2. KAPITEL
Madrid fing sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie auf den Boden aufschlug. Er wusste, ihre Ohnmacht war nur gespielt. Ein schwacher Versuch, die Situation unter Kontrolle zu bringen – oder die Waffe. Als er das frische Blut am Ärmel ihres Sweatshirts bemerkte, sah er sich allerdings gezwungen, diese Annahme noch einmal zu überdenken.
„Verdammt!“, murmelte er.
Sie hing schlaff wie eine Puppe in seinen Armen. Ihre Haut fühlte sich heiß und schweißnass an. Sie kochte förmlich vor Fieber. Der Geruch von Sandelholz und Vanille stieg ihm in die Nase, als er sie auf seine Arme hob. Er war sich sehr ihrer Haare bewusst, die seine Wange streiften, und der weichen Kurven des weiblichen Körpers. Details, die er bei einer Frau, die eine Kollegin umgebracht hatte, gar nicht bemerken sollte.
Fluchend schaute er sich in der dämmrigen Hütte um. Die kleine Küche öffnete sich zu einem Wohnzimmer, in dem sich Berge von Navajo-Kissen auf dem Ledersofa türmten. Er trug sie zu der Couch und legte sie ab. Irgendwo auf dem Weg war ihr Sweatshirt hochgerutscht. Wie von selbst glitt sein Blick zu dem entblößten flachen Bauch. Er sah die Silhouette ihrer Brüste. Weiter unten umschloss die Jeans wohlgeformte Hüften und schmale Oberschenkel. Sie sah nicht aus wie eine Mörderin, aber er wusste aus Erfahrung, wie trügerisch das Aussehen sein konnte.
Schnell wandte er den Blick ab und schalt sich dafür, überhaupt auf all das zu achten. Er zog ihr Sweatshirt herunter und versuchte herauszufinden, woher das Blut kam. Nachdem er die Lampe auf dem Beistelltischchen angeschaltet hatte, kniete er sich hin und sah einen weiteren Fleck von der Größe seiner Handfläche auf dem Ärmel. Das war definitiv Blut.
Madrid hatte im Laufe seiner Karriere genügend Schusswechsel miterlebt, um zu wissen, wann jemand angeschossen war. Er fragte sich, warum Mummert das nicht erwähnt hatte. In den meisten Polizeirevieren zog das Abfeuern einer Waffe einen Wust an Papierkram hinter sich her. Hätte er gewusst, dass die Möglichkeit bestand, dass sie angeschossen worden war, hätte Madrid sämtliche Krankenhäuser in der Gegend abgeklappert. War sie von einem von Norm Mummerts Männern getroffen worden? Oder hatte Angela den Schuss abgegeben in dem Versuch, sich zu verteidigen?
Madrid schob den Ärmel hoch. Der um ihren linken Oberarm geknotete Verband war blutdurchtränkt. So wie es aussah, hatte sie versucht, die Wunde selber zu verbinden, was ihr mit einer Hand aber nicht gut gelungen war. Schnell löste er den unordentlichen Verband und legte die Wunde frei.
Die Kugel hatte sie gestreift und war durch Fleisch und Muskeln gedrungen. Die Wunde war nicht gefährlich tief, hatte aber sehr stark geblutet. Wenn er sich nicht irrte, hatte sie sich bereits entzündet.
Angesichts dessen, was diese Frau getan hatte, gab es einen Teil von ihm, der fand, sie hätte dies alles verdient. Doch der menschliche Teil von ihm hasste es, eine hübsche Frau verletzt zu sehen.
Sie rührte sich, und einen Moment später öffneten sich ihre Lider flatternd. Ihr Blick blieb allerdings unfokussiert. „Ich hab’s nicht … getan.“
„Ganz ruhig“, sagte Madrid grob.
„Nein.“ Sie schlug mit ihren Fäusten um sich. „Polizei … hat versucht … mich zu töten.“
„Halten Sie still.“
„Bitte … lassen Sie nicht zu … dass sie Nicolas wehtun.“
Die Erwähnung des Jungen ließ ihn kurz innehalten. „Wo ist er?“, fragte er.
„Angela hat mich gebeten … ihn zu beschützen … vor den Cops.“
Madrid wurde ganz ruhig und fragte sich, ob sie das wirklich so gemeint hatte, wie es sich angehört hatte. „Was haben Sie gesagt?“
Sie murmelte etwas Unverständliches, das mit den einzigen Worten endete, die er verstand. „Sie hat mir … das Foto gegeben.“
„Was für ein Foto?“, drängte er. „Wovon zum Teufel reden Sie?“
Aber ihre Augen rollten zurück. Sie stöhnte, und ihr Körper erschlaffte. Eher Frust als Sorge machte sich bei ihm breit, als sie das Bewusstsein verlor.
Er schaute sie an, genervt, dass er sie nicht in Handschellen legen und an ihrem hübschen Hals ins Gefängnis schleifen konnte. Genervt, dass das hier vielleicht nicht so einfach war, wie er gedacht hatte.
Polizei … hat versucht … mich zu töten.
Ihre Worte hallten in seinen Ohren nach, als er sich auf die Fersen hockte und versuchte zu entscheiden, was er als Nächstes tun sollte. Er sollte ihr kein Wort glauben. Die Frau hatte einen Federal Agent erschossen, einen Polizisten angegriffen, ein Kind entführt und befand sich seitdem auf der Flucht. Sie war verzweifelt und würde alles tun, um ihre Haut zu retten.
Doch etwas fehlte. Und zwar das Motiv. Das war der Grund, warum er die kleine quengelnde Stimme in seinem Kopf nicht ausschalten konnte, die ihn warnte, dass die Dinge vielleicht nicht so waren, wie sie zu sein schienen.
Madrid war schon viel zu lange Agent, um irgendetwas für bare Münze zu nehmen. Er vertraute niemandem und glaubte nur wenig von dem, was man ihm erzählte.
Doch er wusste auch, dass ein Delirium manchmal wie ein Wahrheitsserum wirkte. Wenn Menschen sehr krank waren, verfügten sie nicht über die Geistesgegenwart zu lügen. Vor allem nicht, sich eine so ausgefeilte Geschichte auszudenken, die durch die Schusswunde gestützt wurde.
Draußen war ein Sturm losgebrochen. Regen prasselte mit der gleichen Gewalt aufs Dach, mit der das Meer sich an die Küste warf. Donner ließ die Fenster erzittern, und Windböen schüttelten das Haus. Madrid hörte die Nachricht der Natur und akzeptierte, dass er die Frau heute nicht mehr aufs Festland zurückbringen würde.
Er überlegte, Mummert anzurufen, um ihn wissen zu lassen, dass er die Frau hatte. Doch irgendetwas hielt ihn zurück. Er wollte nicht zugeben, dass Zweifel an ihm nagten. Doch sie waren da, wie ein dumpfer Kopfschmerz, um den man sich schließlich kümmern musste. Angela war eine Topagentin gewesen. Sie hatte ein gutes Gespür für Menschen. Warum also hatte sie diese Frau in ihr Heim aufgenommen? Warum hatte sie ihr von dieser Hütte erzählt? Die Antwort darauf verstörte ihn ebenso sehr wie die Fragen selbst.
Angela hatte Jessica Atwood vertraut.
Madrid betrachtete ihr schweißgebadetes Gesicht, den Blutfleck auf ihrem Sweatshirt. Währenddessen hallten ihre Worte in seinen Ohren nach …
Angela hat mich gebeten … ihn zu beschützen … vor den Cops.
Madrid wusste besser als jeder andere, dass Menschen nicht immer das waren, was sie von sich behaupteten. Der erste Eindruck konnte sehr täuschen. Er selbst war ein Meister der Täuschung. Doch vor langer Zeit hatte er gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen. Es gefiel ihm zwar nicht, doch in diesem Moment sagte ihm sein Bauchgefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er hatte das hier heute Nacht zu Ende bringen und die Frau festnehmen wollen. Er wollte, dass sie dafür bezahlte, ein Leben genommen und einen kleinen Jungen mutterlos zurückgelassen zu haben. Er hatte Sean Cutter etwas beweisen wollen. Doch sosehr es ihm auch gegen den Strich ging, nichts davon würde so schnell passieren, wie er es gerne hätte.
„Wer zum Teufel bist du?“, flüsterte er über den Regen hinweg, der auf das Dach trommelte.
Er erinnerte sich, dass sie ein Foto erwähnt hatte, und schaute sich um. Als er nichts fand, sah er sie wieder an. Ihre Augen waren geschlossen, doch ihr Körper war rastlos. Er fragte sich, ob das Foto wirklich existierte oder ob sie fantasiert hatte. Oder gar gelogen. Würde das Foto irgendeine der Fragen beantworten, die ihm durch den Kopf schossen?
Er hatte keinen Hemmungen, eine Frau zu durchsuchen – ob sie nun bewusstlos war oder nicht. Vor allem nicht, wenn es helfen könnte, den Mord an einer Kollegin aufzuklären. Das Sweatshirt hatte keine Taschen, aber die Jeans. Mit gerunzelter Stirn ließ er seine Hand in die eine vordere Tasche gleiten. Nichts. Er versuchte es in der anderen. Doch die war auch leer. Also drehte er die Frau auf die Seite und überprüfte die hinteren Taschen. Seine Fingerspitzen ertasteten etwas Glattes – Plastik. Er holte es heraus. Es war eine kleine Kunststoffhülle mit … einem Foto darin.
Das Bild war unscharf, aber deutlich genug, dass er ein Dutzend junger Frauen erkennen konnte, die in einen sehr kleinen Raum gepfercht zu sein schienen. Er zog das Foto aus der Hülle und betrachtete es genauer. Die meisten der Frauen schienen asiatischer Herkunft zu sein. Einige waren gefesselt, andere sahen aus, als wären sie geschlagen worden. Alle wirkten verängstigt.
„Was zum Teufel …?“
Der Boden hinter ihm knarrte. Er griff nach der Pistole, die er Atwood abgenommen hatte, und schwang herum. Der Anblick des kleinen Jungen, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Der Kleine war maximal fünf oder sechs Jahre alt und trug eine weite Jeans, ein rotes Sweatshirt und eine Baseballkappe der Giants. In den Armen hielt er ein Stoffnilpferd.
„Ma-maa.“
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte Madrid das Gefühl, nicht in seinem Element zu sein. Er mochte gut darin sein, Mörder zu jagen, doch was Kinder anging, hatte er keine Ahnung. „Alles ist gut“, flüsterte er.
Der kleine Junge beachtete ihn nicht. Seine Augen waren fest auf die Frau gerichtet, die bewusstlos auf dem Sofa lag. Mit einem lauten Aufschrei rannte er zu ihr, schlang seine Arme um sie und fing an, sich hin und her zu wiegen.
„Ma-maa.“
Madrid schaute fasziniert zu. Er wusste vielleicht nichts über Kinder, aber er wusste viel über die menschliche Natur. Eines stand fest: Dieses Kind hatte keine Angst vor Jessica Atwood.
„Was zum Teufel geht hier vor sich?“, murmelte er.
Die einzige Antwort war das Rauschen des Regens vor den Fenstern und das ungute Gefühl, dass hier nichts so war, wie es schien.
Jessica tauchte ganz langsam aus der Bewusstlosigkeit auf. Das Erste, was sie wahrnahm, war das unermüdliche Brechen der Wellen an der felsigen Küste. Dann das Auf-und Abebben des Schmerzes in ihrem linken Arm. Sie lag auf der Seite, die Knie zur Brust angezogen.
Alles, was passiert war, kam in einem gewaltigen Bilderrausch zu ihr zurück. Es war wie die Erinnerungen an einen fürchterlichen Albtraum. Das Adrenalin sorgte dafür, dass sie sich aufsetzte, bevor ihre Augen noch ganz geöffnet waren. Der Schmerz in ihrem Arm entrang ihr einen Schrei und ließ sie wieder zurück in die Kissen sinken. Einen Moment lang lag sie einfach nur da und kämpfte verwirrt gegen ihre Panik an.
„Willkommen zurück“, sagte eine tiefe männliche Stimme.
Jess schlug die Augen auf und erblickte einen Mann, dessen Augen die Farbe tiefer Nachtschwärze hatten. Ein dunkler Bartschatten bedeckte sein markantes Kinn. Er betrachtete sie mit einer Intensität, die sie verstörte. So wie ein Raubtier seine verletzte Beute beobachtete, kurz bevor es zuschlug.
Es war der Mann, der sie vor der Hütte angesprochen hatte. Sie erinnerte sich, mit ihm gekämpft zu haben. Er hatte sich als Federal Agent vorgestellt. Aber warum war sie dann nicht im Gefängnis? Oder wenigstens in einem Krankenhausbett mit einem bewaffneten Wachtposten vor der Tür?
„Sie sehen nicht aus wie einer vom FBI“, sagte sie.
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, doch seine Augen blieben kühl und reserviert. „Und Sie sehen nicht aus wie eine Mörderin.“
Sie dachte an Angela und schloss die Augen gegen den Schmerz, der in ihr aufwallte. „Weil ich keine Mörderin bin.“
„Sparen Sie sich das für eine einfältige Jury.“
„Ich möchte Ihren Ausweis sehen.“
Das Geräusch, was er von sich gab, glich mehr einem Knurren als einem Lachen.
„Der letzte Mann, der sich als Cop ausgegeben hat, hat versucht, mich umzubringen“, fügte sie hinzu.
Widerwillig zog er ein kleines schwarzes Etui aus der Tasche seiner Jeans und hielt es ihr hin. Es handelte sich um einen Lichtbildausweis – Mike Madrid, Büro des Bundesanwalts.
„Das ist eine Fälschung“, sagte er.
„Das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte sie trocken.
„Ich bin nicht vom Büro des Bundesanwalts. Ich bin von der CIA. Genauer gesagt, von der MIDNIGHT Agency. Der gefälschte Ausweis sollte mir nur mit der örtlichen Polizei helfen.“
„Was hat die CIA mit dem Fall zu tun?“
„Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen.“ Er schob das Etui zurück in die Hosentasche.
„Ich weiß nur, dass meine beste Freundin tot ist und die Polizei versucht, mich umzubringen.“
„Und Sie erwarten, dass ich das glaube?“
„Ich weiß nicht mehr, was ich erwarte.“ Jess schaute sich um und versuchte sich zu sammeln. Hinter den Fenstern herrschte tiefste Dunkelheit. Regen prasselte aufs Dach, das Meer schlug auf den Strand am Fuß der Klippen auf. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war.
„Wie lange war ich weg?“, fragte sie.
„Beinahe eine Stunde.“ Er lehnte sich leicht zurück und musterte sie mit seinen dunklen, undurchdringlichen Augen. „Woher haben Sie die Schusswunde?“
„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Die Polizisten haben versucht, mich umzubringen.“
„Das entspricht so ziemlich dem Standardvorgehen, wenn eine Mordverdächtige einen Polizisten angreift und versucht zu fliehen.“
„Ich war nicht bewaffnet und habe auch niemanden angegriffen. Ich bin weggelaufen, weil der Cop versucht hat, uns zu töten.“ Besorgnis erfasste sie, als sie an Nicolas dachte. „Wo ist Nicolas?“
„Im Schlafzimmer.“
„Ich möchte ihn gerne sehen.“ Als er sie nur anschaute, fügte sie hinzu: „Bitte. Er hat Angst. Er vermisst seine Mutter.“
„Sie können ihn sehen, nachdem Sie meine Fragen beantwortet haben.“
Ihr war es zuwider, dass er die Oberhand hatte und sie kooperieren musste. Einen Schmerzenslaut unterdrückend, setzte sie sich auf. Erst da wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr ihre Sachen anhatte. Sie warf einen Blick auf das ihr unbekannte T-Shirt. Angst, gefolgt von einer ungemeinen Verletzlichkeit, ergriff sie. „Wo ist meine Kleidung?“
„Im Trockner.“
„Aber warum haben Sie …?“ Sie wollte den Satz nicht beenden und ließ ihn verebben. „Sie hatten kein Recht …“
„Die Wunde konnte nicht warten. Sie musste gereinigt und verbunden werden. Sie waren voller Blut und Dreck, und ehrlich gesagt, hab ich es nicht ertragen, Sie so zu sehen.“
Sie wusste, in Anbetracht ihrer Situation war das lächerlich, aber dennoch errötete sie. „Ich bin ohnmächtig geworden?“
„Ja. Die Schusswunde hat sich entzündet.“
Das wusste sie bereits. Ihr Arm pochte mit jedem Schlag ihres Herzens.
„Ich habe einen Erste-Hilfe-Kasten gefunden.“ Er zeigte auf den kleinen weiß-roten Kasten auf dem Tisch. „Angela hatte noch ein paar Antibiotika übrig. Ich hätte Sie Ihnen gerne verabreicht, wusste aber nicht, ob Sie gegen Penicillin allergisch sind.“
Sie wollte keine Tabletten nehmen, doch Jess fühlte, wie das Fieber heiß durch ihren Körper floss. Auch wenn sie nicht länger bewusstlos war, wusste sie, dass sie es dank des Fiebers jederzeit wieder werden könnte. „Ich bin nicht allergisch.“
Ohne den Blick von ihr zu nehmen, öffnete er das braune Fläschchen und entnahm eine Tablette. „Hier steht, man soll alle vier Stunden eine nehmen. Hoffen wir, dass sie noch wirken“, sagte er und reichte ihr ein Glas Wasser.
Sie nahm die Pille und trank das ganze Wasserglas aus. „Wenn Sie glauben, dass ich eine Polizistenmörderin bin, wieso helfen Sie mir dann?“
„Weil ich einige Fragen habe, auf die ich Antworten haben will.“ Er zog ein Stück Papier aus seiner Hemdtasche. „Zum Beispiel, woher Sie das hier haben.“
Jess erkannte das Foto sofort. „Sie haben mich durchsucht?“ „Was haben Sie denn erwartet – immerhin haben Sie das Foto erwähnt.“
In den letzten vierundzwanzig Stunden war so viel passiert, dass Jess das Foto beinahe vergessen hatte. Sie verstand dessen Bedeutung nicht, aber, dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen, der Mann schon.
„Wo haben Sie das her?“, fragte er.
„Angela hat es mir gegeben.“
„Warum? Was hat es zu bedeuten?“
Jess schloss kurz die Augen, als ihre Gedanken sie zu dem fürchterlichen Moment zurückführten, in dem sie ihre Freundin sterbend in einer Blutlache auf dem Boden ihrer Wohnung vorgefunden hatte. Angela hatte versucht, etwas zu sagen, doch sie war so schwach gewesen, dass Jess nur ein paar Satzfetzen hatte verstehen können. Mit letzter Kraft hatte Angela ihr das Foto gegeben.
„Reden Sie mit mir, verdammt noch mal!“
Seine Stimme holte Jess in die Gegenwart zurück. „Sie hat es mir direkt vor ihrem Tod gegeben. Ich weiß nicht, warum, und ich weiß auch nicht, was es bedeutet. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es wichtig war, es mir zu geben, denn sie hat mich gebeten, das Foto und ihren Sohn mit meinem Leben zu beschützen.“
Madrid schaute sie so an, wie er vermutlich einen Verdächtigen anschauen würde, der ihn gerade angelogen hatte. Nur dass Jess nicht log. Aber wie könnte sie ihn nur dazu bringen, ihr zu glauben?
„Hat sie sonst noch etwas gesagt?“, fragte er nach einem Moment.
Jess wollte sich nicht an die letzten schrecklichen Augenblicke im Leben ihrer Freundin erinnern. Doch sie wusste, dass nur die Wahrheit sie entlasten konnte.
Sie schaute Madrid an und fragte sich, ob sie ihm vertrauen durfte. Egal, sie hatte keine andere Wahl. „Sie hat mir gesagt, dass ich den Cops nicht vertrauen darf. Und sie hat mich angefleht, Nicolas zu beschützen. Ihn herzubringen. In diese Hütte.“
„Wie ist sie gestorben?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Ihr wurde in den Bauch geschossen.“ Bei der Erinnerung erschauerte Jess. „Da war so viel Blut.“
Er hatte einen der durchdringendsten Blicke, die sie je gesehen hatte. Wenn er sie so anschaute, fühlte sie sich nackt. Sie wusste, es war dumm, aber er gab ihr das Gefühl, in ihren Kopf hineinschauen und ihre intimsten Gedanken lesen zu können.
„Hat sie gesagt, wer es getan hat?“
„Nein.“
Madrid rieb sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. Er sah genervt und müde aus, als wenn er die ganze Nacht lang wach gewesen wäre und wüsste, dass an Schlaf alsbald nicht zu denken war. „Ich möchte, dass Sie ganz von vorn anfangen und mir alles erzählen.“
Jess wusste nicht, ob er Freund oder Feind war. Er hatte eine Marke, die ihn als Federal Agent auswies, doch angesichts der Polizisten in Lighthouse Point wusste sie nicht, ob das gut oder schlecht war. Eine kleine Stimme erinnerte sie daran, dass er ihre Schusswunde versorgt hatte. Er hatte ihr ein Antibiotikum gegeben. Wenn er wollte, dass sie starb, hätte er sie inzwischen ein Dutzend Mal töten können.
Also erzählte sie ihm ihre Geschichte. „Angela hat mich in dem kleinen Apartment über ihrer Garage wohnen lassen.“
„Warum sind Sie hier?“
„Ich hatte ein paar … Probleme. Ich brauchte einen Ort, an dem ich eine Weile bleiben konnte.“
„Was für Probleme?“
Sie wandte den Blick ab. „Eine Scheidung.“
Er nickte. „Fahren Sie fort.“
„Um Mitternacht habe ich einen Anruf erhalten. Es war Nicolas. Er weinte und war völlig verängstigt.“
„Er kann nicht sprechen?“, fragte Madrid.
Sie nickte. „Er ist Autist. Obwohl er schon fünf ist, spricht er nicht. Er kommuniziert jedoch auf andere Weise mit seiner Stimme und seiner Körpersprache.“
Madrid zog die Stirn kraus. „Was ist dann passiert?“
Gänsehaut überzog ihre Arme, als die Erinnerungen zurückkamen. „Ich habe mir schnell etwas angezogen und bin die Treppe hinuntergelaufen. Die Garage steht etwas abseits, also brauchte ich eine Minute oder so, um zum Haus zu gelangen. Als ich durch die Haustür kam, hörte ich Nicolas weinen. Ich habe gerufen, aber es hat niemand geantwortet, also bin ich weiter hineingegangen.“
Bilder von Angela, wie sie in einer Lache aus Blut auf dem Fußboden lag, blitzten vor ihrem inneren Auge auf. „Ich habe sie in der Küche gefunden. Sie hat noch gelebt. Nicolas war hysterisch und hat geschrien. Ich habe den Notruf gewählt und bin dann zu ihr gegangen. Sie hat versucht, etwas zu sagen, aber sie war schon so schwach. Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte.“
„Ich möchte, dass Sie genau wiederholen, was Angela gesagt hat. Wort für Wort. Das könnte sehr wichtig sein.“
Jess schloss die Augen. Der Teil von ihr, der sich an das Grauen jener Nacht nicht erinnern wollte, rebellierte. Doch der andere Teil, der wusste, dass sie dem Tod ihrer Freundin auf den Grund gehen musste, trieb sie voran.
Sie wiederholte langsam und deutlich alles, was sie dem Mann schon erzählt hatte. „Das Letzte, was sie tat, war, mir das Foto zu geben.“
„Was ist dann passiert?“
„Die Polizei kam.“
„Wer genau?“, hakte er angespannt nach.
„Der Chief“, gab sie ebenso angespannt zurück. „Norm Mummert. Und zwei Officer.“
„Wurden Sie sofort verhaftet?“
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass ich eine Verdächtige sein könnte. Sie haben mich ein paar Minuten lang befragt. Ich habe ihnen genau erklärt, was passiert ist, und sie wirkten zufrieden. Dann bat der Chief den einen Officer, Nicolas und mich zum Revier zu fahren, damit wir eine formelle Aussage machen könnten.“ Bei der Erinnerung wurde ihr Mund ganz trocken. „Auf dem Weg in die Stadt bog er auf einmal auf einen Schotterweg ab.“
„Welcher Officer war das?“
„Ich glaube, er heißt Fink. Er hat einen Bürstenhaarschnitt.“
„Fahren Sie fort.“
Ein Zittern durchlief sie, als sie sich an die Fahrt über die einsame Schotterstraße erinnerte. „Ich habe ihn gefragt, was er vorhabe, aber er hat mich ignoriert und ist einfach weitergefahren. Ungefähr eine Meile die Straße hinunter hielt er an und befahl mir auszusteigen. Als ich es tat, zog er seine Waffe. Er versuchte, mir Handschellen anzulegen, aber ich habe mich gewehrt und es irgendwie geschafft, mich loszureißen. Dann habe ich Nicolas gepackt, und wir sind weggerannt.“
Bilder von der wilden Jagd durch den dunklen Wald blitzten in ihrem Kopf auf und ließen sie erneut erschaudern. „Nicolas war erschöpft und verstört. Er weinte und rief nach Angela.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nach einer Weile haben wir eine kleine Pause eingelegt. Ich hatte Angst, dachte aber, wenn wir auf die Hauptstraße zurückfinden würden, könnten wir einen Wagen anhalten und alles würde gut werden.“ Sie schloss die Augen. „Doch dem war nicht so.“
Madrid schaute sie mit seinen dunklen Augen erwartungsvoll an.
„Ich dachte, Finks Verhalten wäre ein Einzelfall. Ein schlechter Cop, der die Situation ausnutzte. Ich wäre ja stehen geblieben und hätte mit den Polizisten geredet, um alles klarzustellen. Doch die Chance haben sie mir nicht gegeben. Sie haben nicht aufgehört, auf uns zu schießen.“
Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment sprach keiner von ihnen. Das einzige Geräusch war der Regen, der gegen die Fenster trommelte.
Jess brach das Schweigen. „Ein Schuss streifte meinen Arm. Ich dachte, wir würden beide sterben. Ich habe geblutet und hatte Angst, so zu enden wie Angela. Aber ich habe die ganze Zeit an Nicolas gedacht, an mein Versprechen Angela gegenüber, ihn zu beschützen. Also sind wir weitergelaufen.“ Sie stieß den angehaltenen Atem aus. „Der Wald war sehr dicht. Ich muss über einen Stein oder eine Baumwurzel gefallen sein, denn auf einmal fand ich mich einen Abhang hinunterrollend wieder. Anfangs schaffte ich es noch, Nicolas festzuhalten, doch als wir auf dem Wasser aufschlugen, entglitt mir seine Hand.“
„Sie sind ins Wasser gefallen?“
Sie schaute auf ihre zerschundenen Hände. „Die Strömung war unglaublich stark und hat mich flussabwärts mitgerissen. Ich erinnere mich, von Treibgut getroffen worden zu sein. Schließlich hörte ich Nicolas schreien und schaffte es irgendwie, seine Hand zu packen. Doch ich wusste nicht, wie schlimm ich verletzt war. Ich hatte unglaubliche Angst, ohnmächtig zu werden – und dass der Cop uns finden und beenden würde, was er angefangen hatte.“
„Wie sind Sie hierhergekommen?“, wollte er wissen.
„Nach einer Weile wurde die Strömung schwächer. Ich habe mich an einer Baumwurzel festhalten können, als wir nicht weit vom Jachthafen in Lighthouse Point unter einer Brücke hindurch kamen. Ich erinnerte mich, dass Angela gesagt hatte, ich solle Nicolas hier auf die Insel bringen, und ich wusste, dass sie im Hafen ein Boot liegen hatte.“
„Also haben Sie es gestohlen.“
„Ich habe getan, was ich musste, um am Leben zu bleiben.“
„Was ist mit der Pistole?“, fragte er.
„Die gehört Angela“, erwiderte sie. „Ich habe sie hier gefunden.“
„Das ist aber ein sehr angenehmer Zufall.“
„Nichts an dieser ganzen Sache ist angenehm.“ Sie nickte in Richtung der Tür, hinter der Nicolas schlief. „Ich habe ihr ein Versprechen gegeben und plane, es einzuhalten.“
„Vielleicht wollten Sie das Kind auch nur für sich allein haben.“
Der Zorn erhob sich in ihr mit einer solchen Macht, dass ihr der Schweiß ausbrach. „Das ist doch total absurd.“
„Es ist aber die Theorie des Polizeichefs.“
„Er irrt sich.“ Sie überlegte einen Moment, suchte in seinem Gesicht nach einem Ausdruck, der ihr verraten würde, was er dachte, was er vorhatte. Doch seine Mimik war so unbewegt wie ein Felsen. „Ich habe sie nicht umgebracht. Das müssen Sie mir glauben.“
„Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich glaube.“
Sie schon. Sie vertraute diesem Mann nicht.
„Auf eines können Sie jedoch zählen“, sagte er nach einer Weile. „Ich werde der ganzen Sache auf den Grund gehen. Ich werde den Menschen finden, der Angela getötet hat. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, aber derjenige wird dafür bezahlen.“