PROLOG

Jessica Atwood lief orientierungslos durch die Dunkelheit, während die eisigen Regentropfen ihr ins Gesicht schlugen. Äste und Büsche zerrten an ihrer Kleidung, Matsch zog wie Treibsand an ihren Schuhen. Sie stürzte durch Zweige und kämpfte sich durch Gestrüpp. Ihr angestrengter Atem drang keuchend durch ihre zusammengebissenen Zähne. Ihre Lunge brannte, als stünde sie in Flammen, doch davon ließ sie sich nicht aufhalten.

Eher würde sie sterben, als zuzulassen, dass sie dem Jungen wehtaten.

Sie packte seine Hand fester und rannte noch ein bisschen schneller. Hinter sich hörte sie ihre Rufe. Das Licht ihrer Taschenlampen schnitt wie Rasierklingen durch die Dunkelheit. In der Ferne bellten Hunde. Sie kamen näher. Der Tod klopfte an ihre Tür.

„Komm, Liebling“, keuchte sie. „Lauf für mich. Lauf!“

Als Nicolas nicht reagierte, drückte sie seine Hand. Sie war sich vage bewusst, dass er weinte. Sie wollte ihn an sich drücken, ihm sagen, dass alles gut werden würde. Doch dazu war keine Zeit. Sie rannten um ihr Leben.

Die Panik war wie ein wildes Tier, das in ihrem Inneren freigelassen worden war. Sie wusste, wenn ihre Verfolger sie einholten, würden diese nicht zögern, sie beide umzubringen. Das durfte sie nicht zulassen. Sie durften kein unschuldiges Kind töten. Irgendwie musste sie ihn in Sicherheit bringen.

Oder bei dem Versuch sterben.

Der Knall des ersten Schusses explodierte wie eine Bombe. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, als nur wenige Zentimeter vor ihr ein Ast zerbarst. Sie schob Nicolas vor sich, um ihn aus der Schusslinie zu halten, wandte sich nach links und rannte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen Abhang hinunter.

„Lauf!“, keuchte sie. „Bitte, Baby. Schneller!“

In vollem Lauf erreichten sie den Fuß des Abhangs. Sie schaute zurück und erblickte die Silhouette eines ihrer Verfolger, die sich gegen den nächtlichen Himmel abhob. Die Angst verwandelte sich in etwas Wildes und Sperriges, als sie sah, dass er sein Gewehr zum Schuss ansetzte.

Oh Gott, nein! dachte sie und legte noch einmal an Geschwindigkeit zu. Den Bruchteil einer Sekunde später wurde sie am linken Arm von etwas getroffen, das sich wie ein mit Lichtgeschwindigkeit fliegendes Geschoss anfühlte. Die Wucht des Treffers wirbelte sie herum, und der Schmerz zwang sie auf die Knie. Einen Atemzug später zerriss der nächste Schuss die Stille.

„Mama. Mama!“

Sie schaute zu Nicolas, sah die Tränen, die sich ihren Weg durch den Schmutz auf seinen Wangen bahnten. Er brauchte sie. Für ihn musste sie stark sein, musste ihn hier wegschaffen. Das hätte Angela so für ihren Sohn gewollt.

„Mir geht es gut, Liebling“, sagte sie.

„Mama!“ Er streckte die Hände nach ihr aus und verzog das Gesicht. „Ma-maaa!“

„Alles wird gut.“ Sie drückte ihren verletzten Arm an sich und richtete sich unsicher auf. Der Schmerz umklammerte sie wie eine riesige knochige Hand. Ihr wurde schwindelig, doch sie schüttelte das Gefühl ab und packte Nicolas’ Hand.

„Komm“, flüsterte sie.

Geräusche wie von einem verletzten Tier drangen aus ihrer Kehle, als sie über Felsen und Baumwurzeln und unebenen Boden stolperte. Zwei Mal verlor sie das Gleichgewicht, schaffte es aber irgendwie, nicht hinzufallen. In halsbrecherischer Geschwindigkeit kletterten sie einen weiteren Abhang hinunter. Auf halbem Weg blieb Jess mit dem Fuß irgendwo hängen und fiel hin, wobei sie laut aufschrie, als Nicolas’ Hand ihrer entrissen wurde. Sich wild überschlagend rollte sie den Hügel hinunter, Felsen und Wurzeln marterten ihren Körper, doch sie konnte nur an Nicolas denken, daran, dass er allein und in Gefahr war.

Dann verschwand der Boden unter ihr, und sie wurde über eine Klippe katapultiert. Jess wusste, der Aufprall würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach töten. Stattdessen tauchte sie in Wasser ein. Die plötzliche Kälte versetzte ihrem Körper einen Schock, und sie ging unter. Inmitten von Treibgut wirbelte sie in der starken Strömung flussabwärts. Bei dem Versuch, einen Schrei zu unterdrücken, schluckte sie einen Mundvoll Wasser und fing an zu würgen. Panik erfasste sie. Sie kämpfte dagegen an, indem sie fest und hart mit den Beinen schlug und kurz danach die Wasseroberfläche durchbrach.

„Nicolas!“, rief sie.

Sie kämpfte gegen die starke Strömung an, doch die Kraft des Wassers trieb sie unbarmherzig an dem zerklüfteten Flussufer mit seinen Felsen und Baumwurzeln entlang. Sie versuchte, sich umzuschauen, aber außer Dunkelheit, Regen und schwarzem, wirbelndem Wasser sah sie nichts.

„Nicolas!“

Doch als sie ihren Arm nach ihm ausstreckte, fühlte sie nur die kalte Umarmung des Flusses. Und alles, was sie hörte, war das Flüstern des Todes in ihrem Ohr.