4. Kapitel

Als Jenny zur Plantage zurückkehrte, schlüpfte sie leise durch eine Seitentür ins Haus und hoffte, auf dem Weg zu ihrem Zimmer niemandem zu begegnen. Sie war verwirrt, verärgert und immer noch bemüht, sich die Ereignisse des Tages genauso in Erinnerung zu rufen, wie sie stattgefunden hatten. Zuerst hatte sie den Gipsabdruck gemacht. Dann hatte sie das Auto gehört. Als Nächstes hatte sie sich von ihrer kostbaren Fußspur entfernt, sie unbeaufsichtigt gelassen, um die Quelle des Motorengeräuschs zu suchen, und hatte sich an das Blockhaus im Wald und den inzwischen stillen Jeep herangeschlichen. Und kurz danach war Samuel La Roque hinter ihr erschienen.

Hinter ihr.

Warum war er nicht gleich ins Haus gegangen, nachdem er aus seinem Wagen ausgestiegen war? Es war ja schließlich nicht so, als hätte sie Geräusche verursacht, die ihn auf ihre Anwesenheit aufmerksam gemacht haben könnten. Was hatte ihn also dazu veranlasst, an ihr vorbei in den Wald zu schleichen und dann hinter ihr wieder aufzutauchen? Und die wichtigste Frage überhaupt: War er es, der zunichtegemacht hatte, was vielleicht die bedeutendste Entdeckung ihrer Karriere gewesen wäre?

Sie ging durch die Küche, wo Eva Lynn in einer großen Metallschüssel irgendeinen köstlich duftenden Teig anrührte und ihr ein Lächeln zur Begrüßung schenkte. Eva Lynn war eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter und hatte die gleichen makellosen Züge, ihr Körper allerdings war anmutig und gertenschlank. Wie ihre Mutter war auch sie ganz in Weiß gekleidet, einschließlich des Turbans, der ihr Haar verdeckte. Sie sagte nichts, weil sie vielleicht spürte, dass Jenny unbemerkt in ihr Zimmer hinaufgelangen wollte, nickte nur wissend und wandte sich wieder dem Teig in der Schüssel zu.

Jenny stieß die Schwingtür zur Hintertreppe auf und lief zum ersten Stock hinauf. Die Treppe führte noch weiter, in den zweiten Stock, wo Eva Lynn und Mamma Louisa ihre Zimmer hatten, aber Jenny hielt auf dem ersten Treppenabsatz inne, stieß die Tür auf und trat in die prächtige Diele mit dem schwarz-roten Samtläufer, den vergoldeten Tischchen, Spiegeln, Vasen und Mini-Kristalllüstern hinaus, die alle paar Meter von der hohen Decke hingen. Auf leisen Sohlen huschte Jenny zu ihrem Zimmer und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn. Auf den Gängen gab es keine Aircondition, nur in den Zimmern selbst, sodass die Korridore wie Saunen waren und die Luft dort fast so unerträglich heiß und schwül war wie draußen im Freien.

Vor ihrer Zimmertür blieb sie verwundert stehen und überlegte kurz. Sie stand einen Spaltbreit offen. Jenny war ganz sicher, sie geschlossen zu haben, als sie gegangen war.

Sie runzelte die Stirn und drückte die Tür vorsichtig ein Stückchen weiter auf. Professor Hinkle saß an dem kleinen Tisch im Wohnzimmer ihrer Suite und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm ihres Laptops, den sie ausgeschaltet hatte, bevor sie morgens aufgebrochen war.

Verärgert trat sie ein und räusperte sich laut.

Sichtlich überrascht blickte Hinkle auf. Für einen Moment huschte Schuldbewusstsein über sein verkniffenes Gesicht, doch genauso schnell verschwand es wieder. »Na, wie war der Ausflug?«, fragte er, als wäre er bei nichts Ungewöhnlichem – und schon gar nichts Unrechtem – ertappt worden.

»Was zum Teufel tun Sie hier in meinen Zimmern?«

Er zog die Brauen hoch. »Ich sehe Ihre Aufzeichnungen durch und überprüfe Ihre Handhabung dieses Projektes – was genau das ist, wozu ich hergeschickt wurde, Professor Rose.«

»Das könnten Sie auch, ohne in meine Privatsphäre einzudringen und in meinen privaten Dingen herumzuschnüffeln!«

»Und wie?«, fragte er mit einem arglosen Schulterzucken, das pure Heuchelei war. »Die Dateien sind auf dem Computer, und der war hier drinnen.«

»Ich gebe ihn gern eine Kopie meiner sämtlichen Dateien auf Diskette oder CD, was immer Sie bevorzugen; Sie brauchen lediglich darum zu bitten. Aber mein Zimmer, Professor Hinkle, ist tabu.«

»Ich bin der ranghöchste Wissenschaftler auf dieser Mission«, erinnerte er sie. »Ganz zu schweigen davon, dass ich auch der Leiter der Abteilung bin.«

»Aber wie lange wären Sie das noch, wenn ich jetzt den Dekan anrufe und ihm sage, dass ich Sie beim Herumschnüffeln in meinem Schlafzimmer erwischt habe?« Ein leises Lächeln huschte um ihre Lippen. »Sexuelle Belästigung ist so eine hässliche Anschuldigung. Ich würde das wirklich nur sehr ungern öffentlich machen, wenn es nicht sein müsste.«

Hinkle erhob sich und klappte den Laptop zu. »Sie haben gewonnen, zumindest diese Runde. Ich werde mich aus Ihren Zimmern fernhalten.«

»Ich denke, ich werde sie von jetzt an abschließen, nur um sicherzugehen.«

»Man könnte fast auf die Idee kommen, Sie hätten etwas zu verbergen, Professor Rose.«

Sie trat beiseite und öffnete weit die Tür, um ihn hinauszulassen.

Aber so schnell ging er nicht. »Wieso haben Sie passwortgeschützte Dateien auf Ihrer Festplatte?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Das sind meine Tagebücher. Ich fülle diese Dateien mit romantischen Tagträumen, die Sie nicht im Geringsten interessieren würden.«

»Warum bin ich mir so sicher, dass Sie lügen?«

»Vielleicht, weil Sie ein misstrauischer Mensch sind? Aber das ist nicht mein Problem. Und jetzt würde ich gern duschen und mich umziehen, falls Sie nichts dagegen haben …«

»Was haben Sie heute Morgen auf Ihrer Expedition gefunden?«

Sie sah ihm in die Augen und erwiderte ruhig seinen Blick. »Gar nichts.«

Hinkle grinste, dann wandte er sich ab und verschwand endlich.

Jenny schloss die Tür. Sie hatte wirklich vor, zu duschen und sich die klebrige Hitze des Bayous von der Haut zu spülen. Als sie aber durch das Zimmer ging, knirschte etwas unter ihren Schuhen, und sie blieb stehen, um nachzusehen, was es war. Schlamm. Getrockneter Schlamm. Mit einem unterdrückten Fluch zog sie die Schuhe aus und wünschte, sie hätte beim Betreten des Herrenhauses schon daran gedacht. Schäm dich, solch schmutzige Fußspuren im Haus zu hinterlassen!, sagte sie sich und ließ ihre Schuhe neben der Tür stehen, als sie zum Badezimmer weiterging. Aber noch mehr getrockneter Schlamm zerbröckelte unter ihren Socken, und sie merkte jetzt auch, dass er an Stellen lag, die sie mit ihren schmutzigen Schuhen nicht betreten hatte.

Mit schmalen Augen sah sie sich den Wohnzimmerboden an, dann den im Schlafzimmer, und überall entdeckte sie Spuren von dem Schmutz. Dieser neugierige alte Bussard Hinkle war tatsächlich in beiden Zimmern und im Bad gewesen! Aber was zum Teufel suchte er?

Und wo war er gewesen, dass er Sumpfschlamm an den Stiefeln hatte?

Vielleicht war es ja doch nicht Samuel La Roque, der ihre Arbeit sabotiert und ihren Beweis gestohlen hatte?

An Samstagen hatten Mamma Louisa und Eva Lynn nachmittags frei und mussten erst am Montagmorgen wieder ihren Dienst antreten. Wenn Gäste im Haus waren, verbrachten die beiden den ganzen Samstagmorgen mit Kochen, Backen und Einkaufen, um sicherzugehen, dass genug zu essen im Haus war, während sie ihren freien Tag genossen. Sie waren hier immerhin in Louisiana, wo es kaum etwas Wichtigeres für einen Gastgeber gab, als seine Gäste bestens zu bewirten.

Und so waren Mutter und Tochter schon nicht mehr da, als Jenny um zehn vor sechs die Treppe herunterkam. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, Notizen anzufertigen zu allem, was an diesem Tag geschehen war, und sie in einer der passwortgeschützten Dateien auf ihrem Laptop abzuspeichern. An einem Haken neben der Schlafzimmertür hatte sie den Schlüssel zu ihrer Suite gefunden und die Zimmer beim Verlassen abgeschlossen.

Damit müsste ihre Privatsphäre für heute Nacht gesichert sein. Das hoffte sie zumindest.

»Wow«, sagte Carrie, als Jenny am Fuß der Treppe ankam. »Sie sehen toll aus! Was ist der Anlass?« Sie wackelte mit den Augenbrauen. »Ein heißes Date?«

»Wovon redest du?« Jenny blickte an sich herab. Sie trug ein schlichtes, ärmelloses weißes Baumwollkleid, einen tief sitzenden Gürtel aus Türkisen und eine Halskette und Ohrringe aus den gleichen Steinen, flache braune Sandalen, die eigentlich gar nicht dazu passten, und keine Strümpfe, weil es dafür viel zu heiß war.

»Sie haben Ihr Haar aufgesteckt«, fuhr Carrie fort mit einem Blick auf die sonst so widerspenstigen roten Locken, die Jenny mit einer Spange gebändigt hatte, sodass sie ihr zumindest nicht mehr in die Augen fielen. »Und … Sie sind geschminkt.«

»Bin ich nicht. Wozu auch, innerhalb weniger Minuten würde sowieso alles dahinschmelzen.«

Jenny log. Sie hatte in der Tat ein leichtes Make-up aufgelegt, sich die Wimpern getuscht und einen farbigen Lipgloss benutzt, der nach Kirschen schmeckte – und sich eingeredet, dass sie es tat, weil sie den Geschmack mochte.

»Wer ist der Glückliche?«

Jenny zuckte mit den Schultern. Eine Antwort wurde ihr zum Glück erspart, weil die Zwillinge mit zwei gefüllten Tellern aus der Küche kamen. Sie verhielten abrupt den Schritt, als sie Jenny sahen, und Mike sagte:

»Caramba!«

Toby fragte: »Tragen Sie was darunter?«

»Macht so weiter, ihr zwei, dann schmeiße ich euch raus, und ihr könnt euren Schein für die Teilnahme vergessen.«

Sie grinsten und wechselten einen vielsagenden Blick, bevor sie schulterzuckend weitergingen.

»Es ist rein beruflich«, sagte Jenny zu Carrie, die jetzt auch das Kleid beäugte, als fragte sie sich, was ihre Professorin darunter trug. »Dieser Mann lebt in der Nähe … eines der Gebiete, wo unser Wesen angeblich gesichtet wurde. Ich werde mit dem Mann essen gehen, um ihn auszuhorchen, und das ist alles.«

»Na klar. Ist er attraktiv?«

Jenny schürzte die Lippen. »Wo ist eigentlich Professor Hinkle?«

»Der hat sein Abendessen mit hinaufgenommen. Sagte, er brauche Ruhe heute Abend. Und ich werde ihm kein Wort von Ihrem Date erzählen, weil es ihn nichts angeht. Bei den anderen beiden Schwachköpfen würde ich mich allerdings nicht darauf verlassen. Aber nun sagen Sie doch schon – ist er nun attraktiv oder nicht?«

Es klingelte an der Tür. Carrie fuhr herum und rannte so schnell darauf zu, dass ihr Haar wie ein Kometenschwanz hinter ihr herflog. Sie riss die schwere Tür auf, ohne auch nur zu fragen, wer Einlass begehrte, und blickte mit großen Augen zu Samuel auf. »Jep. Er ist’s«, erklärte sie.

»Wie bitte?«, fragte er.

»Nichts«, erwiderte Carrie schnell und trat beiseite. »Kommen Sie doch herein.«

Er kam ihrer Aufforderung nach. Dann sah er Jenny durch die Halle auf sich zukommen und erstarrte förmlich. Er blieb reglos stehen, hörte womöglich sogar auf zu atmen und starrte sie nur an. Als sein Blick über das eng anliegende Kleid glitt, hatte Jenny den Eindruck, dass er sich nicht einmal zu fragen brauchte, was sie darunter trug. Sie hatte das Gefühl, dass er wusste, was da war. Oder, genauer gesagt, was nicht da war.

»Hallo, Jenny«, sagte er, doch der Tonfall seiner Stimme und der Ausdruck seiner Augen waren sehr viel beredter.

»Hi.« Seit wann sprach sie mit solch atemloser, rauer Stimme?

»Du siehst …« Er schüttelte den Kopf und befeuchtete die Lippen.

»Danke.«

Samuel legte eine Hand um ihren nackten Oberarm und führte sie aus der Tür. Sowie sie außer Hörweite waren, beugte er sich ganz dicht zu Jenny vor. »Hungrig?«

»Oh, und wie.«

»Nach Essen?«

Sie warf ihm einen raschen Blick zu, und er schenkte ihr ein mutwilliges Lächeln. »Denn so, wie du heute Abend aussiehst, Jenny, wäre ich mehr als nur zufrieden mit dir als Hauptgericht.«

»Lass uns den Abend mit einem guten Essen beginnen, Sam.«

»Samuel.«

»Richtig.« Er öffnete die Beifahrertür seines Jeeps, um Jenny einsteigen zu lassen. Fasziniert beobachtete er ihre Bewegungen, starrte ihre Beine an und beugte sich dann so weit zu ihr in den Wagen, dass sie dachte, er würde sie hier und jetzt schon küssen, aber stattdessen legte er ihr nur den Sicherheitsgurt um.

Fast ein wenig enttäuscht, ließ sie den angehaltenen Atem entweichen.

»Du riechst nach Kirschen«, raunte er. »Ich liebe Kirschen.« Dann schloss er die Beifahrertür, umrundete den Jeep, setzte sich ans Steuer und fuhr los.