2. Kapitel
Die Hexe war nicht erfreut darüber, so viel Energie aufwenden zu müssen, aber sie versetzte Lance, seine Enkelin und den Jaguar zum Sanktuarium, dem Betreuungszentrum für Senioren in Brentwood, Kalifornien. Der weitläufige Komplex war für diejenigen eingerichtet worden, denen die Gabe verwehrt wurde, und er sah mehr wie ein Luxushotel aus als wie ein Pflegeheim. Unter der großen Anzahl der dort beschäftigten Krankenschwestern befand sich auch eine verdeckt arbeitende Maja, deren heilende Zauber sicherstellten, dass die Bewohner gesund und aktiv blieben, bis ihre alternden Körper aufgaben. Hier würde Ruth Ann Lacey endlich die Pflege und Fürsorge erhalten, die sie brauchte.
Lance half ihr, sich einzurichten, füllte die notwendigen Papiere aus und benachrichtigte Galahad dann von der Ankunft seiner Tochter, nicht ohne streng hinzuzufügen, dass er sie besuchen solle. Sein Sohn stimmte zu, erstaunt, dass schon fünfzig Jahre vergangen waren, seit er das gescheiterte Debüt der damals jungen Frau gefördert hatte.
Niemand bei Hofe hatte eine besonders gute Vorstellung vom Vergehen der Zeit.
Da Lance wusste, dass Morgana einen Lagebericht erwartete, fuhr er heim nach Camelot. Im Gegensatz zum Sanktuarium war die Anlage, die alle ihr Zuhause nannten, gewollte Mittelklasse, mit Nullachtfünfzehn-Häusern und Bungalows, die so langweilig und farblos waren, wie nur amerikanische Vororte sie hervorbringen konnten. Normalerweise hätte keiner der Magier sich in einem dieser Häuser sehen lassen, doch eine opulentere Zurschaustellung hätte menschliche Aufmerksamkeit erregt, an der niemandem gelegen war. Außerdem lebte dort eigentlich ohnehin keiner.
Sie waren für niemanden ein Zuhause, diese Häuser, sondern bloße Durchgänge.
Lance fuhr zu seinem eigenen unscheinbaren Bungalow und stellte den Jaguar in der Garage über dem im Boden eingelassenen Zaubergenerator ab, den er benutzen würde, um nach South Carolina zurückzukehren. Schade, dass es keine solchen Generatoren in Tayanita County gab! Von dort würde er wieder die Hilfe der Hexe erbitten müssen, um nach Hause zurückzukehren. Und Morgana irgendetwas zu schulden war nicht gut.
So, wie die Dinge lagen, brauchte er vor der Zusammenkunft zunächst einmal einen Drink. Hungrig oder durstig zu einer Konfrontation mit der Vorsitzenden des Majae-Rates zu gehen war eine denkbar schlechte Strategie.
Die Garagentüren schlossen sich hinter Lance, als das Haus seine Gegenwart spürte und sich leise klickend die Schlösser öffneten. Er trat ein und ging durch die Küche, ohne das Geschirr zu beachten, das seit zwanzig Jahren die Spüle füllte. Wie alles andere im Haus waren es nur Requisiten, die dazu dienen sollten, menschlichen Einbrechern den Eindruck zu vermitteln, dass die Bewohner gerade erst zur Tür hinausgegangen waren.
Lance trat auf ein blaues, im Boden eingearbeitetes Kachelmuster und murmelte: »Lord’s Club.« Gehorsam ließ der Generator unter Lance’ Füßen die Welt zu Weiß verschwimmen. Die magischen Energien schufen einen Durchgang zwischen einem Universum und dem nächsten.
Als das weiße Licht verblasste, war Lance von den teuren Ledergarnituren und Antiquitäten des Herrenklubs umgeben – und den stärkenden Energien der Parallelwelt Mageverse. Lance seufzte, als die Anspannung, die er in der realen Welt immer verspürte, von ihm abfiel. Oft dachte er, dass sich ein Fisch so fühlen musste, wenn er von einem Boot in die kühlen, dunklen Wasser eines Sees zurückgeworfen wurde.
Der Lord’s Club war an diesem Abend weitgehend leer, bis auf Artus, Reece Champion und einen anderen Mann, dem Lance noch nie begegnet war. Sie saßen an einem der runden Tische, und Artus, der danebenstand, stellte gerade eine Flasche und drei Gläser auf die Tischplatte.
Äußerlich hatte der einstige Hochkönig sich überhaupt nicht verändert; rein körperlich war er immer noch derselbe Mann, der sechzehn Jahrhunderte zuvor Lance’ Loyalität gewonnen hatte. Er hatte immer noch die gleiche kräftige Muskulatur, die er sich erworben hatte, als er versucht hatte, das Chaos im Lande zu beseitigen, nachdem Rom seine britischen Untertanen im Stich gelassen hatte. Seit Lance’ letztem Besuch hatte er sich den dunklen Bart wieder abrasiert und zeigte nun wie früher sein rundes, jungenhaftes Gesicht mit dem von Lachfältchen umrahmten Mund. Er sah mehr wie ein englischer Landedelmann als wie ein sagenhafter Held aus, aber hinter diesen fröhlichen braunen Augen verbarg sich ein rücksichtsloser, brillanter Verstand, der sich voll und ganz dem Überleben der menschlichen Rasse widmete.
Seit sechzehnhundert Jahren war Artus der Beschützer Britanniens, der hinter den Kulissen arbeitete, um das Land durch jede größere Krise in seiner langen Geschichte zu führen. Dazu hatte Artus schon viele verschiedene Namen benutzt, doch niemals seinen eigenen. Selbst die Sterblichen, die erkannt hatten, dass er mehr war als ein Mensch, hatten keine Ahnung, dass sie es mit dem legendären König Artus von Camelot zu tun hatten.
Und mit einem Vampir.
Artus blickte auf, und sein Lächeln wurde kühler, als er Lance erblickte. Nach so vielen Jahrhunderten vermochte seine Feindseligkeit Lance kaum noch zu verletzen, aus irgendeinem Grund schmerzte sie ihn heute Abend jedoch. Und weil der Schmerz seine Halsstarrigkeit weckte, schlenderte er zu dem Trio hinüber und nahm sich im Vorbeigehen ein Weinglas von dem langen Mahagonitresen.
Als er Artus’ Blick begegnete, machte er einen spöttischen, unterwürfigen Diener wie ein mittelalterlicher Bauer, der er nie gewesen war. »Mein Lehnsherr«, sagte er und lächelte dann die anderen an. »Reece. Hast du mal wieder ein paar Rotröcke getötet?«
Der Beschützer Amerikas lächelte. »Das habe ich aufgegeben.« Dann erhob er sich und schüttelte Lance die Hand mit der Wärme, die Artus ihm vorenthalten hatte.
Reece war ein großer, stämmiger Mann mit dunklem Haar, dessen Gesicht noch von irgendeinem tödlichen Abenteuer während der Kriege gegen die Franzosen und Indianer gezeichnet war. Fast jede Nation hatte einen Vampirbeschützer wie ihn. Sie arbeiteten verdeckt, um das Land durch Krisen zu führen und als Stimme der Vernunft zu dienen. Reece war soeben von einer einjährigen Mission im Mittleren Osten zurückgekehrt, wo er auf Terroristen Jagd gemacht hatte.
Lance beneidete ihn nicht. Eine Beschützerrolle war keine leichte, da man Regierungsangehörigen des Landes, für das man tätig war, am Ende oft mehr von seiner eigenen Natur verriet, als ratsam war. Einem Beschützer war es jedoch streng verboten, Außenstehende irgendetwas über die Magiergattung herausfinden zu lassen. Ja, die Aufgabe des Beschützers war ein wirklich heikles Unterfangen.
Reece wandte sich dem fremden Vampir zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Lance, das ist Captain Antoine Foster von den U. S. Marines. Und dieser Herr, Antoine, ist Lancelot du Lac.«
Foster erhob sich, um Lance die Hand zu schütteln. »Captain im Ruhestand«, berichtigte er nüchtern.
»Dank einer irakischen Granate, die er wegstieß, als ein Terrorist sie in den Raum warf«, fügte Reece hinzu. »Aber dadurch rettete er die drei Männer, die mit ihm dort waren. Einer von ihnen war ich. Ich habe dem Rat gesagt, dass er eine gute Ergänzung unserer Reihen wäre.« Reece musste überzeugend gewesen sein; normalerweise war der Rat der Majae nicht so entgegenkommend.
»Als du sagtest, diese Frau würde mich in einen Vampir verwandeln, dachte ich, sie würde mich nur beißen«, sagte Foster zu Reece, als alle wieder ihre Plätze einnahmen. Trotz seiner kürzlichen Verwandlung wiesen seine dunklen, attraktiven Züge noch Anzeichen von Leiden auf, als wäre er sehr lange krank gewesen. Sein Körper wirkte jedoch fit und muskulös unter den Khakihosen und dem schwarzen Strickhemd, das er trug. »Du hast mir nicht gesagt, dass sie mir das Hirn rausvögeln würde, bis ich plötzlich glaubte, dass mich die Macht des Himmels traf.«
Lance durchdachte den Vergleich. »Ich glaube, das ist die beste Beschreibung der Verwandlung, die ich je gehört habe.«
Foster zuckte mit den Schultern. »So fühlte es sich an. Gerade bin ich noch ein einbeiniger Krüppel, der zum vierten Mal vielleicht in jener Nacht mit dieser Blondine rummacht, und dann bin ich plötzlich mitten in einer verdammten Explosion, die schlimmer war als diese verfluchte Granate im Irak. Als ich endlich aufhöre zu schreien, ist mein Bein wieder da, genauso schnell, wie diese irakische Granate es mir weggeblasen hatte.«
»Als deine Gabe Wirkung zeigte, warst du für einen Moment lang pure magische Energie – das war die Explosion, die du erfuhrst«, erklärte Reece. »Die Magie fügte dich zu deiner neuen Form zusammen und brachte dein Bein wieder hervor. Vergiss nicht, dass ich dich darauf vorbereitet hatte, dass das geschehen würde, als ich mit der Frage an dich herantrat, ob du dich uns anschließen wolltest.«
»Nun ja, das schon, aber … ich hatte es mir mehr wie eine Regeneration oder so was vorgestellt.« Foster schüttelte den Kopf. »Diese Gabe macht einen zum Vampir, nicht wahr?«
»Mehr oder weniger.«
»Ich sag das nur, weil ich nämlich zweifelsohne ein Vampir bin. Ich starrte noch mein neues Bein an, als ich plötzlich merkte, dass ich den Puls der Blonden hören konnte. Und ehe ich mich’s versah, biss ich sie auch schon und …« Er grinste, und seine Augen leuchteten auf bei der Erinnerung daran. Alle anderen Männer am Tisch erwiderten das Grinsen, weil sie wussten, wie es gewesen war. »Und dann, nachdem wir wieder rumgemacht hatten, öffnet sie dieses Loch in der Luft, und wir sind hier. Wo zur Hölle das auch ist.« Er zog eine Braue hoch und wandte sich an Reece. »Dann übergab sie mich dir sozusagen und verschwand, ohne auch nur ›Ruf mal an‹ zu sagen. Ich wäre am Boden zerstört, wenn ich nicht so ein gesundes Ego hätte.«
»Typisch Maja«, warf Lance trocken ein.
»Nein, sie sagte, ihr Name sei Isolde.«
Lance lächelte. »Ich meinte, dass sie eine Maja war. Der Plural ist Majae.«
»Und was ist das – ein Codewort für eine Edelnutte?«
»Edelnutte«, wiederholte Artus gedehnt und sah Lance dabei an. »Was für eine treffende Bezeichnung für einen vom Rat beauftragten Verführer!«
Lance konnte gerade noch den Impuls beherrschen, seinem Lehnsherrn den Mittelfinger zu zeigen.
»Ich dachte, man müsste drei Mal gebissen werden oder so«, fuhr Foster fort und sah Lance und Artus neugierig an, als fragte er sich, was hinter dieser kleinen Nebenhandlung steckte. »Aber sie hat nicht einmal versucht, mein Blut zu trinken.«
Reece Champion blickte stirnrunzelnd zu Artus. »Das liegt daran, dass sie kein Vampir ist«, erklärte er Foster. »Vergiss nicht, dass ich dir gesagt habe, dass neunzig Prozent der Geschichten über uns nicht stimmen. Vampire sind nicht böse, wir sind keine Untoten, Kreuze und Knoblauch können uns nichts anhaben …«
»Und es gibt keine weiblichen Vampire«, warf Artus ein. »Die Frauen sind alle Majae. Man könnte sie auch Hexen nennen, doch das würde ich dir nicht raten.«
»Zumindest nicht in ihrer Gegenwart«, stimmte Champion zu. »Und wir halten auch ›Vampir‹ für keine höfliche Bezeichnung. Korrekt ist ›Magus‹ oder ›Magi‹.«
»Ich werde daran denken.« Foster lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dann hat diese Maja mich also verhext?«
»Nein«, sagte Artus und trank einen Schluck aus seinem Glas. »Sie hat nur etwas ausgelöst, was schon in dir vorhanden war. Du warst das, was wir einen ›Latenten‹ nennen. Das bedeutet, dass du einer der wenigen bist, die Merlins Gabe in ihren Genen tragen.«
»Und Merlins Gabe …?«
Artus stellte sein Glas ab und fuhr sich in einer Geste, die Lance schon tausend Mal bei ihm gesehen hatte, mit den Fingern durch das Haar. »Vor etwa sechzehnhundert Jahren kamen Merlin und seine Partnerin Nimue auf die Erde …«
»Moment mal – soll das etwa heißen, dass sie Außerirdische waren?«
»Im Prinzip ja. Und irgendwie waren sie auch Missionare, glaube ich. Ihr Volk, die Fae, hatte mit angesehen, wie zahllose intelligente Rassen sich selbst vernichteten, sowie sie technologisch dazu in der Lage waren. Deshalb kamen die Fae auf die Idee, für die Menschen eine Gattung von Beschützern zu erschaffen, die sie durch ihre rassische Entwicklung führten. Also testeten Nimue und Merlin Menschen auf der ganzen Erde, und wer bestand, erhielt die Gabe. Eine Reihe von Leuten an meinem Hof – du würdest ihn Camelot nennen …«
»Was? Du bist dieser Artus? König Artus?« Dann seufzte Foster. »Okay, das war eine dumme Frage. Wenn es einen Merlin gab und ich mit Männern namens Lancelot und Artus rede …«
Artus’ Mund verzog sich zu einem schwachen Grinsen. »Auf jeden Fall wurden etwa fünfzig von uns, Männer und Frauen gleichermaßen, dazu auserwählt, aus Merlins Pokal zu trinken. Was auch immer sich darin befand, veränderte uns genetisch. Von da an trugen alle unsere Nachkommen das Gen der Gabe in sich, die aber latent blieb, bis sie dazu auserwählt wurden, sie zu empfangen. Inzwischen haben Merlin und Nimue sich zum nächsten Planeten aufgemacht und uns hier mit der Aufgabe zurückgelassen, die menschliche Rasse vor dem Untergang zu retten.«
»Ich bin ein Nachkomme einer der Ritter der Tafelrunde?« Foster hätte nicht verblüffter aussehen können, wenn ihm eröffnet worden wäre, sein Vater sei der Osterhase.
»Bediveres vermutlich, nach deinem Geruch zu urteilen«, warf Lance ein. »Das ist schon eine Weile her. Mindestens vierhundert Jahre, da er schon so lange tot ist.«
»Mensch!« Für einen langen Moment sah Foster wie benebelt aus, bevor er sich zusammenriss. »Lasst mich das mal klarstellen – dieses Gen wird also aktiviert, wenn ein sogenannter Latenter Sex mit einem von euch hat?«
»Ja, nur ist ein Mal nicht genug«, sagte Reece. »Man muss mehrmals Sex mit einer Maja oder – wenn es sich um eine Frau handelt – mit einem Magus haben. Bei Männern manifestiert sich die Gabe als Vampirismus, während sie Frauen die Fähigkeit verleiht, die Energien des Mageverse zu nutzen, um Zauber zu bewirken. Vampire können das nicht. Unsere Magie funktioniert nur in unserem Körper, aber durch sie können wir unsere Gestalt verändern und so gut wie jede Verletzung heilen. Wie fehlende Beine wiederherstellen, beispielsweise.«
»Die Gestalt wandeln?« Foster lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück und starrte ihn an. »In was verwandeln? In Wölfe, Nebel und solche Dinge?«
»In Wölfe schon, aber nicht in Nebel. Es muss etwas Lebendiges sein, dessen Gestalt wir annehmen.«
»Okay, und was ist dieses Mageverse?« Der junge Vampir rieb sich die Schläfen, als bekäme er Kopfschmerzen. »Ihr redet in noch viel komplizierteren Begriffen als die Marines.«
»Das Mageverse ist eine Parallelwelt, die neben unserer eigenen existiert und in der die Gesetze der Physik Magie ermöglichen«, erklärte Reece. »Hier zum Beispiel sind wir auf der Mageverse-Erde, die den gleichen Platz im Universum einnimmt wie die reale Version der Erde. Man kann mithilfe von Zaubern zwischen den beiden Welten hin- und herwechseln …«
»Wäre es nicht einfacher, es ihm von Grim erklären zu lassen?«, unterbrach Lance. »Es ist verständlicher, wenn man die Illustrationen sieht.«
Champion seufzte und erhob sich. »Wahrscheinlich hast du recht. Komm, Antoine, ich stelle dich vor.«
Die beiden Männer verließen den Tisch, sodass Artus und Lance allein zurückblieben. Die Spannung zwischen ihnen verschärfte sich sofort und brodelte wie heißer Sirup.
»Machst du Fortschritte mit deinen Verführungsversuchen bei Grace Morgan?«, erkundigte sich Artus schließlich kühl.
Lance musterte ihn argwöhnisch. »Seit wann interessiert dich meine Arbeit für den Majae-Rat?« Der Rat der Majae traf die Beschlüsse, wer die Gabe empfing und wer nicht. Artus, als Vorsitzender des Magi-Rates der Vampire, kümmerte sich in erster Linie um die täglichen Arbeitsabläufe ihrer Mission, die Menschheit vor sich selbst zu retten. Normalerweise bestand sein einziges Interesse an Lance’ Arbeit in der Vermeidung von Konflikten zwischen dessen Aufgaben und denen der Mission. Über die generelle Vorgehensweise stimmten beide Räte gemeinsam ab.
Artus zuckte mit den Schultern. »Die Majae sind ziemlich durch den Wind. Anscheinend hatte eine von ihnen eine Vision, die sie beunruhigt hat. Sie sind überzeugt, dass etwas Schlimmes auf uns zukommt. Und aus irgendeinem Grund glauben sie alle, dass wir Morganas Enkeltochter brauchen, um aufzuhalten, was auch immer kommen mag.«
Lance schnaubte und schenkte sich ein Glas aus der Flasche ein. »Es kommt immer irgendetwas Schlimmes. Seit sechzehnhundert Jahren versuchen wir, die menschliche Rasse davon abzuhalten, Massenselbstmord zu begehen, und die Menschen werden darin nur noch einfallsreicher.« Er ließ das dickflüssige, dunkelrote Blut in seinem Glas kreisen und genoss die Vorfreude auf den nächsten Schluck. Als er das Weinglas schließlich an die Lippen hob, brannte die Flüssigkeit feurig und berauschend auf seiner Zunge. Er stieß einen anerkennenden Seufzer aus. »Köstlich. Wer hat es gespendet?«
Artus schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. »Du meinst, du erkennst den Geschmack nicht?«
Lance versteifte sich. »Im Gegensatz zu dem, was alle glauben, habe ich längst nicht jede Maja im Mageverse gehabt.«
»Nur die, die zählen.«
Mit übertriebener Vorsicht stellte Lance sein Glas zurück. »So oft, wie wir darüber gesprochen haben, sollte man meinen, du hättest es dir inzwischen gemerkt.«
»Natürlich. Ich kann es nur noch nicht so richtig glauben.«
»Es war ein Mal, Artus. Nur ein einziges Mal. Vor sechzehnhundert Jahren.«
»Genau das ist es, was es so erstaunlich macht.«
»Ich hätte Guinevere nicht gleichgültiger sein können, und das weißt du ganz genau. Sie wollte dich nur zwingen, den Treuebund mit ihr einzugehen.« Ursprünglich hatte der Hochkönig es abgelehnt, sich auf eine dieser neuen telepathischen Beziehungen einzulassen, weil er der Meinung war, dass seine Frau auch so schon genug Macht über ihn besaß. Um Artus zum Handeln zu zwingen, hatte Guinevere Lance verführt. Und Lance, dessen Vampirnatur damals noch neu für ihn war, hatte der Frau, die er liebte, nicht widerstehen können. Er war verdammt naiv gewesen. »Ich bedeutete ihr damals nichts, und ich bedeute ihr auch heute nichts … Oh, verdammt, warum erzähle ich dir das eigentlich?«, rief Lance und schwenkte angewidert die Hände. »Du bist mit ihr im Treuebund vereint. Du hast an ihre Seele gerührt und bist geistig mit ihr verbunden, in einer Vereinigung, die niemand brechen kann. Du weißt also ganz genau, was zwischen uns geschehen ist.«
Artus bleckte die Zähne. »Oh, ja. Bis ins kleinste Detail.«
»Ich habe dich schon so oft um Verzeihung gebeten, dass ich den Überblick verloren habe. Was zum Teufel willst du sonst noch?« Lance sprang auf, als sein Ärger mit ihm durchging. »Mich zum Kampf herausfordern? Gut, dann werde ich kämpfen. Ich werde mich sogar von dir töten lassen. Das wäre es mir wert, um nicht mehr von dir genervt zu werden.«
Artus starrte mit ausdrucksloser Miene zu ihm auf. »Aber wenn ich dich töte, wer wird dann Grace Morgans Gabe wachrufen?« Ein kleines, kaltes Lächeln umspielte seine Lippen. »Immerhin gibt niemand eine so gute … wie war das Wort noch? Ach, ja, … Edelnutte ab.«
Statt seinen Lehnsherrn zum Duell zu fordern, stieß Lance nur die Faust in die Luft und schlug in einer Geste, die er vor Jahren in Italien gelernt hatte, mit der anderen Hand auf seinen Oberarm. Ohne Artus’ Erstaunen über diesen Ausraster zu beachten, drehte er sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. Auf dem Weg hinaus kam er an Reece Champion und Foster vorbei, die vor dem dicken, hochempfindlichen Wälzer standen, der Merlins Grimoire oder Zauberbuch war. Das Bild eines Mannes und einer Frau, die beide kaum älter als siebzehn zu sein schienen, schwebte über den Seiten.
»Das sind Merlin und Nimue?«, fragte Foster, während er schockiert das dreidimensionale Bild anstarrte. »Und sie waren Außerirdische von einem anderen Planeten?«
»Aus einer anderen Welt im Mageverse«, antwortete das Buch. »Oh, da ist ja Lancelot – hast du Grace Morgan schon verführt?«
Lance schnaubte nur statt einer Antwort und ging weiter.
»Hey, ist er nicht derjenige, der Artus’ Frau vernascht hat?«, hörte Lance Foster flüstern, bevor er die Tür zuschlug.
Lance hatte Morganas neues Chateau nie gemocht. Sie hatte es vor vierhundert Jahren aus Mageverse-Energien geschaffen, und er hatte sich nie daran gewöhnen können. Ihr früheres Haus war im Stil einer römischen Villa erbaut gewesen, deren kühle, elegante Mosaiken und Fresken eine willkommene Erinnerung waren an eine Zeit, in der sie alle noch menschlich gewesen waren. Dieses neue Haus dagegen war mit Kunstwerken gefüllt, die sie während der italienischen Renaissance in Auftrag gegeben hatte, und mit handgewebten Teppichen, Tapisserien und pompösen französischen Antiquitäten eingerichtet. Auf dem Weg durch die gewölbeartigen Räume sah Lance keinen einzigen Sessel, der so aussah, als könnte er sein Gewicht aushalten.
Nicht, dass das Dekor Lance auch nur im Geringsten interessierte, solange er bei jedem Atemzug den berauschenden Duft der Maja atmete. Er kämpfte gegen die Lust an, die mit jedem Atemzug in ihm aufstieg, und verfluchte im Stillen seinen nicht zu bändigenden Trieb. Nur ein Narr ging mit einer Erektion zu Morgana Le Fay. Wie Guinevere würde sie nicht zögern, ihn damit zu manipulieren. Und was das anging, hatte er seine Lektion gelernt.
Er war nicht überrascht, als ihre jüngste Duftspur ihn über einen mit Marmoreinlegearbeiten versehenen Korridor zu ihrem Schlafzimmer führte. Wahrscheinlich ruhte sie auf ihrem samtenen Himmelbett und trug nichts als ihr endlos langes Haar und ein herauforderndes Lächeln im Gesicht. Morgana liebte sofortige Ergebnisse und neigte dazu, ihn zu bestrafen und zu ärgern, wenn sie sie nicht bekam.
Erstaunlicherweise war das Schlafzimmer diesmal leer. Als Lance durch die Glastüren blickte, entdeckte er Morgana auf dem Balkon, von dem aus das wahre Gesicht Avalons in seiner ganzen Pracht zu sehen war. So weit das Auge reichte, standen italienische Villen neben französischen Chateaus oder spanischen Castillos, alle aus puren außerirdischen Energien erbaut, die im Licht des Mageverse-Mondes schimmerten. Magi von überall auf dem Planeten lebten hier, alle durch ein großes Ziel vereint: die Menschheit vor sich selbst zu retten. Als Vorsitzende des Majae-Rates war Morgana eine der mächtigsten von allen. Und eine der kapriziösesten.
Nach einem tiefen Atemzug trat Lance zu ihr auf den Balkon hinaus. Wie erwartet, war sie nur leicht bekleidet, mit einem langen, seidenen Nachtgewand, das wie ein schimmernder Nebel über ihren eindrucksvollen Kurven lag und dessen tiefer Ausschnitt auf verführerische Weise ihr Dekolleté und ihren langen Schwanenhals umrahmte. Sie roch nach Sex und Blut und diesem undefinierbaren Etwas, das nur Majae an sich hatten. Der drängende Hunger, der Lance quälte, verschärfte sich zu hemmungsloser Begierde, die sein Glied und seine Zähne auf beinah schmerzhafte Weise verlängerten. Doch während sein Körper reagierte, stellte er fest, dass irgendetwas in seinem Kopf erstaunlich unbeteiligt blieb.
Das gleiche Etwas, das mit solch verblüffendem Eifer auf Grace reagiert hatte.
Bevor Lance sich dem Gedanken näher widmen konnte, drehte Morgana sich um und schenkte ihm ihr bestes »Hinschauen darfst du, aber anfassen ist verboten«-Lächeln und lehnte sich absichtlich so gegen das Geländer, dass ihre Brüste aus dem engen Oberteil zu rutschen drohten. »Warum bist du nicht dabei, meine Enkelin zu verführen?«
»Weil ich mich um meine eigene kümmern musste«, sagte er und lehnte sich nun selbst in einer Pose, die die Breite seiner Schultern unterstrich, an das Geländer. Die Hexe war nicht die Einzige, die das Spiel beherrschte. »Ist dir klar, dass Grace die Gabe überhaupt nicht will?«
»Wenn es anders wäre, hätte ich auch einen x-beliebigen Magus mit einem Phallus schicken können.« Da Morgana nun einmal Morgana war, lächelte sie vielsagend bei ihren letzten Worten, und ihre Lider senkten sich über grüne Augen, die im Mondlicht glühten wie die einer Katze. »Erzähl mir nicht, sie hätte den gefragtesten Hengst des Obersten Gerichts zurückgewiesen?«
»Ich bin auch der gefragteste Killer des Obersten Gerichts, was ihr Widerstreben erklären könnte. Besonders, da sie mich schon einmal in Aktion gesehen hat.« Er hasste es, die Furcht, die an ihm nagte, einer Frau zu offenbaren, die sie mit Vergnügen gegen ihn benutzen würde, aber Morgana war die Einzige, die ihm die Antworten geben konnte, die er brauchte. »Hat Grace Angst vor mir?«
Der wie Amors Bogen geformte Mund der Hexe verzog sich zu dem erfreuten Lächeln, das bedeutete, dass sie gerade eine Schwäche entdeckt hatte. »Du meinst, weil du der armen, verrückten Clarice damals vor Grace’ leicht beeinflussbaren sechzehnjährigen Augen das Genick gebrochen hast?«
»Ja«, antwortete er, um einen Ton bemüht, als wäre die Antwort nicht so wichtig.
Morgana zog eine perlmuttfarbene Schulter hoch. »Nein. Grace verehrt dich, mein schöner Hengst, obwohl sie eher Glas essen würde, als es zuzugeben. Du hast deine Geliebte getötet, um Grace das Leben zu retten. Das beeindruckt ein so junges Mädchen.«
Er entspannte sich ein wenig. »Aber warum ist sie dann so ablehnend?«
Morgana blickte über die sanft glühende Landschaft hinaus. »Weil ich ihrer Mutter die Gabe verweigert habe und Grace mir deswegen die Schuld an ihrem Tod gibt. Ungeachtet dessen, dass Jenae sogar noch weniger geeignet war, eine Maja zu werden, als Clarice.«
Lance verzog das Gesicht. »Dann verstehe ich, warum sie heute nicht begeistert über diese Chance ist.« Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild von Grace als jungem Mädchen, kreidebleich und zitternd nach ihrem Zusammenstoß mit Clarice und deren von der Gabe zerstörtem Geist. »Zumal sie weiß, was das Mageverse jemandem antun kann, der nicht stark genug ist, damit umzugehen.«
»Das wird kein Problem für Grace sein. Sie besitzt genügend Kraft und Selbstkontrolle, um nicht davon überrollt zu werden. Und ihr Potenzial ist atemberaubend.« Wieder mit diesem verführerischen Lächeln im Gesicht, trat Morgana dicht genug an ihn heran, um ihre kleine, kühle Hand um sein Geschlecht zu legen. »Du brauchst nur deinen beeindruckenden … Charme spielen zu lassen, bis du ihre Gabe wachgerufen hast.«
Lance versuchte, ganz entspannt und ruhig zu bleiben, obwohl er darauf brannte, Morgana in die Arme zu nehmen, seine Fänge in die zarte weiße Haut an ihrem Hals zu schlagen und seine Erektion an ihrem warmen, einladenden Schoß zu reiben. Entweder das – oder sich auf die andere Seite des Balkons zu flüchten.
Da beides ihr jedoch nur zeigen würde, wie viel Macht sie über ihn besaß, blieb Lance, wo er war, setzte eine gelangweilte Miene auf und hielt die Lippen fest geschlossen. Was natürlich reine Zeitverschwendung war, da Morgana wahrscheinlich wusste, dass seine Fänge sich ebenso schnell verlängerten wie sein pochendes Glied unter ihrer Hand.
»Mmm.« Sie senkte die Lider und schloss die Hand noch ein wenig fester um ihn. »Wie lange ist es her, seit du Maja-Blut getrunken hast, Sir Lancelot?«
Ihr Wahrheitszauber schoss aus ihren schlanken Fingern und drang wie glühende Pfeile in seinen Körper ein. »Zweiundzwanzig Tage«, entfuhr es ihm, weil er außerstande war, ihr den Gehorsam zu verweigern. Der Entzug von Sex war ein beliebter Trick der Majae, um das Gleichgewicht der Macht zu ihren Gunsten zu erhalten.
Morganas rote Lippen verzogen sich zu einem Ausdruck gespielten Mitgefühls. »So lange? Du musst ja völlig ausgehungert sein, du Armer.« Doch damit trat sie von ihm zurück, und Lance hütete sich, sie zu sich zurückzuziehen. »Aber Grace wird deine Bedürfnisse sicherlich sehr gut erfüllen.«
»Irgendwie bezweifle ich, dass sie so leicht herumzukriegen sein wird.«
»Es ist deine Aufgabe, sie dazu zu bringen. Latente sind von Natur aus heißblütig. Wenn du sie erst einmal im Bett hast, kannst du sie mit diesem Prachtstück zwischen deinen Beinen dazu bringen, den Überblick zu verlieren, wie oft du sie genommen hast. Sie wird eine von uns sein, bevor sie sich dir entziehen kann.«
»Und wenn sie besser rechnen kann, als du erwartest?«
Etwas Hässliches regte sich in Morganas schönen grünen Augen. »Du wirst kein Nein als Antwort gelten lassen.«
Lance versteifte sich. »Ich bin kein Vergewaltiger.«
Nun fiel die verführerische Maske ganz und enthüllte die kalte Entschlossenheit dahinter. »Wir brauchen dieses Mädchen, Lancelot. Es kommt etwas auf uns zu, etwas Verhängnisvolles. Um es bezwingen zu können, brauchen wir Grace.« Ihre Augen verloren jede Schönheit. »Und solltest du mich enttäuschen, werde ich dafür sorgen, dass du dem Rest der Tafelrunde Rechenschaft ablegen wirst.«
Lance wandte das Gesicht ab, um sein Erschrecken zu verbergen. Mehr als einmal hatte der Majae-Rat den verbliebenen zwölf Rittern der Tafelrunde – zu denen auch Lance gehörte – befohlen, fehlgeleitete Vampire zu bestrafen. Mit verzauberten Schwertern bewaffnet, die Wunden beibringen konnten, die nicht einmal ein Magus zu heilen vermochte, konnten sie einen Mann in kürzester Zeit niedermetzeln. Auf sich allein gestellt, hätte nicht einmal Lance eine Chance gegen sie.
Doch man ließ sich vor Morgana Le Fay keine Furcht anmerken. »Der Rest der Tafelrunde kann Vergewaltigung genauso wenig abgewinnen wie ich selbst.«
»Aber mein Bruder will schon seit langer Zeit ein Stück von dir – am liebsten deinen Kopf. Und ich glaube, dass es Artus gleichgültig wäre, wie er ihn bekommt.«
Die Wahrheit dieser Feststellung versetzte Lance einen schmerzlichen Stich, den er jedoch, so gut er konnte, ignorierte. »Du unterschätzt ihn, Morgana.«
»Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht.« Sie lächelte ein wenig. »Das Problem mit einem Treuebund ist, dass er keinen Raum für hübsche Illusionen lässt. Und Artus weiß genau, wie Guinevere für dich empfindet.«
Lance schnaubte. »Treib kein falsches Spiel mit mir, Morgana! Guinevere ist wie du – eiskalt und ehrgeizig bis in die Knochen. Ich war nicht mehr für sie als eine Möglichkeit, den Treuebund von Artus zu erzwingen.«
»Vielleicht.« Sie trat wieder näher und blickte Lance mit einem so frostigen Lächeln in die Augen, dass er Mühe hatte, nicht davor zurückzuweichen. »Aber möglicherweise hat Artus ja auch Angst, du könntest Guineveres Eis zum Schmelzen bringen. Falls du also allen ihre angenehmen Illusionen bewahren willst, schlage ich vor, dass du dein Möglichstes versuchst, um Grace ins Bett zu bekommen und sie nicht eher wieder herauszulassen, bis du ihre Gabe erweckt hast.«
Grace hielt vor dem weiß getünchten, zweistöckigen viktorianischen Haus, das sie seit fünf Jahren ihr Zuhause nannte. Die Abendluft war kühl, aber ihr war immer noch viel zu warm unter der schusssicheren Weste, die sie die ganze Nacht getragen hatte, und ihre Hüften schmerzten von dem Gewicht ihres Gürtels mit der Ausrüstung. Sie wollte nur noch in eine Wanne mit heißem Wasser steigen und sich mindestens eine Stunde lang darin entspannen.
Sie erkannte jedoch sofort, dass ihr Wunsch sich nicht erfüllen würde, als sie die Haustür öffnete und den Geruch von bratendem Fleisch bemerkte. Irgendetwas zischte in der Küche. Und obwohl Grace schon zu wissen glaubte, wer der »kulinarische« Einbrecher war, zog sie die Waffe, bevor sie auf die Küche zuging.
Lance blickte von dem Glas Champagner auf, das er gerade einschenkte, als sie mit ihrer Smith & Wesson auf die Stelle zwischen seinen Augen zielte. Er trug nur eine schwarze Hose und einen lose zusammengebundenen Morgenmantel. Zwischen den samtenen Aufschlägen des Kleidungsstücks war ein Streifen seiner braun gebrannten, muskulösen Brust zu sehen.
»Sieh mal einer an«, sagte sie und schaffte es trotz des verführerischen Anblicks, ihrer Stimme einen scharfen Tonfall zu verleihen. »Da steht ein halb nackter Vampir in meinem Haus. Vielleicht sollte ich ihn erschießen.«
Ein leises Lächeln huschte über Lance’ Lippen. »Ich fand schon immer, dass eine Frau mit einer Waffe etwas Erotisches hat.«
»Falls in dieser abartigen kleinen Fantasie auch eine Reitpeitsche vorkommt, will ich nichts darüber hören.« Mit einem ärgerlichen Schnauben steckte sie die Waffe wieder ein. Sie hätte wissen müssen, dass sie Lancelot du Lac nicht täuschen konnte. »Wie geht es Mrs. Lacey?«
»Sie ist sauber, wird gut ernährt und gewöhnt sich prima ein.« Er kam um die Kücheninsel herumgeschlendert und reichte Grace ein Glas Champagner. »Ich habe nach ihr gesehen, bevor ich heute Abend herkam. Auch Galahad war zu einem Besuch vorbeigekommen. Sie strahlte richtig.«
»Wie edel von ihm!«, sagte Grace und kräuselte die Lippen. »Ein Jammer nur, dass sie all diese Jahre in bitterer Armut leben musste, bevor er sich dazu herabließ, ihr ein bisschen Aufmerksamkeit zu widmen.«
»Wenn man so viele Kinder gezeugt hat wie wir in über sechzehnhundert Jahren, verliert man leicht den Überblick«, erwiderte Lance milde und griff nach seinem Glas.
»Weißt du, neulich hat mir ein Crackdealer genau das Gleiche gesagt. Bis auf die Sache mit den sechzehnhundert Jahren selbstverständlich.« Sie trank einen Schluck von dem Champagner und war nicht überrascht herauszufinden, dass es ein Dom Perignon war. Die Tafelrunde hatte teure Vorlieben. »Er war sehr stolz darauf, dass er all seinen Kindern ein Mal im Jahr Schuhe kaufte.« Grace machte eine Kunstpause. »Wenn ich es mir recht überlege, ist er euch allen damit sogar einen Punkt voraus.«
»Touché.« Eine unmerkliche Bewegung löste die Schleife seines Gürtels, und der Morgenmantel klaffte auf und enthüllte noch mehr von Lance’ atemberaubendem Oberkörper. Die ausgeprägten Brust- und Bauchmuskeln dort sahen aus, als hätte Gott persönlich sie geformt. Das junge Mädchen irgendwo in Grace, das seinen gut aussehenden Retter angehimmelt hatte, brannte darauf, seine Hände über diese Brust gleiten zu lassen.
Verdammt, dachte Grace. Wenn ich für jeden Traum, der so begonnen hat, einen Dollar bekommen hätte, wäre ich eine reiche Frau. Lord Lancelot, mit nackter Brust und auf Verführung aus …
Leider war er mehr interessiert daran, Morganas schmutzige Pläne zu verwirklichen, als Grace’ Teenagerträume Wirklichkeit werden zu lassen. Unwillkürlich schloss sie die Hand noch fester um das Glas und trank einen weiteren Schluck daraus. »Hübsches Sixpack. Du wirst sehr beliebt sein im Gefängnis. Für Einbruch ersten Grades kann man bis zu zwanzig Jahre kriegen in diesem Staat.«
Träge senkten sich Lance’ Lider, und Grace fiel wieder einmal auf, dass seine Augen die Farbe warmen Sherrys hatten. »Ich kann schon deine Aussage hören … ›Euer Ehren, er hat sich Zutritt zu meinem Haus verschafft und Filet Mignon und Artischockenherzen für mich zubereitet.‹ Die Schlagzeilen werden ein bisschen komisch aussehen, meinst du nicht?«
»Nicht so komisch wie die, nachdem du beim Herumkauen an irgendeinem schmierigen Mitgefangenen im Knast erwischt wurdest.«
Er schaffte es, auf eine Art zu lachen, die verführerischer war als die Nacktheit eines anderen Mannes. »Ich würde nie einen Knast von innen sehen, und das weißt du auch. Unsere Anwälte würden O. J. Simpsons Dreamteam wie drittklassige Pflichtverteidiger dastehen lassen.« Seine Augen glitzerten, als er näher trat, und ein mutwilliges Grinsen umspielte plötzlich seinen schön geschnittenen Mund. »Aber wenn du mir trotzdem Handschellen anlegen willst, nur zu.«
Mit Vergnügen, wisperte eine aufgeregte kleine Stimme in Grace, als ihr Blick wieder zu dieser wie gemeißelten Brust hinunterwanderte. Bewundernd betrachtete sie das feine dunkle Haar darauf, das sich auf seinem flachen Bauch zu einem schmalen Streifen verjüngte, bevor es unter seinem Hosenbund verschwand. Grace schluckte, als sie dieser verführerischen dunklen Linie folgte und sie die Wölbung unter seiner Hose sah. Er hatte eine Erektion. Eine äußerst eindrucksvolle Erektion. Groß und hart und … vielversprechend.
Der Anblick erinnerte sie daran, wie lange es her war, seit sie mit einem Mann im Bett gewesen war. Und wie unbefriedigend sie es gefunden hatte. Lance dagegen würde dafür sorgen, dass sie mehr als nur zufrieden war.
Am liebsten hätte sie ihn geschlagen.
Er wusste natürlich von ihrer pubertären Schwärmerei. Lance war nett und väterlich zu ihr gewesen, als sie sechzehn gewesen war, aber sie vermutete, dass er sich heute diese alte Verliebtheit rücksichtslos zunutze machen würde. Und Grace wagte nicht, es zuzulassen. Dieser Mann war wie eine menschliche Crackpfeife: ein Kuss, eine Berührung, ein einziges Mal nur Sex mit ihm, und sie würde nicht mehr aufhören können, bis es zu spät war. Sie trug Merlins Gabe in ihren Genen, und zuzulassen, dass Lance zu viele Male in ihr kam, würde diese Magie entfachen.
Den Unwissenden erschien »die Gabe« natürlich wie ein großartiges Geschenkpaket: Unsterblichkeit, die Fähigkeit, Mageverse-Energien zu benutzen, von deren Existenz moderne Physiker nicht einmal etwas wussten, und erst ganz zu schweigen von dem geheimen, romantischen Kampf, die Menschheit vor sich selbst zu retten. Die Gabe brachte allerdings auch das erhöhte Risiko eines Schlaganfalls mit sich, da die Majae genetisch darauf programmiert waren, mehr Blut zu erzeugen, als sie benötigten, um den Bedürfnissen der Vampire entgegenzukommen. Um ihre Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen, mussten die Majae das überschüssige Blut entweder spenden oder einem Magus erlauben, es sich zu nehmen. Da Magi sich jedoch vorzugsweise bei atemberaubendem Sex des Blutes ihrer Partnerinnen bedienten, war das nicht gerade eine Unannehmlichkeit.
Doch leider war all das mit einem sehr hohen Preis verbunden, den zu zahlen Grace nicht bereit war, da sie nicht glaubte, dass ihr Verstand alldem gewachsen war und sie nicht wie Clarice enden wollte.
Lance war noch näher getreten, blickte zu ihr herab und hüllte sie mit Muskeln, Kraft und dieser eigenartigen Hitze ein, die Magi immer auszustrahlen schienen. Seine Augen waren auf ihren Mund gerichtet, und sein seltsam starrer Blick ließ Grace an Wölfe, animalischen Hunger und alles verzehrende Begierde denken. Und tatsächlich sah sie schon die Spitzen seiner langen Fänge, als sich seine Lippen teilten.
Zu ihrem Ärger richteten ihre Brustspitzen sich automatisch auf.
Ich muss ihm sagen, dass er verschwinden soll! Jeder Frau würde es schwerfallen, einen Mann wie Lancelot abzuweisen, aber die Abkömmlinge der Magi und Majae waren ganz besonders anfällig für ihren Trieb. Deshalb war es Grace unmöglich, die instinktive Reaktion ihres Körpers auf die exotischen Pheromone, die Lance abgab, zu unterdrücken. Sie konnte jetzt schon spüren, wie heiß und bereit sie für ihn wurde.
Und zu allem Übel war Lance nicht nur irgendein Magus, sondern zudem auch noch ein Ritter der Tafelrunde. Der Ritter der Tafelrunde – Lord Lancelot du Lac, Vampir, Auftragsmörder und Verführer des Obersten Gerichts. Es war Lance, der ausgesandt wurde, wenn ein Mann getötet oder eine Frau mit der Gabe ausgezeichnet werden sollte. Und Grace’ Großmutter Morgana, eine der Vorsitzenden des Gerichts, wollte unbedingt, dass ihre Enkelin die Gabe erhielt.
Bei dem Gedanken versteifte sich Grace. »Verschwinde und lass mich in Ruhe, Lance!«
Lance fluchte innerlich. Er konnte Grace’ Hitze und den moschusartigen Duft ihrer Erregung in der Luft wahrnehmen, denn trotz ihres Widerstandes reagierte ihr Körper auf ihn. Unter ihrem Uniformhemd und dem schlichten, praktischen BH versteiften sich die Spitzen ihrer Brüste und sehnten sich nach seinen Händen, seinen Fingern, seinem Mund und seiner Zunge. Ihr Puls pochte heftig unter der dünnen, zarten Haut ihres schlanken Halses und wartete auf Lance’ Biss. In ihrem noch latenten Zustand würde sie so köstlich und berauschend schmecken wie der Traum eines jeden Vampirs. Das junge Mädchen, das er einst bemitleidet und gern gehabt hatte, war zu einem üppigen, verschwenderischen »Festbankett« herangewachsen, nicht nur für seinen ausgehungerten Körper, sondern auch für dieses Etwas in ihm, das sogar noch weitaus hungriger war. Und er dachte nicht daran, sich abweisen zu lassen.
Ungeachtet dessen, dass Morgana ihm sogar ihren Segen dazu gegeben hatte, würde er allerdings natürlich nie Gewalt anwenden – allein der Gedanke, Grace zu einem Opfer zu machen, verursachte ihm Übelkeit. Zum Glück würde das auch gar nicht nötig sein. Grace hatte eine Schwäche, die sie von den meisten Majae unterschied: Sie begehrte ihn mehr, als sie die Macht begehrte. Und sie würde ihn sogar noch mehr begehren, bevor er mit ihr fertig war.
»Du willst doch gar nicht, dass ich gehe«, sagte er und verlieh seiner Stimme ganz bewusst den weichen, samtenen Ton, der niemals seinen Zweck verfehlte.
Grace war jedoch nicht eine seiner üblichen Kandidatinnen für die Gabe. Ihre kristallinblauen Augen glitzerten vor Ärger. »Oh, doch, das will ich! Also mach, dass du rauskommst, Lance!«
Zum Glück begann ihr Magen jedoch ausgerechnet in diesem Augenblick zu knurren. Lance grinste innerlich. Er ignorierte den Hinauswurf und trat noch näher, um ihre Sinne mit seinem maskulinen Duft zu überfluten. »Mir scheint aber, als hätte dein Körper andere Ideen. Außerdem habe ich mir solche Mühe gegeben mit dieser wunderbaren Mahlzeit.« Deren Dessert du bist, fügte er in Gedanken hinzu. »Willst du mich nicht wenigstens zusehen lassen, wie du sie genießt?«
Grace funkelte ihn an. »Du scheinst mich irrigerweise für eine höfliche Person zu halten.«
Diesmal konnte er sich das Lachen nicht verkneifen. »Und du legst offenbar großen Wert darauf, nicht nach den üblichen Regeln zu spielen, was?« Um zu sehen, ob ihr Verlangen stärker war als ihr Ärger, riskierte er es, eine Hand nach ihrer Wange auszustrecken. Grace’ Haut war so warm und weich unter seinen Fingern, dass er es kaum erwarten konnte, ihre Brüste zu berühren. »Ich frage mich, ob das der Grund dafür sein mag, dass du so gern gefährlich lebst?« Der weiche, samtene Tonfall seiner Stimme glitt in ein raues Flüstern ab. »Kann es sein, dass es dich reizt, Risiken einzugehen? Zu sehen, wie weit du gehen kannst, bevor du fällst?«
»Das klingt, als sprächest du aus Erfahrung.«
Da sie seine Hand nicht weggeschoben hatte, legte er seine Finger um ihren schlanken Nacken. »Nun ja … jetzt, da du es erwähnst, muss ich zugeben, dass ich das eine oder andere Mal gestolpert bin.« Er senkte den Kopf noch tiefer, um ihren Duft aufzunehmen, diesen süßen, verführerischen, moschusartigen Duft einer Frau seines Geschlechts. »Und ehrlich gesagt, macht es mir manchmal sogar großen Spaß zu fallen.« Er stand jetzt so nah bei ihr, dass sie sein erigiertes Glied zwischen seinen Schenkeln spüren konnte. »Was meinst du, Grace? Willst du mit mir fallen?«