5. KAPITEL
Mattie hatte sich nie vor der Dunkelheit gefürchtet. Selbst als Kind hatte sie kein Nachtlicht oder eine halb offen stehende Tür benötigt, um schlafen zu können. Aber die totale Finsternis der Höhle war etwas, das sie noch nie erlebt hatte.
Sie wusste nicht, wie lange sie gingen. Es kam ihr wie Stunden vor, aber die Dunkelheit hatte so ihre Art, einem jeglichen Sinn für Zeit und Ort zu verwirren. Wäre da nicht die Wärme von Cutters Hand, sie wäre nicht sicher, ob sie weitergehen könnte.
„Stopp.“ Seine Stimme durchbrach die tiefe Stille.
„Was ist?“ Sie blinzelte, sah aber nichts.
Ein Streichholz flackerte auf. Erleichterung packte sie, als sie das winzige Licht sah. Dann fiel ihr auf, dass die Flamme wild flackerte.
„Der Ausgang ist ganz nah“, sagte Cutter.
„Ich sehe aber kein Licht.“
„Vielleicht ist der Ausgang verborgen. Es kann sogar sein, dass wir uns hier herausgraben müssen.“
„Ich sage Ihnen das nicht gerne, aber meine Schaufel ist in meiner anderen Tasche.“
Er bedachte sie mit einem finsteren Blick. „Haha.“
„Wie wollen wir die Öffnung finden?“
„Wir folgen dem Luftzug.“
Das Streichholz brannte herunter. Sofort entzündete er ein neues. „Ich werde Ihre Hand jetzt loslassen und möchte, dass Sie genau hier stehen bleiben.“
Mattie nickte. Es kam ihr bereits so vor, als wäre ihre Hand ohne seine schon eiskalt. Sie stand da, während er weiterging. Mit der einen Hand hielt er das Streichholz, mit der anderen strich er über die Wand.
Auch dieses Streichholz brannte ab und hüllte sie wieder in völlige Dunkelheit. Dieses Mal machte er kein weiteres an. Einige Minuten vergingen. Mattie hörte ihn herumlaufen. Das tröstete sie ein wenig, aber die Kälte und Dunkelheit gingen ihr langsam an die Nieren. Sie glaubte, ein Tier quieken zu hören. Ihr stieg ein leicht fauliger Geruch in die Nase, und sie fing an, sich die Skelette vor langer Zeit verstorbener Forscher vorzustellen, die es nicht geschafft hatten, einen Weg aus der Höhle heraus zu finden und deren Überreste von fleischfressenden Ratten …
Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Sie wirbelte herum, streckte die Hand aus und berührte einen stahlharten Bizeps. „Schleichen Sie sich nicht so an“, sagte sie.
„Ich habe den Ausgang gefunden.“
Sie wollte nur noch raus aus der stinkenden, dunklen, feuchten Höhle und ins Tageslicht. „Gott sei Dank! Dann nichts wie raus hier.“
„Es gibt nur ein kleines Problem“, sagte er.
„Glauben Sie mir, kein Problem könnte groß genug sein, um mich davon abzuhalten, diese gottverdammte Höhle hinter mir zu lassen.“
„Ich möchte, dass Sie ganz ruhig bleiben“, warnte er sie.
Mattie lief ein vorahnungsvoller Schauer über den Rücken. „Ich wäre wesentlich ruhiger, wenn Sie mir sagen würden, warum ich ruhig bleiben soll.“
Gelbes Licht flammte auf, als Cutter ein Streichholz anriss. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. Sie schaute ihn an und fragte sich, warum er ihre Zeit und – noch wichtiger – ihre Streichhölzer vergeudete. Dann nahm sie eine Bewegung an der Decke wahr. Zuerst dachte sie, die Felsen und Steine würden sich bewegen. Dann erkannte sie, dass das, was sie dort sah, Tausende von winzigen Körpern waren, die dicht zusammengedrängt eine undurchdringliche Schicht an der Decke bildeten.
Fledermäuse.
„Oh mein Gott!“
„Geben Sie kein Geräusch von sich“, sagte Cutter.
Der logische Teil ihres Gehirns wusste, dass Fledermäuse zum Großteil harmlos waren. Aber ihre kleinen nagetierähnlichen Körper gruselten sie trotzdem. „Bitte sagen Sie mir, dass die nicht unseren Ausgang blockieren.“
„Wir werden unter ihnen hindurchgehen müssen.“
Mattie schloss die Augen ganz fest, als Bilder von scharfen kleinen Fledermauszähnen auf der Suche nach Blut vor ihr aufstiegen. „Sind das Vampirfledermäuse?“
„Sie fressen Insekten. Und sie halten gerade Winterschlaf. Wir sollten versuchen, sie nicht zu stören.“
„Cutter, ich denke, das ist eine Sache, über die Sie sich keine Gedanken machen müssen.“
Bevor das Streichholz ausging, sah sie noch kurz, wie seine Augen amüsiert aufblitzten. „Ich möchte, dass Sie nah bei mir bleiben.“
Sie erschrak, als er ihre Hand nahm. „Wie weit ist es bis zum Ausgang?“
„Keine zehn Meter. Wir gehen an den Fledermäusen vorbei. Dann klettern wir hoch.“ Er drückte ihre Hand. „Los geht’s.“
Der Ammoniakgeruch von Guano stieg ihr in die Nase, als sie sich den Fledermäusen näherten. Mattie hörte die Tiere ab und zu quieken. Dann das leise Rascheln von winzigen Flügeln. Ab und zu ließen sie etwas von der Decke fallen. Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus, als sie sich langsam an ihnen vorbeischlichen.
Dann spürte sie kalte frische Luft auf ihrem Gesicht. Vor sich sah sie einen Schimmer Tageslicht. Erleichtert atmete sie auf. Sie ließ Cutters Hand los und beschleunigte ihre Schritte. Die Höhle wurde enger, aber das war ihr egal. Sie wollte einfach nur noch raus.
„Schön langsam“, mahnte Cutter.
Aber Mattie krabbelte bereits auf allen vieren auf das Licht zu. Scharfe Steine schnitten ihr in die Knie, aber sie spürte den Schmerz kaum. „Ich bin beinahe da“, sagte sie aufgeregt.
„Ich bin direkt hinter Ihnen.“
Sie war so erleichtert, aus der Höhle herauszukommen, dass sie kaum bemerkte, als ihre Hände in Schnee fassten und kalter Wind ihr ins Gesicht schlug. Dann sickerte die Kälte durch ihre Kleidung, und sie stand zitternd auf und blinzelte in dem schneehellen Licht.
Cutter rappelte sich neben ihr auf die Beine. „Vom Regen in die Traufe“, murmelte er.
Der vorhin noch leicht fallende Schnee hatte sich zu einem tobenden Schneesturm entwickelt.
„Was machen wir jetzt?“
Die gleiche Frage hatte Cutter sich auch gerade gestellt. Der Wind trieb den Schnee beinahe waagerecht über die Landschaft. Der Himmel war von dichten weißen Wolken verhangen, die Sichtweite betrug keine zehn Meter. Die starken Böen heulten unheilvoll um sie herum.
Unter anderen Umständen wäre die Antwort eindeutig gewesen. In der Höhle bleiben, bis die Bedingungen sich verbessert hatten. Doch mit dem Jaguar und seinen Männern auf den Fersen – vielleicht waren sie jetzt schon in der Höhle und ihnen dicht auf der Spur – wusste Cutter, dass sie keine andere Wahl hatten, als in dem Sturm weiterzuziehen. Was auf eine einzige Frage hinauslief, wie er erkannte: Wie wollte er sterben? An Unterkühlung? Oder durch die Hand eines Mannes, dessen Grausamkeit Cutter schon einmal hatte erleben dürfen?
„Wir gehen weiter“, sagte Cutter.
Sie blinzelte ein paar Mal schnell gegen den Schnee an, der um ihr Gesicht wirbelte. „Wie stellen Sie sich das vor, wenn wir nichts sehen können und keine Ahnung haben, wo wir uns auch nur ungefähr befinden?“
„Ich habe einen Kompass.“
„Einen Kompass? Es braucht verdammt viel mehr als einen Kompass, um uns durch diesen Sturm zu bringen.“
Er zeigte mit dem Daumen in Richtung Höhle. „Vielleicht wollten Sie lieber noch ein wenig in der Höhle bleiben?“
„Hören Sie, ich bin kein Fan von Vampiren, aber …“
„Ich rede nicht von den verdammten Fledermäusen. Ich rede vom Jaguar und seinen Männern.“
Sie warf einen unbehaglichen Blick zu dem dunklen Loch, aus dem sie gerade gekommen waren. „Sie glauben, die folgen uns?“
„Ich denke, davon sollten wir zumindest ausgehen, wenn wir am Leben bleiben wollen.“
„Wenn sie uns in diese fledermausverseuchte Höhle folgen, wer sagt uns dann, dass sie uns nicht auch in den Schneesturm folgen werden?“
„So wie ich den Jaguar kenne, wird er das.“ Cutter schaute sich um. „Wir müssen es ihnen einfach nur ein bisschen schwerer machen.“
An seinem Gürtel hatte er zwei Handgranaten für den Notfall. Das hier war zwar genau genommen keiner, aber wenn er den Jaguar und seine Männer davon abhalten konnte, ihnen zu folgen, würden diese beiden kleinen Sprengsätze gut genutzt sein. Mit einem der kleinen Sprengkörper in der Hand ging er zur Höhlenöffnung und schaute in die Dunkelheit.
Mattie folgte ihm. „Was haben Sie vor?“
„Ich will uns einen kleinen Vorsprung verschaffen.“ Er hob die Granate, setzte den Timer und fing stumm an zu zählen. Einseintausend. Zwei-eintausend. „Sehen Sie die Baumgruppe da?“, fragte er und zeigte auf einen geschützten Platz auf der anderen Seite der kleinen Schlucht, in der sie standen.
Sie blinzelte. „Kaum.“
„Sie haben fünfzehn Sekunden, um sie zu erreichen. Fangen Sie an zu laufen. Ich bin direkt hinter Ihnen.“
Sie bedachte ihn mit einem erschrockenen Blick, den er unter weniger schlechten Umständen genossen hätte. „Warum fünfzehn Sekunden?“
Er zielte sorgfältig und warf die Granate auf einen Felsvorsprung über ihnen, auf dem zentimeterdick der Schnee lag. „Weil es gleich eine Lawine gibt.“
Die Explosion erschütterte die Erde. Cutter betete, dass seine Berechnungen korrekt waren. Wenn nicht, würden er und Mattie lebendig unter Tausenden Tonnen aufgewühltem, erdrückendem Schnee begraben werden.
Er hielt ihre Hand mit eisernem Griff und rannte so schnell er konnte auf die Espen zu. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Er spürte die unbändige Macht der Lawine, fühlte den Sprühnebel des Schnees auf seinem Gesicht.
Doch er riskierte es nicht, zurückzuschauen. Eine falsche Bewegung konnte zum Sturz führen. Und zu diesem Zeitpunkt würde das den sicheren Tod bedeuten. Er hatte allerdings noch keine Lust zu sterben.
So plötzlich, wie die Explosion begonnen hatte, hörte sie auf. Cutter und Mattie erreichten die Bäume und damit eine etwas höhere Ebene. Cutter wirbelte herum. Die Lawine und der Schneesturm hatten ihre Kräfte gebündelt und verwandelten den Berg in eine surreale Szene aus verschiedenen Weißtönen. Es war einer der unglaublichsten Anblicke, die sich ihm je geboten hatten.
„Ich kann nicht glauben, dass Sie das getan haben.“ Grinsend schaute er Mattie an. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, Mitternachtsblau vor einem milchigen Himmel. „Mutter Natur hat eine verdammt gute Show geliefert, oder?“
„Sie geht mit ihren Zuschauern nicht gerade zimperlich um.“ Aber sie konnte den Blick nicht von dem Puderschnee lösen, der wie ein weißer Tornado den Berg hinabwirbelte.
Cutter ließ ihre Hand los und trat einen Schritt zurück. „Das sollte sie für eine Weile aufhalten.“
„Jetzt können wir in Frieden erfrieren.“
Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. Schnee hing in ihren Haaren und auf ihrer Haut. Ihre Wangen waren rot vor Kälte. Verdammt, er wünschte wirklich, sie würde nicht so gut aussehen! Wenn er nicht vorsichtig war, würde sie ihn auf eine Weise berühren, die er nicht zulassen wollte.
„Wir müssen weiter.“ Er holte den Kompass aus der Tasche und deutete auf einen sich schwach abzeichnenden Pfad.
„Wo gehen wir hin?“
„Wir versuchen, eine der Hütten zu finden, von denen ich Ihnen erzählt habe.“
„Die, von denen Sie hoffen, dass sie noch stehen?“
„Genau die.“
„Wie weit ist das?“
Sie bedachte ihn mit einem scharfen Blick. „Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, wir tragen keine Mäntel.“
Doch das war Cutter aufgefallen. Genau wie ihm aufgefallen war, dass sie zitterte und anfing, mit den Zähnen zu klappern. Mit nichts weiter als ihrer Straßenkleidung, um sie warm zu halten, wusste er, dass die Unterkühlung nicht lange auf sich warten lassen würde.
Weil sie sich nicht schnell genug bewegte, nahm er ihren Arm und zerrte sie in einen schnellen Laufschritt. Langsam fing auch er an zu frieren. Seine Hände und Füße waren kalt, und zu allem Übel hatte das schmerzhafte Pochen in seinen Rippen wieder eingesetzt.
Mattie war verstummt. Cutter dachte, dass das vermutlich ganz gut war. Er hatte sowieso nicht die Antworten, die sie hören wollte. Unter diesen Bedingungen eine Hütte zu finden würde einem Wunder gleichkommen. Er nahm an, sie hätten noch ein paar Stunden, bis die Unterkühlung schwerwiegend genug war, dass ihre Körper anfingen, herunterzufahren.
Sollte das passieren, würde ihr Schicksal besiegelt sein.