14. KAPITEL
Cutter schreckte aus dem Schlaf. Ein komisches Gefühl hatte ihn geweckt. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er nicht von dem Jaguar geträumt oder von den vierzehn Stunden, die er unter unvorstellbaren Schmerzen verbracht hatte. Stattdessen hatte er geträumt, dass Mattie auf der Trage festgeschnallt war und sich in den Händen des Verrückten befand …
Er setzte sich abrupt auf. Sein Herz pochte, sein Körper war von einem feinen Schweißfilm überzogen. Das Zimmer fühlte sich leer an. Es war zu still. Mattie hatte eine Art, einen Raum allein mit ihrer Präsenz zu erfüllen. Er wusste, dass sie fort war, noch bevor er zur Schlafzimmertür ging und sie öffnete.
Sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, die beiden Kopfkissen unter die Decke zu stecken, damit es auf den ersten Blick so aussah, als läge sie noch im Bett. Doch das Fenster stand einen Spalt weit offen, und die Vorhänge blähten sich in dem eisigen Wind, der hineinpfiff.
Cutter stieß einen wilden Fluch aus. Es war nicht der Fluch eines Agents, der einen Gefangenen verloren hatte, sondern der Fluch eines Mannes, der um die Frau fürchtete, die er liebte.
Liebe.
Wo zum Teufel kam das auf einmal her?
Die Frage schoss ihm durch den Kopf, als er ins Wohnzimmer zurückeilte und sich schnell anzog. Er versuchte, rational zu denken. Wohin war sie gegangen? Er wusste, sie war nicht einfach nur davongelaufen. So dachte sie nicht.
Dann dämmerte es ihm auf einmal. Sie will den Jaguar stellen.
Ihm wurde übel, und er musste sich kurz auf die Couch setzen. In der Vergangenheit war es ihm immer gelungen, die Gefühle bei der Arbeit außen vor zu lassen. Doch zu wissen, dass Mattie ganz allein da draußen und gewillt war, ihr Leben zu riskieren, erschütterte ihn bis ins Mark. Das war dumm. Selbstmörderisch, um ehrlich zu sein. Aber Mattie war klug. Sie wusste, sie besaß das, was der Jaguar am meisten wollte, das mächtigste Mittel, um ihn anzulocken: die zukünftigen Pläne für das EDNA-Projekt. Doch wie würde sie mit der Situation umgehen, sobald sie dem Irren von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand?
Mattie befand sich gerade weit außerhalb ihrer Liga. Sie war verzweifelt und gewillt, alles zu riskieren – einschließlich ihres Lebens –, um ihren Namen reinzuwaschen. Sie glaubte, ihr Wissen würde sie beschützen. Doch Cutter wusste es besser. Sobald der Jaguar die Informationen hatte, die er brauchte, würde er sie umbringen.
Die Angst rüttelte ihn auf. Er musste sie finden, und zwar schnell. Bevor sie etwas Verrücktes tat. Etwas, das nicht rückgängig zu machen war. Denn sobald der Jaguar sie in die Hände bekam, so fürchtete Cutter, würde er sie nie wiedersehen.
Schnell schnappte er sich seinen Mantel vom Sofa und eilte zur Tür hinaus.
Mattie wählte Daniel Savages Nummer aus dem Gedächtnis und wartete mit zitternden Händen. Er ging beim zweiten Klingeln ran.
„Daniel?“
„Mattie?“ Schock klang in seiner Stimme mit. „Mein Gott! Ich habe die Nachrichten gesehen und von deiner Flucht gehört.“
„Ich bin nicht geflüchtet, habe aber keine Zeit, das jetzt zu erklären.“
„Geht es dir gut? Bist du verletzt?“
„Ja, mir geht es gut. Aber ich brauche deine Hilfe.“
„Du weißt, ich würde alles tun, um dir zu helfen. Wirklich alles.“
Sie verspürte einen Anflug von Wut, schob das Gefühl aber schnell beiseite. „Ich brauche Geld.“
„Okay. Wie viel? Ich schicke es dir. Sag mir einfach nur, wohin.“
Für eine Sekunde blitzte ein Gefühl der Unsicherheit in ihr auf – sobald sie ihm ihren Aufenthaltsort verraten hatte, würde ihr Plan in Bewegung gesetzt, und es gäbe nichts, was sie tun könnte, um ihn aufzuhalten. Wenn Daniel derjenige war, der sie hereingelegt hatte – und dessen war sie sich sicher –, würde er Kontakt mit dem Jaguar aufnehmen. Der wiederum würde ihr sofort nachsetzen. Konnte sie es allein mit dem Terroristen aufnehmen?
„Ich bin in Alberta“, sagte sie. „In einem Skiort in der Nähe der Grenze namens Silver Lake.“
„Gibt es dort ein Telegrafenamt?“
„Ja.“ Sie ratterte die Telefonnummer des winzigen Ladens herunter, der am Ortsrand direkt neben der Post lag. „Fünfhundert Dollar sollten erst einmal reichen.“
„Wofür reichen, Mattie? Mein Gott, die Polizei sucht nach dir! Was hoffst du zu erreichen?“
„Ich denke, jemand hat mich hereingelegt, Daniel.“
Kurzes Schweigen. „Wer?“
„Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden.“
„Honey, vielleicht solltest du das lieber den Behörden überlassen?“
Bei der Erwähnung des Kosenamens zuckte sie zusammen. „Ich werde nicht ins Gefängnis gehen.“
„Ich schicke dir das Geld sofort.“
„Ich benutze einen falschen Namen.“ In ihrem Kopf wirbelten verschiedene Möglichkeiten herum. „Donna Clark.“
„Verstanden.“
„Danke, Daniel.“ Sie schaute durch das Fenster zu dem Telegrafenbüro auf der anderen Seite der Straße. „Ich warte.“
„Pass auf dich auf“, sagte er.
„Silver Lake?“
„Das hat man uns gesagt.“
Der Jaguar schaute auf die Landkarte, die an der Wand hing, und überlegte, wie er die Situation am besten handhaben sollte. „Das ist eine Stunde von hier.“
„Sie wartet am Telegrafenamt auf das angewiesene Geld.“ „Ausgezeichnet.“ Er schaute auf die Uhr. „Gibt es hier einen Flughafen?“
„Ja. Wir befinden uns in einem Skigebiet, da fliegen ständig Privatmaschinen ein und aus.“
„Tankt meinen Jet voll, und sorgt dafür, dass er in zehn Minuten zum Abflug bereitsteht.“
„Ja, Sir.“
„Und belohnt unseren Kontakt in Washington für seine Loyalität. Zehntausend Dollar sollten ihn fürs Erste glücklich machen.“
„Ich kümmere mich darum, dass er das Geld erhält.“
„Gut. Wir werden ihn solange weiterhin gut behandeln, wie er für uns nützlich ist.“
„Ich warte dann in zehn Minuten an der Startbahn.“
Der Jaguar legte auf und ging zu seinem Tisch. Lächelnd öffnete er den Umschlag mit der Akte, die er über Mattie Logan zusammengestellt hatte. Ihr Foto strahlte ihn an. So bezaubernd, dachte er. Es wäre eine Schande, dieses Gesicht zu zerstören. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie auspackte.
Vorfreude erfasste ihn. Endlich würde er die Pläne für EDNA in Händen halten. Endlich hätte er die Macht, die er brauchte, um den Westen in die Knie zu zwingen.
Das Städtchen Silver Lake war klein, aber für einen Mann allein zum Absuchen doch zu groß. Cutter fing am westlichen Ende der Stadt an und arbeitete sich nach Osten vor. Er blieb an jedem Laden stehen – dem Café, der Boutique, dem Antiquitätenladen, selbst dem Buchladen – und fragte nach einer jungen Frau mit großen blauen Augen. Doch niemand hatte sie gesehen. Wo zum Teufel steckte sie?
Bevor er das Bed & Breakfast verlassen hatte, war ihm aufgefallen, dass sie eines der beiden Handys mitgenommen hatte. Er hatte die Nummer ein paar Mal angerufen, aber sie war nicht drangegangen. Verdammt! Wusste sie denn nicht, was sie ihm antat? Nach zwanzig Minuten erfolgloser Suche war er vor Sorge ganz außer sich. Hatte der Jaguar sie bereits gefunden? Hatte sie Angst bekommen und war weggelaufen? Was auch immer, sie befand sich in höchster Gefahr. Er musste sie unbedingt finden. Nur wie?
Cutter hatte sich nicht an die Agency um Hilfe wenden wollen. Nicht weil er sein Gesicht wahren wollte – solche Oberflächlichkeiten interessierten ihn schon lange nicht mehr. Aber hier stand Matties Leben auf dem Spiel, und da wäre es nur klug, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen, um sie zu finden.
Er nahm das Handy aus der Tasche und rief Martin Wolfe an. „Sie ist weg“, sagte er nur, als sein Vorgesetzter ranging.
„Ich weiß“, erwiderte der.
Das war nicht die Antwort, mit der Cutter gerechnet hatte. Sein Magen zog sich zusammen. „Wovon zum Teufel redest du da?“
„Sie hat mich angerufen, Sean.“
Die Worte brachen wie eine Flutwelle über ihm zusammen. „Du erzählst mir jetzt besser ganz genau, was hier los ist.“
„Ich hätte gedacht, dass sie sich inzwischen bei dir gemeldet hat.“
Cutters Herz fing an zu pochen. „Hat sie aber nicht. Also sprich mit mir, verdammt noch mal!“
„Sie wird versuchen, Kontakt mit dem Jaguar aufzunehmen, indem sie sich selber als Köder anbietet. Sie will ihm eine Falle stellen, damit wir ihn fassen können.“
Er fluchte. „Sag mir nicht, dass du damit einverstanden warst.“
„Du weißt so gut wie ich, dass sie unsere beste Chance ist, diesen kranken Hurensohn zu schnappen. Wenn du nicht persönlich involviert wärst, würdest du das genauso klar sehen wie ich.“
Oh, oh, dachte Cutter. Er hatte Mattie einiges zugetraut, aber dass sie seinen Vorgesetzten anrufen würde, das nicht. Und ganz sicher hatte er nicht damit gerechnet, dass ein Profi wie Wolfe sich auf dieses unsichere Manöver einlassen würde.
„Wann hattest du vor, mich einzuweihen?“, zischte Cutter.
„Sie sollte dich anrufen.“
„Seit wann verlässt du dich auf Zivilisten, um mich auf dem Laufenden zu halten?“
„Seitdem du die Kontrolle über die Situation verloren hast.“
Cutter wollte durch das Telefon greifen und Martin Wolfe erwürgen, aber er wusste, dass er sich in der schwächeren Position befand. Er war nicht sicher, wie es passiert war, aber es stimmte, er hatte die Kontrolle über die Situation verloren. Sosehr er sich auch bemüht hatte, die Gefühle für Mattie zu bekämpfen, jetzt musste er zugeben, dass er sich von Emotionen und nicht mehr von Logik leiten ließ. Wenn er nur seine Gefühle für sie beiseiteschieben könnte, würde er die Sache in Ruhe durchdenken und rechtzeitig bei ihr sein können.
„Wo ist sie?“, fragte er kurz angebunden.
„Ich weiß es nicht.“
„Du Mistkerl!“
„Komm schon, Sean …“
„Ich muss los.“
„Lass sie das regeln. Sie weiß, du willst sie keinem Risiko aussetzen, aber wir brauchen sie.“
Cutter legte auf, bevor Wolfe noch mehr sagen konnte. Dann wählte er sofort die Nummer des anderen Handys und betete, dass Mattie rangehen würde.
„Cutter?“
Der Klang ihrer Stimme erschütterte ihn so gründlich, dass er einen Moment lang nicht sprechen konnte. Als er schließlich seine Stimme wiederfand, klang sie vor Gefühlen ganz belegt. „Ich habe versucht, dich anzurufen.“
„Ich konnte nicht rangehen.“
„Warum nicht? Bist du …?“
„Weil ich nicht wusste, was ich sagen soll.“
Er seufzte. „Geht es dir gut?“
„Ja. Mir geht es gut.“
„Wo bist du?“
Sie zögerte. „An einem sicheren Ort.“
Er umfasste das Telefon fester. „Mattie sag mir, wo du bist.“
„Das kann ich nicht.“
„Offensichtlich hast du mit Wolfe gesprochen.“
„Er hat mich in euren kleinen Plan eingeweiht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du hast eine starke Todessehnsucht.“
„Ganz im Gegenteil, Cutter. Mein einziger Wunsch ist es, mein Leben zurückzubekommen.“
„Aber nicht so.“
„Das ist die einzige Möglichkeit.“
„Mattie, zum Teufel, wo bist du?“
Ein weiteres Zögern. Dieses Mal länger. Verdammt, er verlor sie! „Sag mir, wo du bist. Ich komme zu dir, dann reden wir über alles.“
„Nein. Ich weiß, dass du versuchen wirst, mich davon abzubringen. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass bei mir alles in Ordnung ist.“
„Bei dir ist gar nichts in Ordnung!“, schrie er.
„Ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich wieder an.“
„Leg nicht auf!“
„Es tut mir leid“, flüsterte sie.
Panik packte ihn, als er die Endgültigkeit in ihrer Stimme hörte. „Mattie, du musst mir vertrauen. Verdammt, mir liegt etwas an dir!“
Aber die Leitung war schon tot.