3. Kapitel
Jenny kniete auf dem Boden und konnte nur mit Mühe einen erfreuten Aufschrei unterdrücken. Vor ihr war klar und deutlich ein Fußabdruck in der feuchten Erde zu erkennen. Er ist zu groß und zu länglich, um von einem Tier zu stammen, überlegte sie. Das Wesen war demnach kein Wolf gewesen, als es diesen Abdruck hinterlassen hatte, aber auch kein Mensch. Sie fragte sich, ob er vielleicht auch von einem Bär stammen könnte, doch dann wäre er runder und nicht so lang. Oder von einem Gorilla – doch es gab keine Gorillas hier in den Bayous. Jedenfalls wusste sie von keinen. Sie würde im Internet nachsehen, um sicher sein zu können, und bis dahin keine voreiligen Schlüsse ziehen – auch wenn es angesichts einer solchen Entdeckung gar nicht leicht war, ihre wissenschaftliche Skepsis aufrechtzuerhalten.
Denn dieser Fußabdruck könnte eine ungeheuer wichtige Entdeckung sein.
Jenny legte den Rucksack ab, öffnete ihn und nahm verschiedene Gegenstände heraus. Zunächst vermischte sie Gipspulver mit Wasser aus einer Flasche, bis es die richtige Konsistenz hatte, und dann entfernte sie vorsichtig Grashalme, Laub und Steinchen aus dem Fußabdruck. Schließlich goss sie ihn mit Gips aus und trat zurück, um abzuwarten, dass sich der Gips erhärtete.
Während des Wartens blickte sie sich um. Sie stand in einem bewaldeten Gebiet in einiger Entfernung von der Straße. Nachdem sie anfangs in die Richtung gegangen war, aus der das Wesen ihrer Erinnerung nach erschienen war, hatte sie einen Halbkreis um die Stelle geschlagen, wo sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Dann hatte sie nach und nach den Suchbereich erweitert und die Bäume und den Boden nach Anzeichen irgendwelcher Tiere abgesucht. Und sie hatte auch einige gefunden. Die Feder eines Raben, die Spuren eines Wildschweins, vermutlich desselben, dem sie in der Nacht zuvor begegnet war, ein paar borstige Haare, die in einer Baumrinde steckten, an der sich offenbar das Schwein gekratzt hatte. Und in der Nähe der Stelle, wo der Sumpf begann, hatte sie eine lang gezogene, matschige Spur entdeckt, die wahrscheinlich von einem Alligator stammte.
Und schließlich den Fußabdruck.
Dort kniete sie sich nun hin, um den Gips zu überprüfen. Er war noch längst nicht hart genug.
Das Motorengeräusch eines Autos ließ sie aufblicken, und verärgert runzelte sie die Stirn, als sie nach der Quelle des Geräusches suchte. Es kam nicht von der Straße, die hinter ihr lag, sondern von irgendwo vor ihr. Gab es noch eine andere Straße, die an diesem Sumpfgebiet und Wald vorbeiführte?
Während sie noch angestrengt lauschte, verstummte das Motorengeräusch, und eine Tür schlug zu.
Irgendjemand war da draußen. Schnell sammelte Jenny ein paar großblättrige Pflanzen und verbarg ihren Gipsabdruck darunter; dann hängte sie sich den Rucksack über die Schulter und ging tiefer in den Wald hinein. Fünfzig Meter, sechzig Meter, und gerade als sie schon dachte, dass sie nichts finden würde, sah sie es: ein lang gestrecktes Blockhaus, das nahezu perfekt getarnt war durch die umstehenden Bäume.
Stirnrunzelnd ging sie weiter und spähte zwischen den Bäumen hindurch, bis sie einen guten Blick auf das kleine Haus erlangte. Es war hübsch mit seinem steinernen Schornstein und den grün gestrichenen Fensterläden mit halbmondförmigen Ausschnitten darin. Auch die Tür hatte einen grünen Anstrich, ein dunkles Tannengrün, das wunderbar mit der üppigen Vegetation um das Haus herum verschmolz.
Der Wagen in der Einfahrt war ihr nicht unbekannt – es war der dunkelbraune Jeep, den sie an diesem Morgen beim Verlassen der Arztpraxis gesehen hatte. Mit zusammengezogenen Brauen vergewisserte sie sich, dass es dasselbe Kennzeichen war, und bemerkte auch den Aufkleber mit dem Arztzeichen am Fenster.
»Wollten Sie zu mir?«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.
Sie erschreckte Jenny so sehr, dass sie fast aus der Haut fuhr, als sie sich umdrehte.
Ohne auch nur den Anflug eines Lächelns im Gesicht stand der Arzt da und sah sie an. »Was tun Sie hier, Professor Rose?«
Ärgerlich stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte. »Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«
»Tja, das kann passieren, wenn man sich beim Herumschnüffeln auf Privatbesitz erwischen lässt.«
»Ich habe nicht herumgeschnüffelt! Ich war bei der Arbeit. Und was führt Sie überhaupt hier heraus? Ein Hausbesuch?«
Langsam, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden, schüttelte er den Kopf. »Ich bin zum Mittagessen heimgekommen. Das tue ich hin und wieder.«
Jenny befeuchtete die Lippen und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. »Sie … wohnen hier?«
»Und Sie nicht. Also muss ich noch mal fragen, was sie hier auf meinem Grundstück suchen?«
Er wirkte erstaunlich verstimmt für jemanden, der vorher so offensichtlich interessiert an ihr gewesen war. Jenny konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Hören Sie, ich wusste nicht, dass dies Privatbesitz ist. Hier stehen nirgendwo Schilder …«
Er streckte nur wortlos eine Hand aus, und als sie in diese Richtung blickte, sah sie ein Betreten verboten-Schild an einem nahen Baum.
»Okay, dann habe ich eben nicht auf Hinweisschilder geachtet, denn sonst hätte ich dieses bestimmt gesehen.«
»Und was suchen Sie dann hier?«
Jenny antwortete nicht.
»Den loup garou?« Der beißende Sarkasmus, den er in das Wort legte, entging ihr nicht. »Sie erscheinen nur bei Nacht, Professor Rose. Aber man sollte meinen, eine Frau mit Ihren Fachkenntnissen wüsste das.«
»Das behauptet die Legende, Doktor. Doch ich nehme nichts als gegeben hin, solange ich nicht den Beweis dafür gefunden habe.«
Er nickte langsam. »Dann ist es also das, was Sie hier draußen suchen? Beweise?« Er verengte die Augen. »Oder hatten Sie gestern Nacht etwa hier … Ihre Begegnung?«
»Nicht weit von hier«, erwiderte sie. »Da draußen auf der Straße.«
»Verstehe.«
Jenny holte tief Luft und seufzte dann. »Ich habe Sie ganz schön verärgert, was? Tut mir wirklich leid, dass ich einfach so hier eingedrungen bin, Doktor …« Sie durchforstete ihre Erinnerung nach seinem Familiennamen. Sie war sicher, ihn heute Morgen irgendwo gelesen oder gehört zu haben, aber …
»La Roque«, sagte er.
»Richtig. Doktor La Roque. Wissen Sie, normalerweise ist es nicht meine Art, auf fremder Leute Grundstücken herumzustiefeln. Das ist es wirklich nicht. Ich bitte immer um Erlaubnis, bevor ich Privatbesitz betrete. Und das Gleiche verlange ich auch von meinen Studenten. Ich war heute wohl nur so … übereifrig, dass ich meine eigenen Verhaltensregeln vergessen habe.«
Er sah ihr prüfend ins Gesicht, als wöge er ihre Erklärung ab. Als er wieder sprach, sagte er das Letzte, was sie zu hören erwartet hatte. »Möchten Sie hereinkommen und mit mir zu Mittag essen?«
Aus irgendeinem Grund dachte sie an Rotkäppchen und den bösen Wolf. Zumindest hat er nicht gesagt, dass er mich zum Mittagessen verspeisen will, dachte sie grimmig. Eigentlich wollte sie nur zu ihrem Gipsabdruck zurück, der inzwischen hart genug sein müsste, aber dieser La Roque lebte hier und könnte etwas gesehen oder gehört haben, vor allem, falls die Kreatur tatsächlich diese Gegend frequentierte. Jenny konnte sich die Gelegenheit, den Arzt auszuhorchen, nicht entgehen lassen, und hatte das Gefühl, dass er das wusste.
Und nachdem er beschlossen hatte, ihre Entschuldigung zu akzeptieren, erschien nun auch wieder dieser Blick in seinen Augen. Dieser Ausdruck, der ihr Blut in Wallung brachte.
»Sehr gern«, antwortete sie schließlich. »Es überrascht mich nur, dass Sie mich einladen.«
»Das sollte es aber nicht. Oder haben Sie in meiner Praxis nicht bemerkt, dass ich Sie gern wiedersehen würde, solange Sie sich noch in der Stadt aufhalten?«
Jenny befeuchtete sich nervös die Lippen. »Ich … ja, das habe ich gemerkt.«
Er nickte nur und ging an ihr vorbei, um zu der Lichtung voranzugehen, auf der das Blockhaus stand. Jenny bemerkte, dass die lange Einfahrt hinter dem Haus eine Biegung machte und von dort wahrscheinlich bis zur Straße weiterführte. Im Gehen ließ sie den Blick über den Boden gleiten und strengte ihre Augen an, um vielleicht noch weitere ungewöhnliche Spuren zu entdecken, doch die Erde hier war hart und trocken, kein guter Untergrund für Fußabdrücke.
La Roque öffnete die dunkelgrüne Haustür und trat beiseite, um Jenny vorangehen zu lassen. Sie kam der unausgesprochenen Aufforderung nach, aber gleich hinter der Schwelle blieb sie stehen und sah sich in dem gemütlich eingerichteten Blockhaus um. Wohn- und Essbereich waren zu einem weitläufigen Raum verbunden, an dessen einem Ende sich ein steinerner Kamin befand. Der Raum war offen bis unter das spitze Dach, das von zahlreichen dicken Holzbalken getragen wurde. Die Hälfte des oberen Teils nahm eine Galerie ein, deren Boden das Dach der kleinen Küche bildete.
»Das ist eine sehr schöne Blockhütte.«
»Mir gefällt sie.«
»Und Sie leben hier völlig abgeschieden und ungestört.«
»Das ist es, was mir am besten daran gefällt.« Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und begann, Lebensmittel herauszunehmen. »Was halten Sie von einem Schinken-Sandwich? Wäre das okay für Sie?«
»Ja, solange Sie den Schinken weglassen.«
»Was?« Er drehte sich verwundert nach ihr um.
»Ich bin Vegetarierin.«
Sein anfängliches Erstaunen machte schließlich einem Lächeln Platz, das sein Gesicht erhellte und seinen Augen Glanz verlieh. »Das ist ja fast schon komisch«, bemerkte er. »Eine vegetarische Werwolf-Jägerin.«
»Ich bin keine Jägerin, Doktor La …«
»Nennen Sie mich Samuel und lassen Sie das Sie weg. Wir legen hier nicht viel Wert auf Förmlichkeiten.« Er nahm Tomate und Salat aus dem Kühlschrank, ein Stück Käse, ein Glas Feinschmeckermayonnaise und ein Päckchen dünn geschnittenen Schinken.
»Samuel. Nennen deine Patienten dich auch so?«
»Nur die, die ich fast verführe während einer Untersuchung«, erwiderte er leise.
Sie warf ihm einen Blick zu. Seine Augen hatten sich verdunkelt. »Und gibt es viele solcher Patientinnen?«
»Du warst die erste. Sollte ich mich für diese Ungezogenheit entschuldigen?«
Ohne den Blick von seinen Augen abzuwenden, schüttelte Jenny den Kopf.
»Das ist gut, denn wenn ich es täte, wäre es nicht ernst gemeint.«
Jetzt musste sie doch den Blick abwenden, weil ihr so heiß wurde, und die Art und Weise, wie seine große, starke Hand die Tomate umfasste, sie innerlich erschauern ließ. »Und wie nennen dich denn nun deine Patienten?«, fragte sie, nur um die Anspannung zu lockern.
»Meistens nennen sie mich Doc Rock. Das finden sie lustig.«
»Aber du nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nenn mich lieber Samuel!«
»Okay, Samuel. Würdest du mir sagen, ob du gestern Nacht zu Hause warst?«
Er bereitete zuerst ihr Sandwich zu, wozu er dicke Scheiben von einem knusprigen Brotlaib abschnitt und sie auf einen Pappteller legte, bevor er sie mit Mayonnaise bestrich und mit Tomatenscheiben, Salat und Käse belegte. »Um welche Zeit?«, fragte er, ohne auch nur aufzublicken.
»Es muss gegen neun oder etwas später gewesen sein.«
Er nickte, legte die obere Scheibe Brot auf das Sandwich, schnitt es quer durch und stellte den Teller beiseite, um mit seinem eigenen Sandwich zu beginnen. »Ist das die Uhrzeit, zu der du dem Werwolf begegnet bist?«
»Das ist die Uhrzeit, zu der ich einer unbekannten Säugetierart begegnet bin. Was sie ist, muss erst noch festgestellt werden.«
Er nickte langsam und schnitt sein belegtes Sandwich ebenfalls durch, um dann beide Teller zum Tisch zu bringen und darauf abzustellen. »Da habe ich fest geschlafen. Wofür es natürlich keine Zeugen gibt.«
»Dann lebst du also allein?«, fragte sie.
Er suchte ihren Blick, und sie sah einen kleinen Funken in seinen dunkelbraunen Augen aufglimmen. »Ja. Und du?«
»Ja. Wenn ich zu Hause bin zumindest. Im Moment teile ich mir ein Haus mit drei Studenten und einem sehr von sich eingenommenen Professor der Zoologie.«
»Du sprichst von dem Branson-Besitz, nicht wahr?«
Jenny nickte.
»Hast du dort schon irgendetwas … Interessantes gesehen?«
Sie runzelte verwirrt die Stirn und sah ihm prüfend ins Gesicht. »Wie … was?«
Er wandte sich ab, um Salat, Schinken und Käse wieder im Kühlschrank zu verstauen, und nahm gleich auch noch zwei Flaschen Bier heraus. Doch auch als er zum Tisch zurückkam und sie öffnete, antwortete er nicht, sondern zuckte nur mit den Schultern.
»Na, komm schon, Sam. Heraus damit!«
»Samuel.« Er setzte sich, reichte ihr eine Flasche Bier und trank einen großen Schluck aus seiner Bierflasche. »Ich würde es dir lieber zeigen, als es dir zu sagen.«
»Jetzt ziehst du mich nur auf«, erwiderte sie. »Ganz zu schweigen von dem Themenwechsel.«
»Ich habe gestern Nacht weder etwas Ungewöhnliches gesehen noch gehört, Jenny.«
Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie ihren Vornamen von ihm hörte. »Oh«, sagte sie nur leise, bevor sie in ihr Sandwich biss.
»Wirst du mich nicht auch den Rest noch fragen?«
Sie kaute, schluckte und spülte das Brot mit einem Schluck Bier herunter. »Was meinst du?«
»Das weißt du sehr gut. Du willst wissen, ob ich mich im Schein des Vollmondes verwandelt habe und auf die Jagd gegangen bin. Du willst wissen, ob ich ein Wildschwein aus dem Wald hinausgetrieben und es mir dann anders überlegt habe, als ich dich allein dort draußen auf der Straße stehen sah.«
Sie schluckte, und das Blut gefror ihr in den Adern »Das ist doch lächerlich.«
»Ist es das?«
Jenny zuckte mit den Schultern und senkte kurz den Blick. »War es denn so?«
Samuel befeuchtete die Lippen. »Wie kommst du darauf, dass ich mich daran erinnern würde, wenn es so gewesen wäre?«
Erneut zog sie die Schultern hoch und schaute weg, doch als sie ihn wieder ansah, blickte er ihr prüfend in die Augen.
»Du solltest nachts wirklich nicht allein auf dieser Straße herumspazieren, Jenny«, sagte er. »Das ist unfair.«
»Unfair? Was soll das denn heißen?«
Er streckte die Hand aus und strich mit der Fingerspitze über ihre Wange. »Du bist schön, jung, zart … Ich kenne keinen Wolf, der einer kleinen Kostprobe von dir widerstehen könnte.«
Jenny blinzelte, als sie unter der Macht dieser kleinen Berührung – die sie wirklich nicht so aufwühlen dürfte! – erschauerte, und senkte den Blick. »Versuchst du, mich anzumachen, Samuel?«
Er holte tief Luft und ließ die Hand wieder sinken. »Ich gebe mir die größte Mühe. Stört es dich?«
Sie blickte zu ihm auf und sah ihm in die Augen. Er lächelte jetzt, und von diesem durchdringenden, schon fast raubtierhaften Blick war keine Spur mehr da. »Du siehst gut aus, bist alleinstehend und Arzt. Warum sollte es mich stören?«
Er lächelte noch breiter. »Diese Situation ist etwas Ungewöhnliches für mich. Normalerweise bekomme ich eine Frau nicht nackt zu sehen, bevor ich sie um ein Date bitte.«
»Ich war nur halb nackt.«
»Nun ja, es bleibt ja noch die Nachuntersuchung.«
Sie lachte leise und begann, sich für seinen neckenden Tonfall zu erwärmen. »Sag mir noch einmal, dass du dich wirklich nicht bei all deinen Patientinnen so verhältst!«
»Wenn ich das täte, hätte ich nicht mehr lange meine Zulassung. Nein, Jenny, ich bin nicht einmal annähernd so unprofessionell. Das schwöre ich. Wahrscheinlich hast du eben einfach nur so etwas an dir«, sagte er mit einem langsamen, gedehnten Lächeln, »das das Tier in mir hervorbringt.«
Sie versuchte, mit einem Auflachen darüber hinwegzugehen, obwohl es ihr kalt über den Rücken lief. Als sie sich wieder ihrem Sandwich zuwandte, beobachtete er sie bei jedem Bissen, den sie nahm; er sah ihr beim Kauen und beim Schlucken zu und ganz besonders aufmerksam, wenn sie sich die Lippen leckte. Er beobachtete sie, wie es noch nie zuvor jemand getan hatte. Als sie die Bierflasche an den Mund setzte und den Kopf zurücklegte, um zu trinken, hingen seine Augen buchstäblich an ihren Lippen, und sie fühlte sich beinahe nackt unter seinen eindringlichen, interessierten Blicken.
Samuel La Roque weckte ein solch starkes erotisches Bewusstsein in ihr, dass jede Faser ihres Körpers prickelte, obwohl er sie nicht einmal berührte. Diese Augen … sie besaßen eine ungeheure Macht.
Jenny stellte die Flasche auf den Tisch. »Ich sollte jetzt gehen.«
»Du hast mir noch nicht gesagt, ob du mit mir ausgehen wirst.«
Vielleicht würde ich lieber mit dir zu Hause bleiben, dachte sie, aber das konnte sie natürlich nicht gut sagen. »Wie wäre es mit heute Abend?«
Er nickte. »Ich hole dich um sechs Uhr ab. Wir gehen essen, und vielleicht zeige ich dir danach einige der Geheimnisse des Branson’schen Besitzes.«
»Heute Nacht ist Vollmond«, flüsterte sie. »Da sollte ich besser draußen sein und nach dem Werwolf Ausschau halten.«
»Der Mond geht heute um neun Uhr zweiundzwanzig auf. Ich verspreche dir, dass ich dich schon lange vorher zum Abschied küssen werde.«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Wie kommst du darauf, dass ich mich von dir küssen lassen werde?«
»Oh, natürlich werde ich dich küssen. Betrachte dich also als vorgewarnt.«
Sein Blick ruhte auf ihrem Mund, und sie musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, sich über den Tisch zu beugen und ihre Lippen auf die seinen zu pressen. Deshalb schob sie schnell ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss jetzt wirklich gehen.« Weil sie, wenn sie noch länger blieb, versucht sein könnte, sich zu etwas sehr Unvernünftigem hinreißen zu lassen.
»Dann wünsche ich dir noch einen schönen Nachmittag, Jenny. Und vergiss nicht, dass ich dich um sechs Uhr abhole.«
Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als sie noch einmal stehen blieb. »Samuel, die anderen – die Studenten und Professor Dr. Hinkle –, haben keine Ahnung von den gestrigen Geschehnissen. Und dabei möchte ich es auch belassen.«
»Du hast es ihnen nicht erzählt?«, fragte er, während er aufstand, um mit ihr zur Tür zu gehen. »Warum nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weil ich zuerst Beweise haben will.«
»Du denkst also, sie würden dir nicht glauben?«
»Ich weiß nicht, ob sie mir glauben würden oder nicht. Aber bitte erwähne nichts davon, falls du einen von ihnen – oder alle – heute Abend triffst.«
»Dein Geheimnis ist bei mir sicher«, murmelte er. Dann öffnete er die Tür und wurde von irgendetwas hinter Jenny abgelenkt. Als sie sich umdrehte und den riesigen Hund sah, der auf sie zurannte, erschrak sie. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie, dass es nicht einmal ein Hund, sondern sogar ein großer, schwarzer Wolf war.
»Mojo! Da bist du ja. Du kommst aber heute spät zum Essen«, rief Samuel.
Jenny trat aus dem Weg, als der Wolf an ihr vorbei ins Haus lief, Samuel begeistert ansprang und ihm die Pfoten an die Brust legte. Samuel lachte und fuhr mit den Händen durch das lange, dichte Fell des Tieres.
»Das ist mein Haustier, Mojo.«
»Das ist ein Wolf.«
»Nur eine Wald- und Wiesenmischung, das schwöre ich.«
Jenny nickte und tätschelte dem Hund ein wenig unsicher den Kopf, bevor sie sich zum Gehen wandte.
»Bis später, Jenny.«
»Danke für den Lunch.« Sie verließ die Hütte schnell und eilte in den Wald zurück. Sobald sie außer Sicht war, lehnte Jenny sich an einen Baum, verschränkte die Arme vor der Brust, schloss die Augen und fragte sich, wann sie je zuvor so angetörnt gewesen war wie gerade eben. Samuel hatte sie kaum berührt, und trotzdem zitterte sie am ganzen Körper!
Ein paar Mal atmete sie tief durch, um ihre aufgewühlten Nerven zu beruhigen, und setzte sich schließlich wieder in Bewegung, um zu der Stelle zurückzukehren, wo sie den Gipsabdruck abholen musste.
Doch als sie sie erreichte, war das Laub, das sie über den Abdruck gelegt hatte, verschwunden. Auch der Gips war nicht mehr da, und der Fußabdruck war bis zur Unkenntlichkeit verschmiert.