10. Kapitel

Jenny war, als sträubten sich ihr die Nackenhaare, als sie durch Professor Hinkles Zimmer schlich. Mamma Louisa stand draußen vor der Tür auf dem Flur und hielt dort Wache. Nicht, dass es sehr viel helfen würde, falls der gute Mann zurückkehrte, denn es gab außer dieser einen Tür keinen anderen Ausweg aus den Zimmern. Aber zumindest würde Jenny gewarnt sein, falls Hinkle kam.

Als Erstes trat sie an den in einer Fensternische stehenden Schreibtisch und blätterte in den darauf herumliegenden Papieren, ohne jedoch etwas zu finden. Dann klappte sie den Laptop des Professors auf und schaute sich die zuletzt geöffneten Dateien an, in denen sie aber auch nichts anderes fand als nüchterne Berichte über das Projekt.

Schließlich versuchte sie, die Schreibtischschublade zu öffnen, und musste zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass sie verschlossen war.

Zur Tür gewandt, rief sie in gedämpftem Ton nach Mamma Louisa, die auch gleich den Kopf ins Zimmer steckte und sie mit hochgezogenen Brauen ansah.

»Der Schlüssel zu diesem Schreibtisch – haben Sie ihn?«

»Nein, Missy. Der Doktor hat dafür gesorgt, dass er den einzigen dafür hat.«

Dann war alles klar. Falls Hinkle etwas besaß, das er vor allen anderen verbergen wollte, musste es sich in dieser Schreibtischschublade befinden. Mamma Louisa kam ins Zimmer hinein, die Augen auf die Schublade gerichtet, und streckte eine Hand aus, während ihre Lippen lautlos Worte formten. Dann beugte sie sich vor, blies auf den Griff der Schublade und zog sie auf.

»Wie zum Teufel …«

»Sie haben sich geirrt, ma chère. Die Schublade war gar nicht verschlossen«, sagte sie und eilte zu ihrem Posten auf dem Flur zurück.

Jenny verdrängte die zunehmende Verwirrung, die Besitz von ihr ergriff. Sie hatte so viel Seltsames gesehen, seit sie hergekommen war – Dinge, von denen ihre Vernunft und Erziehung ihr sagten, dass es sie nicht gab, nicht geben konnte. Sie konnte aber auch ihre eigenen Sinneswahrnehmungen nicht verleugnen. Jenny hatte gesehen, wie Samuels Gesicht und Körper sich in etwas anderes verwandelt hatten. Und sie war absolut sicher, dass diese Schublade gerade noch abgeschlossen gewesen war.

Aber jetzt war sie offen, und Jenny entdeckte ein ledergebundenes Buch darin – und gleich daneben den Gipsabdruck, den sie von der Pfotenspur im Wald angefertigt hatte. Also war dieser verdammte Hinkle es gewesen, der ihn gestohlen hatte! Vorsichtig nahm sie das Buch heraus, schlug es auf und sah Seite um Seite voller handschriftlicher Notizen. Jede Seite war mit einem Datum versehen. Es schien sich also um ein Tagebuch zu handeln.

Stirnrunzelnd blätterte sie darin und las hier und dort ein paar Zeilen, wobei ihr plötzlich ihr eigener Name ins Auge sprang.

Jennifer Rose ist die Beste, die ich je gesehen habe, die Beste, mit ich jemals zusammengearbeitet habe. Aber ich darf sie nicht glauben lassen, ich unterstützte ihre Theorien. Tatsächlich muss ich sie sogar widerlegen und Miss Rose unglaubwürdig machen, während ich sie benutze, damit sie mich zu dem führt, was ich brauche.

Jenny blinzelte. Großer Gott – er schwärmte buchstäblich von ihren Fähigkeiten auf ihrem Fachgebiet, während er ihre Arbeit ihr selbst gegenüber stets kritisiert, sie herabgesetzt und verurteilt hatte. Sie sei lächerlich, keine wahre Wissenschaft, ja sogar betrügerisch, hatte er gesagt.

Sie blätterte weiter.

Ich wusste, dass sie es finden würde! Hier habe ich endlich das vollständige Ritual.

Unter diesen Worten sah sie einen Entwurf, der wie ein Rezept aussah und den Titel Wie werde ich zu einem Werwolf? trug.

Was zum Teufel …?

Jenny las weiter und erkannte in einigen Abschnitten Teile ihrer eigenen Untersuchungen, andere, die Carrie verschiedenen Quellen entnommen hatte, und wieder andere, die ihr völlig neu waren. Sie überflog die Zeilen. Die dritte Nacht des vollen Mondes – das war die heutige. Es gab auch eine Liste von Kräutern, die alle mit einem Häkchen versehen waren. Jenny wusste, dass eine der Voraussetzungen für das Ritual ein Feuer war, aber diese Liste gab sogar genaue Anweisungen zu der Art von Brennholz und Laub, mit der das Feuer angezündet werden musste. Auch die astrologischen Voraussetzungen waren angeführt – der Mond musste im Skorpion und in Konjunktion zu Saturn stehen. Unter diesen Notizen stand das heutige Datum.

Und am Ende der Liste der benötigten Gegenstände stand einer, der Jenny das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Das Fell eines Werwolfes.

O Gott!

Sie schlug das Buch zu und nahm es mit, als sie zur Tür hinausstürzte und über den Flur zur Treppe rannte. Mamma Louisa folgte ihr dicht auf den Fersen.

»Was ist, Kind?«, fragte sie besorgt.

»Hinkle – er glaubt, er könnte sich in einen Werwolf verwandeln!«

»Aber … die einzige Möglichkeit dazu wäre, von einem gebissen zu werden, und dann wäre die Chance zu sterben genauso groß wie die, sich zu verwandeln … sofern er nicht einen Zauber gefunden hat. Doch dazu müsste er …«

»Samuel nach der Verwandlung töten«, unterbrach Jenny. »Weil er das Fell braucht.«

Mamma bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet, als die beiden Frauen ins Wohnzimmer hineinstürmten. Carrie sprang von der Couch auf, wo sie mit Mike und Toby gesessen hatte. »Mein Gott, was ist passiert?«

Jenny beachtete sie nicht, sondern hielt geradewegs auf Toby zu und packte ihn an der Schulter. »Du bist mir heute Abend zur Küche gefolgt und hast mein Gespräch mit Mamma Louisa belauscht.« Sie hob ärgerlich die freie Hand, als er es bestreiten wollte. »Hör auf damit, ich habe keine Zeit für deine Lügen. Sag mir einfach nur, ob du Professor Hinkle von unserem Gespräch berichtet hast!«

»Ich hab gar nichts …«

»Wenn du mich jetzt belügst, Toby, schwöre ich dir, dass ich für deinen Rausschmiss aus der Uni sorgen werden, und zwar unter derart skandalösen Anschuldigungen, dass keine andere Uni dich mehr aufnehmen wird – und wenn ich jede einzelne davon erfinden muss! Glaub ja nicht, dass ich das nicht kann! Es geht hier um Leben und Tod, Toby, also rede jetzt endlich!«

Er starrte sie mit großen Augen an. »Das würden Sie nicht …«

»Wetten, dass?«

Darauf schürzte er die Lippen und schluckte hart. »Okay, schon gut, ich hab gelauscht. Und dann hab ich Professor Hinkle erzählt, dass Sie und Mamma Louisa sich um acht mit irgendjemandem in dem Gehölz unten am Fluss treffen würden.«

»Er hat einen ordentlichen Vorsprung«, flüsterte Jenny, als sie Toby losließ und Mamma Louisa ansah. »Er wird uns zuvorkommen und Samuel umbringen, verdammt!«

Carrie schnappte entsetzt nach Luft. »Professor Hinkle wird jemanden umbringen?«

»Nein, ma chère«, sagte Mamma Louisa. »Er kann ihn nicht umbringen … oder jedenfalls nicht, bevor der Mond aufgeht. Nicht vor der Verwandlung. Ihn vorher zu töten, würde ihm nichts nützen.«

Jenny nickte. »Dann bleibt uns doch noch etwas Zeit«, sagte sie und rannte zur Tür, während Carrie und die Zwillinge ihr Fragen nachschrien. Als sie ihren Wagen erreichte, hätte sie nicht überraschter sein können, als die beträchtlich ältere und viel schwerere Mamma Louisa nur den Bruchteil einer Sekunde nach ihr auf den Beifahrersitz sprang. Sie war schnell, die Voodoo-Priesterin.

Jenny fuhr wie eine Irre und beobachtete, wie die Sonne schon am Horizont versank. Dunkelheit begann, sie einzuhüllen, und Jenny war, als hielte die ganze Welt den Atem an und wartete nur auf den Mondaufgang.

Sie hatten den Wagen gerade stehen lassen und waren auf dem Weg zu dem Gehölz, als Jenny einen Schuss im Wald vernahm.

Sie schrie auf und rannte los, dicht gefolgt von Mamma Louisa, die einen großen Beutel über der Schulter trug und sich beeilen musste, mit ihr Schritt zu halten.

Der Weg gabelte sich und schlängelte sich durch den dichten, dunklen Wald. Jenny konnte kaum sehen, wohin sie lief, doch irgendetwas zog sie weiter. Ein sechster Sinn vielleicht, der sie so sicher lenkte wie eine Kompassnadel. Ungeachtet der Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen und ihr die Arme aufrissen, rannte Jenny und rannte – und dann sah sie ihn.

Der Wolf lag still und reglos da, so still, dass sie schon fast bei ihm war, bevor sie merkte, was das dunkle Bündel auf dem Boden war. Sie ließ sich auf die Knie fallen und vergrub die Hände in seinem dichten, weichen Fell. »Samuel«, flüsterte sie. »Um Gottes willen, nein!« Sie spürte warme, klebrige Flüssigkeit an ihren Fingern und legte den Kopf auf das Fell, um das Tier behutsam zu umarmen. »Samuel, bitte!«

Ein leises Winseln war die Antwort.

Schwer atmend holte Mamma Louisa auf, kniete sich neben Jenny und öffnete ihren Beutel. Schnell zog sie eine Taschenlampe daraus hervor und richtete den Lichtstrahl auf das Tier.

»Er lebt noch«, sagte Jenny leise.

»Hm, aber Hinkelmann hat trotzdem bekommen, was er wollte. Sieh mal«, sagte Mamma Louisa und hielt das Licht auf einen Streifen rohen Fleisches an der Seite des Wolfes.

»Mein Gott, was hat er dir angetan, Samuel?«

Der Wolf stieß wieder ein klagendes, schmerzerfülltes Winseln aus, das Jenny das Herz verkrampfte und eine Welle der Übelkeit in ihr aufsteigen ließ.

»Wir müssen ihm helfen, Mamma Louisa.«

Die ältere Frau nickte und reichte Jenny die Taschenlampe, um noch mehr Dinge aus ihrem Beutel herauszunehmen. Kräuter, Rasseln und weiß Gott was sonst noch alles. Über das Tier gebeugt, tat sie, was sie konnte, und skandierte leise vor sich hin. Während sie beschäftigt war, nutzte Jenny das Licht, um nach dem Einschussloch zu suchen, das sie an der oberen Schulter des Wolfes entdeckte. Schnell riss sie einen Streifen Stoff von ihrer Bluse ab und verband die Wunde. »Er wird es überleben«, flüsterte sie. »Ich glaube, die Kugel ist zu hoch eingedrungen, um das Herz getroffen zu haben. Ich glaube nicht, dass er innere Blutungen hat.« Das zumindest sagte ihr der starke Puls des Tieres.

»Du lieber Gott, was ist denn hier los?«

Die männliche Stimme ließ Jenny aufblicken, und sie sah, dass Carrie und die Zwillinge auf dem Weg standen und voller Entsetzen auf das gequälte Tier hinabstarrten. »Ihr seid mir gefolgt?«, fragte Jenny.

»Natürlich. Sie haben selbst gesagt, es ginge um Leben und Tod«, erwiderte Carrie und starrte den Wolf mit großen Augen an.

»Ist das … ein Werwolf?«

»Nein. Das ist nur ein ganz normaler Wolfshund«, antwortete Mamma Louisa fest. »Jetzt sehe ich es.«

Jennys Hände erstarrten in dem langen Fell, und sie schaute genauer hin. »Mein Gott, Sie haben recht. Das ist Mojo!« Sie umarmte den Hund liebevoll und erhob dann ihren Blick zu Mamma Louisa. »Professor Hinkle hat auf den falschen Wolf geschossen!«

»Professor Hinkle hat auf dieses arme Tier geschossen?«, fragte Mike entsetzt.

»Der Mond ist noch nicht aufgegangen«, erklärte Mamma Louisa. »Der Wolf, den Hinkle suchte, ist noch in menschlicher Gestalt.« Sie schloss die Augen, legte den Kopf zurück und begann, langsam auf den Fersen hin- und herzuwippen. »Hinkelmann merkte das, als er dem armen Tier die Haut abziehen wollte. Aber dann kam der Mann. Er kam … vor wenigen Momenten erst, als der Schuss krachte und der Wolfshund schrie. Der Mann kam, und Hinkelmann versteckte sich und wartete. Als der Mann sich über den Hund beugte, schlug Hinkle ihm so heftig auf den Kopf, dass er bewusstlos wurde. Und dann hat Hinkelmann ihn fortgeschafft.«

Sie nahm Jenny die Taschenlampe aus der Hand und hielt den Lichtstrahl auf den Boden. »Seht ihr die Spuren hier? Das sind Hinkelmanns und die des anderen Mannes, den er fortgeschleift hat.«

»Hinkle hat ihn also verschleppt?«

»Ja. Und er wird ihn festhalten, bis der Mond aufgeht. Bis die Verwandlung eintritt. Und dann …«

»Wird er ihn töten und sein krankes Ritual vollziehen.« Jenny wandte sich den drei jungen Leuten zu. »Professor Hinkle hat vor, sich heute Nacht in einen Werwolf zu verwandeln. Es steht alles hier in seinem Tagebuch. Leider muss er dazu einen unschuldigen Mann ermorden.«

Die Zwillinge wechselten einen Blick, und Toby nahm Jenny das Tagebuch ab. »Es tut mir leid, Professor Rose. Wir … wir haben ihm vertraut. Wir hatten keine Ahnung.«

»Ich auch nicht.«

»Was können wir tun?«, fragte Carrie. »Wie können wir helfen?«

Jenny blickte auf das leidende Tier herab. »Könnt ihr Mojo in die Stadt zum Tierarzt bringen?«

»Mojo?«

Sie wies mit dem Kopf auf den Wolfshund. »Er ist ein Haustier. Ein wundervolles Tier. Bitte helft ihm!«

»Wir kümmern uns um ihn.« Die beiden Jungen knieten neben Mojo nieder und hoben ihn, so sanft sie konnten, an Brust und Hinterläufen auf. Mamma Louisa hatte ihr weißes Kopftuch abgelegt und es in Streifen gerissen, um das rohe Fleisch an Mojos Flanke zu verbinden. Das arme Tier! Es winselte, als die Jungen es davontrugen, obwohl sie sich so vorsichtig und behutsam bewegten wie nur möglich.

Allein mit Mamma Louisa, wandte Jenny sich ihr fragend zu. »Wohin hat Hinkle Samuel gebracht? Wie können wir sie finden?«

Die ältere Frau kramte in ihrem Beutel und holte einen glitzernden, an einer Kordel befestigten Kristall heraus. Sie ließ ihn baumeln, bis er innehielt, und beobachtete dann sehr aufmerksam, wie er langsam wieder hin- und herzuschwingen begann. Die Bewegung, die zu Anfang fast unmerklich war, nahm stetig zu, und schließlich schnippte Mamma Louisa mit den Fingern gegen die Kordel, nahm den Kristall in die Hand und sagte: »Hier entlang.«

Jenny hatte das Gefühl, als dauerte es ewig, bis sie den Rauch wahrnahmen. Dann sah sie allmählich auch das schwache Glühen und flackernde Feuer in einiger Entfernung, und ihre Schritte wurden schneller, obwohl sie sich immer noch bemühte, so leise wie nur möglich aufzutreten. Mit Mamma Louisa schlich sie zum Rand einer kleinen Lichtung und spähte durch die Bäume.

Jenny entdeckte Samuel sofort. An Händen und Füßen gefesselt, lag er auf dem Boden, offenbar halb ohnmächtig, denn seine Augen öffneten und schlossen sich, und von seinem Kopf lief Blut über sein Gesicht, das rötlich glitzerte im Schein des Feuers.

Über dem Feuer stand ein Dreibein, an dem ein großer Kessel hing. Dampf stieg von seinem kochenden Inhalt auf, und der Geruch von Kräutern lag schwer in der Luft. Nicht weit davon entfernt saß Professor Hinkle auf dem Boden, völlig entkleidet, und rieb sich mit irgendetwas Klebrigem Brust und Arme ein. Jenny fragte sich, ob es Katzenfett sein mochte, und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Himmel, wie viele unschuldige Tiere würden noch leiden müssen, um Hinkles Wahnsinn zu befriedigen?

»Was sollen wir tun?«

»Er hat einen Kreis gezogen.« Mamma Louisa deutete auf einen Ring aus etwas, das nach auf dem Boden verstreutem Salz aussah. »Aber ich kann ihn brechen. Kommen Sie.«

Sie nahm einen Federfächer aus ihrer Tasche, den sie dann wie einen Besen in der Luft vor ihnen schwenkte, als sie weiterkrochen. Hinkle saß mit geschlossenen Augen da und skandierte seine Zauberworte.

Als sie den Ring aus Salz erreichten, sagte Mamma Louisa: »Öffne dich!«, schwenkte den Fächer zuerst in der Luft und dann über dem Boden, fegte das Salz beiseite und betrat den Kreis. Jenny folgte ihr, verharrte aber jäh, als sie über ihnen den silbrig schimmernden Mond aufgehen sah. Entsetzt fuhr sie herum und beobachtete, wie Samuel, der immer noch gefesselt war, sich krampfartig gegen die Seile warf. Ein dumpfes Knurren drang aus seiner Kehle.

Bei Mamma Louisas scharfem Befehl riss Hinkle die Augen auf und sprang auf. »Verschwinden Sie!«

Mamma Louisa schüttelte den Kopf.

Hinter ihr verwandelte Samuel sich schon. Er verdrehte die Augen und krümmte den Rücken, während sich seine Gesichtsmuskeln verzerrten und das Seil an seinen Handgelenken auseinanderriss.

»In Namen Oyas und Yemayas verweise ich jede negative Kraft aus diesem Kreis und rufe das Gute herbei. Ich rufe das weiße Licht. Ich rufe Schutz herbei!«

»Nein! Verschwinden Sie, sag ich!« Hinkle bückte sich und griff nach irgendetwas, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine Waffe hoch.

»Pass auf!«, schrie Jenny.

Doch da sprang der Wolf Hinkle schon an und traf ihn an der Brust. Die Waffe flog dem Professor aus den Händen, und der Schuss, der sich daraus löste, ging daneben.

Hinkle lag jetzt auf dem Rücken, mit einem zähnefletschenden, ungeheuer starken Wolf auf seiner Brust, der böse knurrte. Die beiden Frauen standen reglos da und starrten Mensch und Tier nur an. Jenny wurde klar, dass sie den Wolf nicht daran hindern konnten, seinem Peiniger die Kehle durchzubeißen. Körperlich zumindest waren sie ihm nicht gewachsen.

Jenny schluckte und wusste, dass sie versuchen musste, den Mann, den sie liebte, auf andere Weise zu erreichen, bevor er zum Mörder wurde.

»Samuel, ich weiß, dass du in dem Wolf bist und mich hören kannst«, sagte sie leise. »Mojo lebt. Er ist beim Tierarzt und wird bereits behandelt. Und dieser Mann wird nie wieder jemandem etwas zuleide tun, wenn ich bezeuge, was hier heute Abend vorgefallen ist.«

Der Wolf blickte zu ihr herüber. Seine Augen … waren Samuels Augen. Mamma Louisa griff in ihre Tasche, aber Jenny hob die Hand, um sie zurückzuhalten. »Nein. Nein, du brauchst keine Magie anzuwenden. Er wird einem Menschen nichts antun, das weiß ich. Warte einfach ab.«

Der Wolf knurrte tief und leise.

»Tu ihm nicht weh, Samuel! Du bist ein Heiler, kein Mörder.«

Das Tier blickte auf den Mann unter sich herab und wandte sich dann wieder Jenny zu.

»Ich liebe dich, Samuel«, flüsterte sie.

Eine Weile starrte der Wolf Hinkle ins Gesicht. Er hatte sich so tief zu dem Professor hinabgebeugt, dass der Mann den heißen Atem des Tieres an seiner Haut verspüren musste, und dann stieß der Wolf ein kurzes, scharfes Gebell aus und ließ seine Kiefer nur Zentimeter von Hinkles Gesicht entfernt zusammenschnappen, bevor er sich abwandte und von Hinkles Brust zu Boden sprang. Er rannte allerdings nicht davon, wie Jenny erwartet hatte, sondern trat nur aus dem Licht des Feuers und rollte sich in dessen Schatten zusammen.

Jenny lief los, um die zerrissenen Fesseln und die Pistole aufzuheben. Dann forderte sie Hinkle mit vorgehaltener Waffe auf, sich anzukleiden. »Was haben Sie sich dabei gedacht?«, fuhr sie ihn an, während er sich hastig anzog. »Warum hatten Sie etwas dermaßen Verrücktes vor?«

Er blickte zu ihr auf, als er sein Hemd zuknöpfte. »Ich werde alt, Jennifer, oder haben Sie das noch nicht bemerkt? Junge, clevere Professoren wie Sie kommen daher und verdrängen mich. Ich vermisse meine Jugend, meine Energie. Mit dem Wolf in mir wäre ich wieder jung und stark gewesen.«

»Dann denken Sie mal darüber nach, wie schnell Sie im Gefängnis altern werden. Vielleicht hätten Sie das bedenken sollen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn Sie irgendjemandem etwas erzählen, werde ich Samuel La Roque als das enttarnen, was er wirklich ist.«

»Dann würden Sie nicht im Gefängnis, sondern in der Psychiatrie landen«, entgegnete sie mit einem feinen Lächeln.

Sie reichte Mamma Louisa die Stricke, und die ältere Frau fesselte Hinkle, während Jenny die Waffe auf ihn gerichtet hielt. Dann führten die beiden Frauen ihn aus dem Salzkreis heraus und setzten ihn auf den Boden neben einem Baum. Mamma Louisa kehrte zu dem Feuer in der Mitte des Kreises zurück und nahm, indem sie ihr Schultertuch als Topflappen benutzte, den schweren Kessel von dem Dreibein. Mit angewiderter Miene trug sie ihn ein paar Schritte weg und leerte seinen übel riechenden Inhalt auf dem Boden aus. Den Kessel ließ sie gleich daneben stehen.

Als sie zu dem Kreis zurückkehrte, kramte sie in ihrem Beutel und warf ein paar Hand voll Kräuter aus verschiedenen Behältern in die Glut des Feuers. Der Rauch, den sie abgaben, war wohlriechend und reinigend.

Anschließend drehte sie sich um und blickte zu dem Wolf hinüber, der nicht weit entfernt vom Rand des Kreises lag.

Er erhob sich, als wüsste er, was Mamma Louisa von ihm erwartete, und kam langsam auf sie zu.

Die Voodoo-Priesterin nickte anerkennend und sah dann Jenny an. »Bewachen Sie Hinkelmann und lassen Sie mich meiner Arbeit nachgehen.«

Jenny nickte. »Samuel ist leider nicht dazu gekommen, sich bei Ihnen zu entschuldigen«, sagte sie.

»Er hat mich vor der Kugel dieses Kerls bewahrt. Für mich ist das so gut wie eine Entschuldigung. Wir sind jetzt quitt. Also gehen Sie.«

Jenny verließ den Kreis des Feuerscheins und trat zu Hinkle; die Waffe hielt sie sicherheitshalber noch immer in der Hand. Mamma Louisa verstreute frisches Salz an der Stelle, wo sie es vorher weggefegt hatte, und schloss den Kreis wieder. Dann ging sie zu dem Wolf und kniete vor ihm nieder, nahm seinen großen Kopf zwischen die Hände und blickte dem Tier beschwörend in die Augen. Dabei sprach sie die ganze Zeit zu ihm.

Der Wolf winselte und erwiderte aufmerksam ihren Blick, und schließlich streckte er sich zu ihren Füßen aus. Er wehrte sich auch nicht, als sie ihn mit ihrem Umschlagtuch bedeckte, und verhielt sich völlig ruhig. Mamma Louisa gestikulierte, murmelte Zaubersprüche und schwenkte ihre Rasseln und ging dabei die ganze Zeit um ihn herum, bestreute ihn mit Kräutern und Salz und erhob die Hände zum Himmel, um ihre Götter anzurufen. Ihre Bewegungen wurden schneller, ihre Stimme lauter, und die Rasseln verursachten einen Lärm, von dem Jenny befürchtete, dass er bis zur Plantage zu hören sein würde. Und dann – urplötzlich und von einem lauten Schrei begleitet – riss Mamma Louisa das Tuch von dem Wolf zurück.

Und Samuel lag dort, nackt, zitternd vor Kälte und offensichtlich ein bisschen desorientiert. Blinzelnd blickte er zu Mamma Louisa auf, die ihm zufrieden zunickte. Dann erzeugte sie mit ihrem Federfächer wieder eine Öffnung in dem Kreis und winkte Jenny näher. Sie lief zu Samuel, und als sie neben ihm auf die Knie sank, sagte er: »Er ist noch immer in mir. Ich kann den Wolf in mir spüren.«

»Ja«, gab Mamma Louisa ihm recht und reichte ihm den Schal, damit er sich bedecken konnte. Er setzte sich und verknotete ihn um seine Hüften. »Der Wolf lebt immer noch in dir. Aber von jetzt an, Samuel La Roque, hast du die Kontrolle über ihn. Du kannst wieder zum Wolf werden, doch nur, wenn du es willst – oder falls du die Kontrolle über deine Empfindungen verlierst. Zu Anfang wird es schwierig sein, da der Wolf versuchen wird, dich wieder zu beherrschen, insbesondere bei Vollmond. Aber mit der Zeit wird es dann leichter, da dein Wille immer stärker werden wird. Und das war alles, was ich für dich tun konnte.«

Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Danke, Mamma Louisa.« Dann öffnete er die Augen wieder, um sie ruhig anzuschauen. »Ich bedaure sehr, was mein Urgroßvater Alana angetan hat.«

»Und ich bedaure, dass meine Urgroßmutter deinen Vorfahren, ja deine ganze Familie mit dem Fluch belegt hat, um das Kind zu rächen.« Mamma Louisa nickte ihm noch einmal zu und nahm Jenny dann die Waffe aus der Hand. »Und von jetzt an übernehme ich den Hinkelmann, ma chère

»Allein? Aber …«

Mamma Louisa lächelte sie an und wies mit dem Kopf auf Hinkle, der hinter ihr neben dem Baum hockte. Als Jenny sich umdrehte, sah sie, dass sich die ganze Gruppe der Voodoo-Anhänger im Wald versammelt hatte, um auf ein Wort ihrer Priesterin zu warten. »Meine Leute wissen, wann ich sie brauche. Machen Sie sich keine Sorgen.« Wieder nickte sie, und zwei starke Männer traten vor, packten Hinkle an den Armen und zogen ihn auf die Beine, um ihn in den Wald hineinzuzerren.

Mamma Louisa folgte ihnen, und die ganze Gruppe verschwand zwischen den Bäumen.

Samuel stand auf. Er sah aus wie irgendeine Art von Waldgott, mit dem weißen Baumwolltuch um seine Hüften und seiner wirklich prachtvollen nackten Brust. Ohne ein Wort zu sagen, streckte er die Hände aus.

Jenny warf sich in seine Arme und genoss das Gefühl seiner Haut an ihrem Körper – und an ihrem Gesicht, als sie ihre Wange an seine Schulter legte.

Lange stand er nur so mit ihr da und hielt sie, bis er schließlich sagte: »Hast du das ernst gemeint vorhin? Dass du mich liebst?«

Ein Zittern durchlief sie. »Ja. Ich weiß nicht, wie es so schnell dazu kommen konnte, aber so ist es, Samuel. Ich liebe dich.«

»Auch wenn ich … vielleicht doch noch hin und wieder mit Mojo die Wälder durchstreife und den Mond anheule?«

Sie strich ihm sanft über das Gesicht. »Mojo wird sich vielleicht ein paar Monate freinehmen müssen, bis er wieder auf dem Damm ist. Doch danach wäre es sogar sehr gut möglich, dass ich euch begleite.« Sie blickte ernst in seine schönen braunen Augen. »Ich liebe alles, was du bist, Samuel. Alles an dir. Ich liebe deine Wolfsseite, deine wilde Seite, und ich schwöre, dass ich deine Geheimnisse bewahren werde.«

»So wie ich die deinen. Ich liebe dich auch, Jenny.«

Er küsste sie, tief und leidenschaftlich, drückte sie an sich und ließ sich behutsam mit ihr auf dem Boden nieder. Als er sie auszuziehen begann und an dem Tuch um seine Hüften zog, hörte sie ihn knurren. Jenny erwiderte das Knurren und biss ihn spielerisch in die Lippe, als er ihren Körper mit seinem bedeckte.

Irgendwo in der Ferne hörte sie einen Wolf heulen.

Und ein paar Minuten später stimmte sie in das Lied mit ein.