres Shirts und zog sie zurück.

„Erst sollten wir sicherstellen, dass wir keine Gesellschaft haben, bevor wir uns umsehen.“

„Das wollte ich auch gerade vorschlagen.“

„Ja klar.“ Mit der Waffe in der Hand ging er in die Küche.

Jess folgte ihm. Die vertraute Heimeligkeit berührte sie, als sie sich durchs Haus bewegten und jeden Raum untersuchten. Sie dachte an Angela, rief sich in Erinnerung, warum sie hier waren, und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, stärkte sie. Innerhalb weniger Minuten waren sie sicher, allein im Haus zu sein.

„Sie hatten ein Büro erwähnt“, sagte Madrid. „Das ist vermutlich ein guter Ausgangspunkt für unsere Suche.“

Jess führte ihn in das Büro, das Angela sich in einem der Zimmer eingerichtet hatte. Ein Aktenschrank mit zwei Schubladen stand in einer Ecke, und vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, von dem aus man zur Tür schaute.

„Sie nehmen den Schreibtisch“, ordnete Madrid an. „Ich sehe mir den Schrank an.“

Jess trat an den Tisch und setzte sich auf den Bürostuhl. „Wonach suchen wir?“

„Nach allem, was auch nur im Entferntesten interessant oder verdächtig ist“, erwiderte er. „Notizen, Dokumente, Fotos. Irgendetwas, das verschlüsselt aussieht.“

Jess versuchte, die erste Schublade aufzuziehen, doch sie war verschlossen. Madrid schien es bemerkt zu haben, denn bevor sie noch etwas sagen konnte, schob er sie beiseite. In weniger als einer Minute hatte er das Schloss geknackt.

„Sie sind gut darin“, sagte sie beeindruckt.

Sein dunkler Blick hielt ihren fest. „Ich bin in vielen Dingen gut.“

Ganz sicher im Küssen. Der Gedanke kam aus dem Nirgendwo, und sie verdrängte ihn ganz schnell wieder, konnte jedoch trotzdem nicht verhindern, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg.

„Ja, gut darin, sich in Schwierigkeiten zu bringen“, sagte sie.

„Das auch.“ Er kehrte zum Aktenschrank zurück und fing an, auch dieses Schloss zu knacken.

Jess’ Puls raste, als sie in die offene Schublade schaute. Dieses Mal hatte es allerdings nichts mit der Angst vor Entdeckung zu tun, sondern einzig mit dem dunkeläugigen Mann, der sie geküsst hatte, wie sie noch nie zuvor geküsst worden war.

Sie schüttelte innerlich den Kopf, um ihre Konzentration zurückzugewinnen, und zog die erste Aktenmappe heraus. Kreditkartenabrechnungen, Rechnungen für Strom und Wasser, Kontoauszüge. Sie schloss die Mappe, legte sie zurück in die Schublade und nahm sich die nächste vor. Vage war sie sich bewusst, dass Madrid das Gleiche mit den Ordnern im Aktenschrank tat und dass der Regen auf das Haus und gegen die Fenster an der Westseite des Hauses prasselte.

Sie fand eine Mappe mit der Aufschrift „Nicolas“ und öffnete sie. Trauer erfasste sie, als sie die Berichte über seine Fortschritte sah, die Briefe von Lehrern und Psychologen. Ganz am Ende der Mappe fand sie mehrere krakelige Bilder, die der kleine Junge mit Wachskreide gemalt hatte. Eines zeigte eine Mutter und ein Kind, die Hand in Hand durch einen Wald liefen. Jess hatte einen Kloß im Hals.

Oh Angela …!

„Und, schon irgendetwas gefunden?“

Der Klang von Madrids Stimme erschreckte sie. Sie schaute auf und fand ihn hinter sich stehen und die Zeichnung betrachten. „Nur das hier“, sagte sie.

Er verzog das Gesicht und wandte den Blick ab. „Das ist eine gute Erinnerung daran, warum wir hier sind.“

„Das fand ich auch.“ Sie legte die Bilder zurück in die Schublade und machte sich an die nächste Mappe. „Bis auf eine Schublade bin ich mit allen durch.“

Er deutete auf den Aktenschrank. „Ich habe nichts gefunden, aber wir haben ja noch den Rest des Hauses.“ Er ging in Richtung Tür, zögerte dann aber und drehte sich noch einmal zu Jess um. „Kommen Sie hier klar?“

„Solange Sie in der Nähe bleiben, um mich im Notfall schreien zu hören.“

Ohne seinen Blick von ihr zu wenden, ging er zu ihr und reichte ihr die Taschenlampe. „Halten Sie den Kegel nach unten, für den Fall, dass jemand am Haus vorbeifährt.“

„Danke.“ Sie nahm die Taschenlampe.

„Ich werde mich mal weiter umsehen. Wir treffen uns hier in fünf Minuten wieder.“

„Seien Sie vorsichtig“, sagte sie.

Er schenkte ihr ein unbekümmertes Lächeln, und dann war er fort.

Jess dachte erneut an den Kuss, als sie die letzte Schublade öffnete. Sie wusste, die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, waren gefährlich. Der Funke, der zwischen ihnen entstanden war, würde nirgendwohin führen.

„Außer fort“, murmelte sie und zog eine weitere Mappe heraus.

Nachdem sie die Taschenlampe auf den Schreibtisch gelegt hatte, fing sie an, die Dokumente durchzublättern. Unterlagen für die Autoversicherung, die Garantie der Waschmaschine. Eine Reparaturrechnung für den Ofen. Sie wollte die Mappe gerade in die Schublade zurücklegen, als sie auf eine zweite Mappe stieß, die in der ersten lag. Sie öffnete sie und fand ein kleines ledergebundenes Notizbuch. Darin waren handschriftlich Ereignisse, Daten und Namen notiert.

Donnerstag, 20. Januar. Fink verließ das Haus ein paar Minuten vor Mitternacht. Habe versucht, ihm zu folgen – habe ihn verloren. Hat er das Auto erkannt? Nicht sicher, was er vorhat. Verdächtig. Werde Hintergrundcheck durchführen.

Dienstag, 25. Januar. Bin Fink gefolgt. Wurde von Officer Styles angehalten. Sie wissen, dass ich was weiß. Werde morgen mit Cutter sprechen.

Sonntag, 30. Januar. Arbeite Doppelschicht. Habe das Haus beobachtet. Fink geht um Mitternacht. Schiffswerft am Luna Bay. Tor ist verschlossen. Schmuggeln sie Drogen? Waffen? Habe versucht, Mummert auszuhorchen. Er ist bereit, in Rente zu gehen, und hat keine Ahnung.

Mittwoch, 2. Februar. Bin auf Werftgelände gewesen. Habe Bilder gemacht. Junge Frauen. Entsetzliche Bedingungen. Sie wissen, dass ich es weiß. Brauche Beweise. Muss Cutter anrufen und zusehen, hier wegzukommen.

Jess wusste sofort, dass sie etwas Wichtiges entdeckt hatte. Die Notizen wiesen darauf hin, dass die Polizei von Lighthouse Point in etwas Illegales verwickelt war. Hatte Angela ihre Kollegen bespitzelt? Hatten sie es herausgefunden?

Mit neuem Enthusiasmus blätterte Jess die Mappe erneut durch. Sie fand noch weitere Notizen. Fotos. Die Kopie eines Zeitungsartikels. Sie war so in ihre Arbeit versunken, dass sie die Scheinwerfer, die kurz durchs Fenster leuchteten, erst bemerkte, als es zu spät war.