1. Kapitel

Der nackte Mann stand am Waldrand und blickte sich über eine seiner breiten Schultern nach Mariann um. Mit den Händen an einen Baumstamm gestützt, beugte er sich vor wie ein Athlet, den sie beim Dehnen seiner Waden angetroffen hatte. Sein langes dunkles Haar, das ihr halb die Sicht auf ihn verdeckte, fiel über ausgeprägte Muskeln bis zur Mitte seines Rückens herab.

Es war Nacht. Normalerweise hätte sie ihn gar nicht sehen können, aber ein Licht ging von ihm aus, das schimmernd wie ein mondähnlicher Schein die Dunkelheit um ihn erhellte. Was auch immer die Quelle dieses Lichtes war, es brachte seinen prachtvollen Körperbau jedenfalls noch deutlicher zur Geltung. Er strahlte etwas überaus Verführerisches aus mit seinen schmalen Hüften und dem runden, harten Po. Eines seiner wie gemeißelten Beine war gebeugt, sodass Mariann zwischen seinen Schenkeln gerade eben seine festen Hoden sehen konnte.

Eine süße Schwere begann sich in ihren Gliedern auszubreiten, während sie ihn beobachtete. Sie begehrte ihn. Ihre Finger bebten von dem Drang, ihn zu berühren, und sie schluckte hart und trat einen Schritt vor. Sie wusste, dass es einen Grund geben musste, warum sie den Rest von ihm nicht sehen konnte.

Der Mann wusste offenbar, warum, und lächelte mit unerhörtem Selbstvertrauen. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte er. »Möchtest du nicht mit mir kommen?«

»Mist«, seufzte Mariann O’Faolain, als ihr altmodischer Aufziehwecker um drei Uhr morgens läutete.

Ihr Körper pochte vor Enttäuschung. Sie wollte nicht aus ihrem Traum erwachen, der so ziemlich das Erotischste war, was sie in den letzten sechs Monaten erfahren hatte. Aber es war eben nur ein Traum und kein Grund, noch länger die Kissen zu umarmen, und so rollte sie sich herum, beendete mit einem einzigen Schlag das nervige Läuten und blinzelte in das ländliche Dunkel.

Ich bin ein Vampir, dachte sie mit einem schiefen Grinsen. Ich stehe mit dem Mond auf und gehe mit der Sonne ins Bett.

Schon etwas besserer Laune, schlug sie die Decken mit einem Schwung zurück, den leider niemand sehen konnte. Sie hatte eine halbe Stunde, um zu duschen, sich anzuziehen, einen Becher Espresso hinunterzustürzen und die Katze zu füttern. Dann hieß es, auf zu O’Faolain’s, um ein paar ungestörte Stunden backen zu können, bevor die ersten der Kaffee-und-Muffin-Gäste kamen. Mariann liebte ihre Kunden, aber das Backen liebte sie noch mehr. Wie könnte es auch anders sein? Fast vierzig Jahre war das O’Faolain’s ihr zweites Zuhause gewesen – mehr Zuhause eigentlich sogar, als das große Vorstadthaus, in dem sie aufgewachsen war. Was das anging, lag ihr ihre derzeitige Unterkunft, ein zugiges, aus Holzschindeln erbautes Farmhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das sie von ihren Großeltern geerbt hatte, sehr viel mehr am Herzen. Imitierte Holzvertäfelungen und Doppelgaragen würden niemals Marianns Stil entsprechen.

In Gedanken schon bei der Liste ihrer heutigen Aufgaben, bemerkte sie kaum, wie die Zeit verging, bis sie das feuchte Handtuch von ihrer Mähne schwarzer Locken nahm. Ein frisches weißes T-Shirt – dank Maynard’s Wäscherei –, bügelfreie Chinos und himmelblaue Turnschuhe stellten wie immer ihre Uniform für den Tag dar, denn Mariann hatte weder Zeit noch Lust, sich wie eine dieser Bohnenstangen aus der Vogue anzuziehen.

Sie war eine hart arbeitende Frau und konnte auf so etwas verzichten. Sich sauber und bequem zu kleiden, genügte ihr – und nackt zu sein, war nur etwas für Träume!

Apropos Träume. Ihr Körper kribbelte noch in Erinnerung daran, als sie die knarrende Treppe hinunterlief. Der Ofen in der Küche verbreitete gerade genug Licht, um etwas zu sehen, und Mariann schwor sich zum x-ten Mal, einen Schreiner kommen zu lassen, um die fehlenden Streben am Geländer zu ersetzen. Aber ihre Gedanken hüpften über den Schwur hinweg, ohne auch nur Spuren zu hinterlassen. Die Pfirsiche waren fantastisch gewesen diese Woche: saftig, fest und von einem schönen, reifen Gelb. Sie würde Törtchen daraus backen für das Mittagessen der Handelskammer – und vielleicht auch noch einen kleinen Vorrat Pfirsich-Karamell-Eis herstellen.

Ingwer, dachte sie, als sie auf der letzten Stufe innehielt, um erneut in Träumereien zu versinken. Ingwer würde die perfekte Schärfe dazu liefern.

Als sie schlagartig wieder zu sich kam, schlitterte sie über das gesprungene grüne Linoleum der Küche und begann, fröhlich vor sich hinzusummen. Mit schnellen, sparsamen Bewegungen legte sie ein paar Stückchen Schokolade auf ein knuspriges Stück Baguette und schob ihre Vorstellung von Frühstück in die Mikrowelle. Mit der linken Hand drückte sie die Tasten, mit der rechten zündete sie schon das Gas unter ihrem glänzenden italienischen Espressokännchen an. Dann nahm sie einen Becher von einem der Haken, ließ den Griff um ihren Zeigefinger wirbeln wie ein Pistolenheld, knallte den Becher auf die Arbeitsplatte und gab einen dicken Klacks Vermonter Sahne hinein. Pirate Vics Schälchen und Trockenfutter wurden ihre nächsten Partner in dem Tanz, den sie – anfangs nur mit erzwungener Munterkeit, aber heute schon mit echter – jeden Tag aufführte, seit ihr Ehemann ihr Ex geworden war.

Fünf Jahre ihres Lebens hatte sie diesem Mann geschenkt, viereinhalb mehr, als er verdiente. Sie hätte wissen müssen, dass man einem Broker nicht vertrauen konnte.

»Kein ekliges, fertig gekauftes Müsli mehr«, sang sie den alten Tapeten mit dem verblassten Gänseblümchenmuster vor. »Kein Wall Street Journal und keine gottverdammte fettarme Milch in diesem Haus mehr.«

»Gottvergessene«, berichtigte sie sich und gab Trockenfutter in das Katzenschälchen.

Sie hatte versucht, das Fluchen ein wenig einzuschränken. Da Tom nicht mehr da war, hätte sie eigentlich ja auch kein Bedürfnis mehr danach verspüren müssen.

»Miez, Miez, Miez«, rief sie lockend, als sie das Trockenfutter auf die noch dunkle hintere Veranda stellte. Pirate Vic, ihr schwarz-weißer, einäugiger Kater – den Tom gehasst hatte, wie sie sich schadenfroh erinnerte –, unterbrach seine nächtlichen Streifzüge gewöhnlich lange genug, um sich füttern zu lassen. Aber entweder war er heute Morgen noch zu weit entfernt oder zu sehr mit seinen Abenteuern beschäftigt, um ihre Rufe zu beachten.

Mariann seufzte, weil sie ihn vermisste, und beschloss, ihr Frühstück mit hinauszunehmen. Die hinteren Verandastufen brauchten genauso dringend einen Schreiner wie das Treppengeländer, doch Mariann ließ sich trotzdem darauf nieder. Die Luft war kühl und weich, ein angenehmer Beginn eines Augusttages. Der Wald um ihren verdorrten Rasen war erfüllt von vertrauten raschelnden Geräuschen. Alles in allem besaß sie zehn Morgen davon am südlichen Ausläufer des Green Mountain.

Tom hatte sie bedrängt, die Bäume fällen zu lassen und das Holz zu verkaufen.

»Gott segne dich, Opa«, murmelte sie, weil Morgengebete mehr ihre Art waren als abendliche. »Gib Oma einen Kuss von mir und tut das Eure für den Frieden auf der Welt.«

Sie wollte gerade erneut versuchen, Vic herbeizurufen, als sie auf einen Schatten aufmerksam wurde, der durch das Brombeergestrüpp schlich.

»Da bist du ja«, rief sie erfreut, bevor sie merkte, dass der Eindringling keine Katze sein konnte.

Der Schatten erstarrte, als er ihre Stimme hörte, und jetzt sah sie, dass die nach oben hin spitz zulaufenden Ohren offenbar die eines Hundes waren. Er musste einem der Nachbarn gehören. Viele Leute in Maple Notch ließen ihre Haustiere frei herumlaufen. Mariann erwartete, dass der Hund die Flucht ergreifen würde, doch nach kurzem Zögern schlich er Schritt für Schritt in ihren Garten.

Ihr erster klarer Blick auf ihn brachte ihren Puls zum Rasen.

Ihr Besucher war kein Hund, sondern ein Wolf, ein großes Tier mit kühlem Blick und beeindruckenden Zähnen. Sein Fell war schwarz, sein Unterhaar von einem helleren Ton, den sie nicht genau erkennen konnte. Sein buschiger Schwanz bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen, und sein Blick ruhte auf ihr, als versuchte der Wolf abzuschätzen, welche Art Begrüßung er erhalten würde. Vielleicht konnte er sich jedoch nicht recht entscheiden, denn nun blieb er auf halbem Weg zwischen dem Wald und der Veranda stehen.

Er war das wildeste, atemberaubendste Geschöpf, das Mariann je gesehen hatte. Über dem Beobachten des Tieres hatte sie ihre Einsamkeit vergessen.

»Oh, mein Gott«, flüsterte sie, und die Haut an ihrem Nacken kribbelte wie bei einem Sonnenbrand. Sie war nicht sicher, ob sie Angst hatte oder einfach nur begeistert war. In Vermont gab es keine Wölfe – oder zumindest glaubte sie nicht, dass es welche gab.

Woher auch immer dieser hier gekommen war, er hatte hoffentlich ihren Kater nicht gefressen!

Der Wolf stieß ein kurzes Bellen aus, wie um zu widersprechen.

»Willst du ein bisschen Trockenfutter?«, fragte sie, weil sie dachte, dass der Geruch des Futters ihn vielleicht angelockt hatte. »Oder möchtest du lieber mein Schokoladenbrot probieren?«

Bei diesen Worten winselte der Wolf und setzte sich vorsichtig wieder in Bewegung. Vielleicht war er ein Mischling, oder er war in einem Reservat von Menschen aufzogen worden. Er schien jedenfalls keine Angst vor ihr zu haben. Tatsächlich verhielt er sich sogar so, als wollte er sie nicht erschrecken.

Die Intelligenz in seinen scharfen hellen Augen ließ diese Theorie nicht ganz so abwegig erscheinen. Im Moment wäre Mariann nicht einmal überrascht gewesen festzustellen, dass das Tier ihre Gedanken lesen konnte.

Zitternd vor Aufregung hielt sie ihr halb gegessenes Brot so weit von sich entfernt, wie sie den Arm ausstrecken konnte. Als der Wolf nahe genug war, um ihr Angebot zu beschnüffeln, nieste er, leckte einen Tropfen der Schokolade ab und nahm dann vorsichtig das Brot zwischen die Zähne. Mariann war fast zu verblüfft, um loszulassen, bis ein sanftes Ziehen sie daran gemahnte. Eine Kopfbewegung des Wolfes, ein Zuschnappen seiner kräftigen Kiefer, und der Leckerbissen war verschwunden.

Für einen Moment glühten die Augen des Tieres wie heiße grüne Steine. Dann, als wäre alles andere noch nicht erstaunlich genug gewesen, duckte es sich vor ihr, kroch die kleine Entfernung über das Gras zu Mariann heran und fuhr mit einer rosa Zunge über ihre Fingerspitzen.

Mariann schnappte nach Luft und zog die Hand zurück. Sofort sprang der Wolf auf und trabte auf den Rand des Waldes zu. Dabei sah er aber noch einmal über die Schulter zurück. Marianns Fantasie schrieb seinem Blick einen Ausdruck des Bedauerns zu.

Und dann verschwand er lautlos zwischen den hohen Adlerfarnen.

»Wow«, flüsterte sie beeindruckt und drückte die Hand an ihr wie wild pochendes Herz. Was sind schon erotische Träume von nackten Fremden neben einem Besuch von einem Wolf? Dieses Erlebnis war das aufregendste, das sie je gehabt hatte.

Verständlicherweise war Mariann noch immer wie benebelt während der zehnminütigen Fahrradfahrt zur Bäckerei. Die kurvige Nebenstraße, an der sie lebte, führte so gut wie nirgendwohin. Mariann sah kein einziges Auto, ob geparkt oder fahrend, bis sie die Hauptstraße von Maple Notch erreichte. Stadtmenschen mochte die Abgeschiedenheit nervös machen, aber Mariann liebte sie mit Leib und Seele. Eines Versprechens wegen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, trug sie stets ihr Handy und eine Dose Pfefferspray bei sich. Tatsächlich war sie jedoch in all der Zeit hier noch nie auch nur annähernd in einer Situation gewesen, in der sie das eine oder andere zu ihrem Schutz benötigt hätte – nicht einmal auf dem Höhepunkt der Touristensaison. Auch wenn sie in einem Vorort aufgewachsen war, war sie letztendlich doch das geborene Kleinstadtmädchen.

Strahlend vor Zufriedenheit, radelte sie ein wenig geistesabwesend an dem Warenhaus und dem Postamt vorbei und bog an der einzigen Ampel des Ortes dann links ab.

Bis zu O’Faolain’s war es nicht mehr weit. Das einstige Kutschenhaus, das ihr Großvater in eine Bäckerei verwandelt hatte, war ein Anhängsel des Night Owl Inn gewesen – und eines seiner wesentlichsten Anziehungspunkte. Die Gäste schwärmten von den Frühstückskörben vor ihrer Tür, und oft kamen sie gerade ihretwegen wieder. Die neuen Besitzer des Gasthofs, denen auch das Land gehörte, auf dem sich die Bäckerei befand, hatten sich bereit erklärt, die Partnerschaft mit Mariann fortzusetzen.

Die Luces hatten großes Aufsehen erregt bei ihrer Ankunft in dem kleinen Ort. Mit ihrem langen Haar und den unglaublich durchtrainierten Körpern hätte jeder der beiden hochgewachsenen, gut aussehenden Cousins auf dem Titelblatt eines Herrenmagazins posieren können. Besonders der Ältere kleidete sich wie ein Armani-Model – immer kurz davor, zu elegant und cool für einen Ort wie Maple Notch auszusehen.

Von ihrer verwandtschaftlichen Beziehung einmal abgesehen, schien es unvermeidlich, dass gemunkelt wurde, die beiden seien ein Paar. Aber kaum kamen die Gerüchte auf, wurden sie erstaunlich schnell wieder im Keim erstickt. Kein homosexueller Mann könne eine Frau so ansehen, wie es diese beiden taten, war der einmütige Konsens der einheimischen Damen. Nachdem die Besitzerin des Friseursalons dem jüngeren Luce auf seiner nächtlichen Joggingtour begegnet war, erklärte sie aufgeregt, er habe sie buchstäblich »mit den Blicken verschlungen«.

Dass Linda nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, verstand sich von selbst.

Und sollte dieser Zustrom von Testosteron noch nicht genügen, um den Leuten etwas zu reden zu geben, waren die Cousins darüber hinaus auch noch stinkreich. Arbeiter wurden zu unglaublichen Löhnen eingestellt: Architekten, Stuckateure, ja sogar ein Sommelier. Die benachbarten Antiquitätenhändler überschlugen sich, um das Inn mit historisch korrekten Möbeln auszustatten. Niemand bezweifelte, dass das Night Owl ein viktorianisches Paradestück sein würde, wenn die Arbeiten beendet waren. Was zuvor ein Arsenal von schauderhaftem Kitsch gewesen war, würde bald ein Schmuckstück sein, das jedermann im Dorf mit Stolz erfüllen würde.

Und wenn die Luces sich manchmal genauso merkwürdig verhielten, wie sie reich waren, wurde das als »fremde Allüren« abgetan. Immerhin waren sie Franzosen, und für einen geborenen Vermonter war das ohnehin schon fremd genug. Wen kümmerte es, dass sie noch nie von Ben & Jerry’s gehört hatten? Oder ob sie den ganzen Tag lang schliefen und irgendeine seltsame Allergie hatten, derentwegen sie die Sonne meiden mussten? Maple Notch erhielt jedenfalls eine unerwartete Finanzspritze von den Luces, und solange ihre Schecks gedeckt waren, scherte sich kein Mensch darum, was sie ansonsten trieben.

Mariann selbst stand ihnen eher misstrauisch gegenüber, obwohl der jüngere Luce, Emile, ein sehr charmanter Mann war. Trotz ihrer Zweifel half sie ihnen jedoch bei der Umgestaltung ihrer Küche und versprach, auch weiterhin regelmäßig Gebäck zu liefern. O’Faolain’s, versicherten die beiden ihr, werde immer ein geschätzter Freund des Night Owl Inn sein.

Manchmal dachte Mariann, dass sie wahrscheinlich mehr Vertrauen zu ihnen hätte, wenn sie nicht ganz so attraktiv wären. Ihr Ex war es nämlich auch gewesen, ein goldener Junge mit einem Herz aus Stein. Nach kurzen, sechsmonatigen Flitterwochen, in denen er sie wie eine Königin behandelt hatte, hatte er sie betrogen und das offenbar auch noch für sein gutes Recht gehalten: Für ihn war Leben vor allem Freiheit und die Jagd auf Sekretärinnen in kurzen Röcken. Wenn Mariann Emile und Bastien ansah, konnte sie nicht umhin zu denken: Hab ich alles schon gesehen.

Und wenn sie noch bisschen weiterdachte, wenn sie Bastien ansah, ging das niemand anderen was an als sie. Es war nicht seine Schuld, dass er ihr im Traum erschienen war.

Während sie die Vorurteile abschüttelte – für die es im Übrigen keinen echten Grund gab, wie sie zugeben musste –, bemerkte sie, dass das Baugerüst entfernt worden war, das in den letzten Monaten die Fassade des Night Owl Inn verdunkelt hatte. Das um 1840 erbaute Night Owl ähnelte mehr einer Burg als einem Haus mit seiner Granitfassade und den gotischen Fenstern, die dem bescheidenen kleinen Ort etwas von Old England gaben. Der Rasen, auf dem das Night Owl stand, war kurz und glatt genug für eine Runde Golf und beschämte Marianns etwas ungepflegten Hof daneben.

Sie musste zugeben, dass sie beeindruckt war. Noch nie hatte sie eine Renovierung derart schnell vorangehen sehen. Aber vielleicht brachte das viele Geld, mit dem die Luces um sich warfen, ja sogar die faulsten Einheimischen auf Touren.

Mariann stieg von ihrem alten braunen Fahrrad, um es die letzten Meter des Kiesweges hinaufzuschieben. Über ihr ratterte das Schild O’Faolain’s Bäckerei an seinen Ketten. Ein zweites mit der Aufschrift: Familienrezepte seit 1940, ganz gleich, was andere behaupten, hing direkt unter dem ersten.

Mit einem beifälligen Nicken zu dem Zusatz lehnte sie ihr Fahrrad an die Wand unter dem Vorderfenster. O’Faolain’s hatte eine kleine Sitzecke, eine breite Theke wie in einem Diner und eine Küche dahinter. Da das Licht schon brannte, musste ihre Gehilfin es irgendwie geschafft haben, aus dem Bett zu kommen. Heather war erst achtzehn und hatte einen Freund. Es sprach für sie, dass sie trotzdem immer zur Arbeit kam … nur manchmal eben nicht gerade pünktlich.

Mariann lächelte im Stillen, als sie eintrat und »Hallo«, rief.

»In der Küche«, antwortete Heather in einem Ton, als wäre sie den Tränen verdächtig nahe.

Mariann traf sie mit düsterer Miene vor sechs Blechen frisch aus dem Ofen gekommener Törtchen an.

»Sie sehen überhaupt nicht aus wie Blätterteig«, stöhnte Heather mit der übertriebenen Dramatik ihrer Jugend. »Es sah so leicht aus, als du es mir gezeigt hast, aber egal, was ich unternommen habe, die Dinger sind nicht aufgegangen.«

Mariann biss sich auf die Lippe und fragte sich, ob sie Heather tadeln oder loben sollte. Es war gut, dass das Mädchen erraten hatte, dass Mariann heute Törtchen backen wollte, doch nun würden sie alles sauber machen und von vorn anfangen müssen.

»Hast du alle Zutaten so in die Teigmaschine gegeben, wie ich es dir aufgeschrieben habe?«

»Ja«, erwiderte Heather mit zitternder Stimme und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Und ich habe auch nichts schmutzig gemacht.«

Mariann hatte bereits bemerkt, wie die Arbeitsfläche glänzte. Ihre ständigen Ermahnungen an Heather, hinter sich aufzuräumen, zeigte allmählich Wirkung. Was sich nicht auszahlte, waren ihre Appelle, nicht loszurennen, bevor sie gehen gelernt hatte. Heathers Eltern waren Bridge-Freunde von Marianns Eltern, und sie hatte das Mädchen aus Mitleid eingestellt, nachdem es eine Kochschule abgebrochen hatte. Damals hatte man dem Teenager nicht mal zutrauen können, ein Ei richtig zu kochen.

Als wüsste sie, was ihre Chefin dachte, zitterte Heathers Kinn wie das eines Kindes.

»Ach, Kleines«, sagte Mariann, schon halb versöhnt, und drückte Heather mitfühlend die Schulter. Die nette Geste bewirkte, dass eine dicke Träne über Heathers Wange rollte. Mit ihrem glänzenden weizenblonden Haar und der pfirsichzarten Haut schaute sie sogar noch reizender aus als gewöhnlich. Genau genommen sah sie sogar aus wie eine Schauspielerin, die für die Kamera weinte. Doch ungeachtet des Aussehens des Mädchens wusste Mariann, dass Heathers Gefühle so real waren wie ein Sommersturm. Sie war empfindsam wie ein neugeborenes Kind, und Mariann brachte es nichts übers Herz, sie abzuhärten.

Da das Inn zu Renovierungen geschlossen war, war nicht viel los im Geschäft, und Heathers Feuerprobe konnte warten.

»Es ist alles nur Erfahrung«, sagte Mariann. »Und meine kalten irischen Hände. Sie verhindern das Verschmelzen der Butter mit dem Mehl. Als ich in Boston arbeitete, kannte ich einen Italiener, der seine Hände für zwei volle Minuten in Eiswasser tauchte, bevor er einen Klumpen Teig auch nur ansah.«

»Ja, ja«, murmelte Heather und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Die Wenigen, die Stolzen und die Konditoren.«

Mariann lachte, weil sie wusste, dass es Heather wieder gut ging, wenn sie scherzte. Das Mädchen lächelte ein wenig unsicher zurück.

»Du hast dich verspätet«, bemerkte Heather mit einem vielsagenden Blick zur Uhr. Anscheinend verbesserte dieses noch nie da gewesene Ereignis ihre Stimmung.

»Haarprobleme«, erklärte Mariann zu ihrer eigenen Überraschung. Beim Verlassen ihres Hauses hätte sie noch geschworen, dass sie als Erstes mit ihrer Begegnung mit dem Wolf herausplatzen würde. Aber jetzt nahm sie die Lüge nicht zurück.

Aus Gründen, die sie nicht näher untersuchen wollte, zog Mariann es vor, ihren morgendlichen Besucher für sich zu behalten.