5. Kapitel
In dem Restaurant war es ruhig und dämmrig, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Der abendliche Ansturm stand erst noch bevor, doch auf den Herrn Doktor wartete bereits ein Tisch in einer Ecke, die noch spärlicher beleuchtet und in der kein anderer Tisch besetzt war. Kerzen brannten, und leise Musik strömte aus unsichtbaren Lautsprechern.
Jenny entging auch nicht, dass Samuel dem Kellner zunickte und mit den Lippen das Wort »perfekt« formte.
Der Mann hielt ihren Stuhl für sie bereit, und Samuel blieb stehen, bis sie Platz genommen hatte. Dann setzte er sich und bestellte Wein. Es war schon fast unheimlich, wie das Kerzenlicht seine Augen erhellte und zum Glühen brachte.
»Ein schönes Restaurant«, sagte Jenny, um die Spannung aufzulockern, die seit der Fahrt zwischen ihnen in der Luft zu hängen schien.
»Für eine schöne Frau.«
Sie lächelte ein wenig. »Du vergeudest keine Zeit, nicht wahr?«
»Ich halte nichts davon, Zeit zu vergeuden. Früher habe ich es getan. Wartete darauf, dass die Dinge ihren Lauf nahmen, und versuchte, ruhig zu bleiben und Geduld zu üben. Mich zurückzunehmen … und alles entspannt zu sehen.«
»Und das hat sich geändert?«
Er nickte.
»Warum?«
»Weil ich mich verändert habe, denke ich«, erwiderte er schulterzuckend. »Heute weiß ich, wie aufregend es ist, meine Wünsche kompromisslos und mit allen Mitteln zu verfolgen. Das Leben so zu leben, dass ich jeden einzelnen Moment genießen kann. Glaub mir, es spricht viel dafür, sich seine Wünsche auf der Stelle zu erfüllen.«
»Das mag ja sein. Aber was geschieht, wenn du nicht bekommen kannst, was du willst?«
Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen. »Ich bekomme immer, was ich will.«
Der Ober kam mit dem Wein und zeigte Samuel die Flasche, bevor er ein wenig in sein Glas goss. Samuel schnupperte daran, ließ den Wein ein bisschen kreisen, probierte ihn und nickte dann. Der Kellner schenkte beiden ein und stellte die Flasche in einen silbernen, mit Eis gefüllten Kühler auf dem Tisch.
»Probier den Wein!«
Jenny trank einen Schluck. »Er ist gut.«
»Nein. Nicht so. Du musst den Wein erleben, Jenny. Ihn riechen und ihn schmecken. Lass ihn über deine Zunge rollen und deine Kehle hinuntergleiten – genieße den Moment.«
Sie hob ihr Glas wieder.
»Schließ die Augen und denk an nichts anderes als den Wein. Öffne deine Sinne.«
Sie tat wie geheißen und versuchte, sich vollkommen auf den Wein zu konzentrieren, was mit dem Mann, der ihr gegenübersaß, jedoch gar nicht leicht war, da er ihre Aufmerksamkeit auf eine Art und Weise beanspruchte, wie es kein noch so guter Wein jemals vermocht hätte. Sie schnupperte an dem Glas, ließ sich von dem Bouquet des Weines erfüllen und nahm dann einen kleinen Schluck, den sie im Mund behielt, um ihn eingehend zu kosten, bevor sie ihn hinunterschluckte. Der Geschmack des Weines verblieb auf ihrer Zunge, selbst als seine Wärme sich schon auf ihren Körper übertrug.
»Mm.« Sie öffnete die Augen und sah, dass Samuels Blick auf ihr Gesicht gerichtet war.
Jemand räusperte sich in der Nähe, und als Jenny aufblickte, sah sie, dass der Ober mit zwei Speisekarten in den Händen bereitstand. »Darf ich Ihnen unsere Spezialitäten empfehlen?«, fragte er.
Samuel gab ihr mit einem Blick zu verstehen, sie solle für beide antworten. »Nein, danke, ich weiß, was ich will«, sagte sie. »Ich wollte schon seit langer Zeit mal wieder einen echten Cajun-Gumbo essen. Servieren Sie auch eine vegetarische Version?«
»Selbstverständlich. Sie haben eine gute Wahl getroffen«, meinte er und wandte sich dann Samuel zu.
»Steak. Blutig.«
»Und welche unserer Beilagen möchten Sie dazu?«
»Keine. Bringen Sie mir nur das Steak.«
Der Ober wandte sich ab und eilte davon.
Jenny beobachtete Samuel verstohlen während des Essens und erkannte, dass seine Worte mehr waren als nur Gerede. Er schien wirklich jeden Geschmack, jeden Geruch und jeden Laut zu genießen. Den größten Gefallen fand er ganz offensichtlich jedoch an ihr, wenn er sie ansah und jede ihrer Bewegungen beobachtete.
»Dessert?«, fragte er, als er das ganze Steak verputzt hatte und den Teller beiseiteschob.
»Nein, danke. Ich konnte nicht einmal diese Riesenschüssel Gumbo leeren, die sie mir gebracht haben.« Ein leises Schuldbewusstsein beschlich sie, als sie die Reste des Eintopfgerichtes ansah. »Er war aber wirklich köstlich.«
Samuel lächelte. »Freut mich, dass es dir geschmeckt hat.« Ohne den Kopf zu wenden, hob er eine Hand, um die Aufmerksamkeit des Kellners zu erregen, der in ihrer Blickrichtung auf der anderen Seite des Raumes stand. Ob Samuel irgendwie wusste, dass der Mann zu ihnen herüberblickte, oder ob es einfach nur Glück war, hätte Jenny allerdings nicht sagen können.
»Ja, Sir? Ist alles in Ordnung?«
Samuel nickte. »Wir möchten jetzt gehen«, erklärte er und drückte dem Mann einen Geldschein in die Hand. Jenny konnte nicht sehen, wie viel es war. »Die Flasche nehmen wir mit. Berechnen Sie sie, und behalten Sie den Rest.«
»Ja, Sir«, erwiderte der Kellner und steckte das Geld ein. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, musste es reichlich sein. »Es war mir ein Vergnügen, Sie zu bedienen, Doktor La Roque.« Er nickte Jenny zu. »Und Sie natürlich auch, Professor Rose.«
Jenny war überrascht, dass er ihren Familiennamen kannte, aber sie erwiderte nur sein Lächeln und stand auf. Samuel kam um den Tisch herum, legte eine Hand um ihre Taille und ließ sie dort liegen, als er neben Jenny zu seinem Jeep hinausging.
»Du sitzt nicht gern lange beim Essen, Samuel, nicht?«
Er blieb stehen und blickte auf sie herab. »Ich wollte dich bestimmt nicht hetzen, Jenny. Es ist nur so, dass … Nun ja, ich kann es kaum erwarten, dich auf der Plantage herumzuführen, und leider haben wir nicht gerade sehr viel Zeit.«
»Schon gut, ich bin auch schon sehr gespannt darauf, sie zu sehen. Ich wohne bereits seit ein paar Tagen dort und habe noch keine freie Minute gehabt, um mir das Gelände anzusehen. Das Wenige, was ich gesehen habe, ist jedoch wunderschön.« Und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es ihr in der Gesellschaft dieses Mannes noch viel schöner erscheinen würde. »Wie kommt es, dass du dich dort so gut auskennst?«
»Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht«, entgegnete er nüchtern. »Und … die Plantage hat einmal meiner Familie gehört.«
Überrascht wandte sie sich ihm zu. »Das wusste ich nicht.«
Er nickte. »Vor hundert Jahren. Mein Urgroßvater verlor sie, nachdem sie sich seit dem achtzehnten Jahrhundert im Besitz meiner Familie befunden hatte.«
»Wie? Was ist passiert?«
Er zuckte mit den Schultern und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Gerüchten zufolge wurde er für seine vermeintlichen Verbrechen aus der Stadt gejagt. Wäre er zurückgekehrt, hätte ihn der Strick erwartet. Der Besitz wurde als aufgegeben erachtet und vom Staat beschlagnahmt, um später bei einer Versteigerung verkauft zu werden.«
»Das ist ja schrecklich!« Jenny legte den Kopf ein wenig schräg. »Was wurde deinem Urgroßvater vorgeworfen?«
Samuel zögerte und antwortete nicht sofort.
»Tut mir leid. War das eine indiskrete Frage?«
»Nein. Keineswegs. Ich möchte uns unsere gemeinsame Zeit nur lieber nicht mit Erzählungen von vergangenen Tragödien verderben.«
Sie nickte langsam. »Ich bezweifle, dass mir irgendetwas diesen Abend verderben könnte, Samuel.« Jenny konnte fast nicht glauben, was sie da gesagt hatte, und hätte es am liebsten schnell wieder zurückgenommen. Andererseits jedoch … warum sollte sie auf schüchtern machen und ihm nicht zeigen, wie sehr sie das Zusammensein mit ihm genoss?
Er streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren. »Sei dir da nicht so sicher«, flüsterte er. Und bevor sie fragen konnte, was er damit meinte, sagte er: »Da sind wir schon.«
Jenny blickte aus dem Fenster, sah aber nur ausgedehnte, von Wäldern gesäumte Felder. »Das ist nicht die Plantage.«
»Das ist ihre südlichste Grenze. Und das interessanteste Plätzchen.« Er stieg aus, kam um den Wagen herum, um die Beifahrertür zu öffnen, und nahm Jennys Hand. Aber sie zögerte. »Was ist, Professor Rose? Denkst du, ich hätte dich hierhergebracht, um dir etwas anzutun?«
»Rede keinen Unsinn! Natürlich denke ich das nicht.« Sie stieg aus dem Wagen und rieb sich die Arme. »Es ist nur irgendwie … unheimlich hier.«
»Allein mit einem Mann, den du kaum kennst und der dich schon wollte, als er dir zum ersten Mal begegnete.«
Sie sah ihm ruhig in die Augen. »Ich bin nicht die Art von Frau, die Sex mit Fremden hat.«
»Das habe ich auch nie von dir gedacht.« Er trat einen Schritt näher. »Aber ich bin kein Fremder, Jenny, nicht? Irgendetwas in dir kennt etwas in mir. Etwas in dir begehrt mich genauso sehr, wie ich dich begehre.«
Sie senkte den Kopf, und er trat näher, hob ihr Kinn ein wenig an und schaute ihr in die Augen. »So ist es doch, nicht wahr?«
Jenny nickte stumm.
»Gut«, sagte er. »Das ist gut.« Und dann zog er sie an seine Brust und küsste sie. Sein Mund bedeckte ihren, und sie gab seinem Drängen nach und öffnete die Lippen. Seine Hände schlossen sich um ihren Po und drückten sie so fest an seinen Körper, dass sie spüren konnte, wie erregt er war, wie sehr er sie begehrte.
Sie konnte nichts gegen die Hitze tun, die sie durchflutete – er setzte sie in Flammen! Jenny schlang ihm die Arme um den Nacken und ließ verlangend die Hüften an den seinen kreisen. Ihre Lippen waren bereits geteilt, und sie empfing seine Zunge zu einem so aufregenden erotischen Tanz, dass sie kaum noch atmen konnte. Es war Wahnsinn – der reinste, süße, heiße Wahnsinn, sinnlich und berauschend.
Mit einem Laut, der beinahe wie ein tiefes Knurren klang, löste er schließlich seinen Mund von ihrem und riss den Blick von ihren Augen los, um zum Himmel aufzuschauen. »Es ist dunkel. Bald werden die Sterne aufgehen.«
»Ich habe es mir anders überlegt. Ich muss heute Nacht nicht arbeiten, ich …«
»Pst«, sagte er und streichelte ihr Haar und ihr Gesicht. »Natürlich musst du das. Du hast eine Verpflichtung, und ich auch. Und das lässt uns keine Zeit zu tun, was wir beide wollen. Aber es wird ein anderes Mal geben, das verspreche ich dir.«
Sie war nicht sicher, ob sie lange genug leben würde.
»Außerdem habe ich dir noch nicht gezeigt, was ich dir versprochen habe. Eines der Geheimnisse dieser Plantage. Komm.«
Er nahm ihre Hand und führte sie über das Feld und quer durch ein Gehölz.
»Horch mal!«, sagte er.
Sie blieb stehen und lauschte. Zuerst dachte sie, sie vernähme einen Herzschlag, einen tiefen, pochenden Herzschlag, der sich anhörte, als käme er aus der Erde selbst. Aber dann wurde das Geräusch klarer, und sie erhob stirnrunzelnd den Blick zu Samuel. »Ist das … eine Trommel?«
Er nickte und zog sie weiter. Kurz darauf spazierten sie am Ufer eines tiefen, breiten Wasserlaufs entlang, und neben dem Getrommel hörte Jenny Stimmen in der Luft ringsum und sah Licht in der Ferne – das Licht eines Feuers.
»Was ist das?«, flüsterte sie.
»Psst. Du musst jetzt leise sein. Komm.«
Er führte sie weiter, bis sie beide zwischen den Bäumen gleich hinter dem Lagerfeuer kauerten. Sie sah Männer, die auf riesigen, bunt bemalten Trommeln einen Rhythmus schlugen, der so bezwingend war, dass ihr ganzer Körper sich bewegen wollte. Sie sah Frauen in weißen Kleidern und Turbanen, die zu diesem aufwühlenden Rhythmus tanzten. Und dann stockte ihr der Atem, weil eine dieser Frauen Mamma Louisa war.
Neugierig beugte sie sich vor, aber eine starke Hand legte sich auf ihre Schulter und zog sie schnell in ihr Versteck zurück.
»Ist das … Voodoo?«
Samuel nickte. »Mamma Louisa ist eine Voodoo-Priesterin.« Er deutete mit dem Kopf zu ihr hinüber. »Siehst du, wie viel Platz die anderen ihr lassen? Und du wirst sehen, dass sie nicht eher mit dem Tanzen aufhören werden, bis sie ihnen ein Zeichen gibt.«
Jenny beobachtete Mamma Louisa, die schön und majestätisch war mit ihrer üppigen Figur und sich bewegte, als wäre sie völlig eins geworden mit dem aufpeitschenden Trommelschlag. Sie war unglaublich – ihr Tanz superb und sehr erotisch.
»Sie ist die Haushälterin der Plantage.«
»Ich weiß. Ihre Familie hat schon immer hier gearbeitet.«
Jenny schluckte. »Sollte ich mir jetzt Sorgen machen?«
Er sah sie missbilligend an. »Ich dachte, du wärst eine gebildete Frau, Jenny. Es ist nur eine Religion. Weißt du das denn nicht?«
»Es zu wissen und unter demselben Dach damit zu leben, sind zwei verschiedene Schuhe, Samuel.« Sehnsüchtig blickte sie zu dem Feuer hinüber, zu den Tänzern, die es umkreisten, und dem goldenen Schein, den es auf ihre Gesichter warf. »Dürfen wir sie wissen lassen, dass wir hier sind? Mit ihnen reden?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wäre eine Störung ihrer Privatsphäre. Wir sind nicht eingeladen, Jenny.«
»Ist es keine Störung ihrer Privatsphäre, hier draußen zu hocken und sie heimlich zu beobachten?«
»Doch. Aber ich wollte es dir zeigen, weil ich dachte, dass du es sehen musst, um es zu glauben. Außerdem«, fuhr er fort und strich langsam mit den Fingerspitzen über ihren Unterarm, »war es ein fabelhafter Vorwand, um dich allein hier in die Wildnis hinauszulocken.«
Die Trommler schlugen schneller und härter auf ihre Instrumente ein.
»Und das ist dir ja auch gelungen«, flüsterte sie und konnte in ihrer Brust den Widerhall der Trommeln spüren. Die Trommeln, der Feuerschein und der Anblick der Tänzerinnen waren so berauschend, dass Jenny am liebsten zu ihnen in den Kreis gesprungen wäre. Ihr Körper bewegte sich ohne ihr eigenes Zutun, und ihre Hüften zuckten, als sie im Unterholz neben Samuel hockte.
»Es hat etwas Bezwingendes, nicht wahr?«, fragte er, während er sich so weit zu ihr hinüberbeugte, dass sie seinen warmen Atem an ihrem Nacken spürte.
»Ja, es ist verlockend. Fast … unwiderstehlich.«
»Ja.«
Wieder spürte sie seinen Atem warm – nein, heiß – an ihrem Nacken. Sie wandte den Kopf ein wenig, um Samuel in die Augen sehen zu können, und stellte fest, dass er ihr so nahe war, dass ihre Lippen bei der Bewegung die seinen streiften.
Mit einem rauen Laut, der tief aus seiner Kehle kam, ergriff Samuel Besitz von ihrem Mund und küsste sie.